Ich …
Die gesprochenen Worte erzeugen Bilder meines ausgefüllten Lebens in meinem Kopf …
Ende der 60er am Anfang der Sommerferien zogen meine Eltern, meine jüngere Schwester und ich in ein neu gebautes Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Unser Haus war einer der ersten bezugsfertigen Wohneinheiten. Die restliche Gegend war mit Rohbauten und einer Baustellenlandschaft für uns Kinder ein idealer Abenteuerspielplatz. Die Straße konnte man nur erahnen. Die Grünflächen rund um die Gebäude waren noch verwildert. In unseren Hauseingang zogen kurz nach einander noch weitere Familien mit Kindern ein. Die Hälfte davon waren Familien mit Migrationshintergrund. Während die Erwachsenen sich etwas schwerer in unserer gemischten Nachbarschaft zurechtfanden, hatten wir Kinder untereinander keine Berührungsängste. Schnell bildeten sich zusammen mit den Kindern aus den anderen Hauseingängen einzelne Gruppen, die jede für sich die Umgebung erkundete. Ich hatte mich mit einigen Jungen in meinem Alter angefreundet. Fußball spielen, auf Bäume klettern, Höhlen bauen war für uns das Größte. Mit Mädchen hatten wir nichts am Hut. Die waren ja blöd, kicherten immer albern und heulten bei jeder Gelegenheit. Außerdem konnten sie kein Geheimnis für sich behalten und wenn etwas herauskam, dann bekamen wir Ärger. Mädchen waren für uns Elfjährige kein Thema.
Ungefähr fünf Monate nach unserem Einzug wurde die letzte freie Wohnung unter uns von einer Familie bezogen. Ein paar Tage später traf ich den Jungen im Treppenhaus. Schüchtern stellte er sich mir als Alex vor und fragte, was man hier in der Gegend so machen könnte. Alex war etwas kleiner als ich, hatte wuschelige längere Haare, war schlank und mit einer alten Jeans, einem verwaschenen Pulli und Turnschuhen bekleidet. Als sich herausstellte, dass er knapp ein Jahr jünger war als ich und außerdem Fußball spielen konnte, nahm ich ihn mit zu meinen Freunden. Wir waren immer um einen Mitspieler verlegen. Alex hatte sich schnell bei uns integriert. Er war durch sein laufstarkes Stürmen und die harten Schüsse auf unserem Bolzplatz bei unseren Gegnern gefürchtet. Wenn wir keine Bolzmannschaft zusammen bekamen, erkundeten Alex und ich die weitere Umgebung. Bei einer dieser Gelegenheiten kletterte ich an meinem Lieblingsbaum soweit wie es ging nach oben. Minuten später saß Alex neben mir in der Baumkrone und bestaunte die Aussicht. So etwas hatte er noch nie gesehen. Wir erzählten von der Schule, unseren Lehrern. Da unsere Schulklassen überfüllt waren, ging Alex in eine andere Schule. Ich erzählte ihm auch, dass ich Mädchen blöde finde und ich mich nie mit einem Mädchen befreunden würde. Alex sagte nur: „Oh!“, kletterte dann wieder nach unten und rief: „Ich muss los. Ich muss noch Hausaufgaben machen.“ Nachdenklich folgte ich ihm nach unten. Das war seltsam. Was hatte ich falsch gemacht? Ich konnte mir seine Reaktion nicht erklären.
Als wir uns Tage später auf dem Bolzplatz trafen, war es zwischen uns so wie immer. Müde und schmutzig gingen wir nach Hause. Auf dem Weg bremste mich Alex: „Peter warte mal. Warum magst du überhaupt keine Mädchen?“ Wir setzten uns auf eine Bank. Ich antwortete: „Da, wo ich gewohnt habe, da waren nur Mädchen in der Nachbarschaft. Ich war immer der kleine Junge, den man ärgern konnte. Und wenn ich mich mal gewehrt habe, dann wurde von meinen Eltern gesagt: „Mädchen haut man nicht.“ Da ich mich nicht wehren konnte, ging die Piesackerei immer weiter. Ich war froh, als wir umgezogen sind. Und jetzt gehe ich jedem Mädchen aus dem Weg.“ Alex sah mich von der Seite an und meinte: „Das war ja schlimm für dich! Aber jetzt kann ich es verstehen. Ach je, jetzt müssen wir aber los. Sonst kommen wir zu spät nach Hause und das gibt Ärger.“
In dieser Zeit unternahmen Alex und ich sehr viel miteinander. Wir sprachen über viele Probleme, die wir mit den Mitmenschen hatten. Alex hatte in der alten Schule auch Probleme mit den Mitschülern und er interessierte sich auch für Bücher, schwärmte für Mark-Twain und Karl-May. Alex wurde damals mein bester Freund und meine Vertrauensperson.
Es wurde Winter. Zum Rodeln gingen wir zum nahen Rodelberg. Da es damals für Kinder nur selten Armbanduhren gab und wir uns beim Stundengeläut vom Kirchturm verzählten, kamen wir zu spät nach Hause. Es war schon finster. Leise stellten wir unsere Schlitten in den Keller. Alex flitzte zuerst die Treppen rauf. Er war noch nicht ganz oben, da ertönte die Stimme: „Alexandra Müller! Schön, dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrst. Du bist über eine Stunde zu spät. Du solltest bis spätestens 17 Uhr 30 zu Hause sein! Wie siehst du denn aus? Jacke und Hose ziehe bitte im Treppenhaus aus. Das ist alles reif für die Wäsche. Fräulein, ziehe nicht so eine Flunsch. Gehe gleich ins Bad. Ich mache das alles gleich sauber.“ Ich stand auf der Kellertreppe und hörte bestürzt die Worte der Mutter. Ich war nicht schockiert, dass Alex Mutter geschimpft hatte, das kam wahrscheinlich auch gleich auf mich zu, aber: „Alex ist ein Mädchen!“
Langsam erklomm ich die Treppenstufen und beeilte mich jedoch, an Alex Wohnung schnell vorbei zu kommen. Oben an unserer Wohnungstür wurde auch mit mir geschimpft. Außerdem fragte meine Mutter, ob mit Alexandra alles in Ordnung sei. War ich der Einzige, der nicht wusste, dass Alex nicht mein Freund, sondern meine Freundin war? Mein Weltbild kam voll ins Wanken und ich war bitterlich enttäuscht.
Am nächsten Tag wollte ich mich an Alex Wohnung leise vorbei schleichen und allein nach draußen gehen. Aber Alex wartete schon auf mich. Sie sah jetzt mit ihrem roten Anorak und ihrer bunten Mütze aus wie ein Mädchen. Sie sagte: „Ich will mit!“ Wortlos rannte ich schnell die restlichen Treppen hinab ins Freie. Alex brüllte: „Warte auf mich!“ Ich rannte hinter das Haus auf die große Wiese. Dort war der Schnee sehr hoch und ich kam langsamer voran. Alex holte schnell auf und brachte mich mit einem Sprung zu Fall. Wir rangelten eine Weile im Schnee, dann saß sie auf meinem Bauch und hielt mit ihren Knien meine Schultern auf dem Boden. Wütend sah ich sie an. Meine Versuche mich zu befreien, vereitelte sie durch Gewichtsverlagerungen. Da ich nicht grob mit ihr umgehen wollte, blieb ich irgendwann still liegen. Alex meinte: „Hast du dich jetzt beruhigt? Kann ich jetzt vernünftig mit dir reden?“ Resignierend nickte ich. „Ich stelle mich jetzt noch mal vor. Ich heiße Alexandra Müller und werde im Sommer elf Jahre alt. Ich spiele aber gerne Fußball und Jungs-Spiele. Ja, ich bin ein Mädchen, aber ich bin nicht so albern und kichere auch nicht dauernd. Ich trage auch gerne mal Jungs-Kleidung. Ich dachte, du hättest es am Anfang schon gemerkt. Du hättest mich ja fragen können. Aber als du mir von deiner Abneigung gegen Mädchen erzählt hast, wollte ich dir das nicht mehr sagen. Ich hatte Angst, dass du mich nicht mehr als Freund hättest haben wollen. Du bist mir als Freund wichtig. Ich hatte noch nie so viel Spaß, wie in dem letzten halben Jahr.“ Ich blickte ihr in die Augen. Alex stand auf und zog mich auf die Füße. In meiner Hand hatte ich noch etwas Schnee. Diesen verrieb ich in ihrem Gesicht mit den Worten: „Wenn das so ist, Alexandra Müller, dass du ein Mädchen bist, dann darf ich dich auch einseifen.“ Alex lachte: „Peter, das gibt Rache.“ Ruckzuck war mit großem Gelächter eine Schneeballschlacht zwischen uns ausgebrochen. Nach einer Zeit fing es an zu regnen und uns wurde trotz unserer Schneebekleidung kalt. Alex fragte: „Kommst du noch mit zu mir? Jetzt kann ich dir endlich mein Zimmer zeigen.“ Im Treppenhaus half ich ihr noch beim Ausziehen der Stiefel. Dann verschwand sie in ihre Wohnung. Ich huschte nach oben und zog mir auch trockene Sachen an. Auf mein Klingeln öffnete mir Alex. Ich blieb staunend vor der Tür stehen: Vor mir stand ein Mädchen gekleidet in Rock und Bluse, die wilde Mähne auf dem Kopf bändigte ein Haarreifen. Ich stammelte: „Alex?“ Alex verdrehte die Augen: „Ja! Komm jetzt rein, oder hast du noch nie ein Mädchen gesehen? Ich beiße nicht. Du magst doch Kakao? Ich habe uns welchen gekocht. Hier ist mein Zimmer. Aber guck dich nicht so um, ich habe noch nicht aufgeräumt. Ich freue mich so, dass du da bist!“ Alex schob die Kissen und die Kuscheltiere so auf ihrem Bett zusammen, dass wir eine Rückenlehne hatten. Sie meinte dabei: „Setz dich mit aufs Bett, dann brauche ich nicht meine Klamotten vom Stuhl wegräumen.“ Die Kakao-Tassen stellte sie auf einen kleinen Tisch neben ihrem Bett. Ich sah mich in ihrem Zimmer um. An den Wänden waren Bücherregale mit vielen Büchern und Poster von aktuellen Fußballklubs. Ein Kleiderschrank und Schreibtisch füllten das restliche Zimmer. Auf dem kleinen Nachttisch lag ein Karl-May-Buch. Ich drehte das Buch, um den Titel zu lesen. „Winnetou.“, stellte ich fest. „Ja, find ich richtig spannend. Und wie findest du jetzt mein Zimmer? Ist doch schön, oder?“ Dann stellte sie mir ihre Kuscheltiere vor, erklärte mir ihre Bedeutung und von woher sie sind. Ich deutete auf einen Pokal. „Der Pokal ist von meinem Sportverein von früher. Ich war im Verein und habe mal an einem Rollschuh-Tanzturnier teilgenommen. Ist so ungefähr wie Eislaufen, nur mit Rollschuhen. Leider gibt’s das hier nicht. Kannst du Rollschuh laufen?“ „Nein“, antwortete ich, „ich habe zwar Rollschuhe, so ganz moderne, die sollen sogar lenkbar sein. Aber ich kann nicht damit laufen.“ „Das macht nix, das übe ich mit dir. Das ist nicht schwer. Dann können wir ja zusammen laufen. Du wirst sehen, das macht Spaß.“ Ich sah Alex ins Gesicht: „Alex, ich kann‘s immer noch nicht glauben, dass du mich so veräppelt hast. Gestern Abend war ich traurig und wütend auf mich selbst. Überall habe ich erzählt, dass du mein Freund bist. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mädchen solche Dinge wie ein Junge macht. Ich glaube, alle Erwachsenen wussten über dich Bescheid, nur ich habe nichts gemerkt!“ Wir hörten die Wohnungstür klappen. Gleich darauf ging die Zimmertür auf: „Alexandra…, oh, du hast Besuch. Hallo Peter.“ Ich stand auf und gab Alex Mutter die Hand. Die Mutter lachte: „Peter, endlich hast du es gemerkt. Wir Großen haben schon alle gewettet, wie lange dich Alex noch an der Nase herumführen kann. Alex hat nicht nur dich hereingelegt, deine ganzen Freunde sind auch reingefallen. Überall, wo wir hingekommen sind, wurde von dem Fußballer Alex geschwärmt.“ Alex Mutter verließ das Zimmer. Wir kuschelten uns wieder in die Kissen und erzählten uns, was wir bis jetzt erlebt hatten, von unseren Verwandten, von unseren Geschwistern. Langsam wurden wir müde und unsere Sätze wurden immer kürzer. Als ich wach wurde, musste ich mich erstmal orientieren. Es war stockfinster und ich war zugedeckt. Ich korrigiere mich, ich spürte einen Körper an mich gekuschelt! Wir waren zugedeckt. Durch mein Tasten erwachte Alex: „Aua, das war mein Auge.“ Alex angelte nach dem Schalter der Nachttischlampe. Es wurde hell im Zimmer. Sie sah mich verschlafen an: „Was machst du hier? Wieso sind wir zugedeckt? Ich glaub, wir müssen eingeschlafen sein.“
Ich stand auf, sah auf den Wecker und sagte: „Ich gehe jetzt besser, wir haben schon neun Uhr vorbei. Die suchen mich gewiss schon. Das gibt Ärger. Tschüss bis morgen.“
Leise schlich ich mich aus dem Zimmer. Als ich in Höhe des Wohnzimmers war, hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Schlafen die beiden immer noch? Dann soll Peter liegenbleiben. Ich will gleich wieder hoch. Wenn er wach wird, schicke ihn bitte nach oben und danke für den Tee.“
Ich erschrak, Alex stand hinter mir. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und schob mich ins Wohnzimmer. Alex Mutter grinste mich an: „Na ihr zwei, da staunt ihr. Peters Mama klingelte bei uns und suchte ihn. Wir gingen leise in Alex Zimmer und fanden euch schlafend vor. Da es kalt im Zimmer war, deckten wir euch leise zu. Und jetzt haben wir schon zwei Stunden gequatscht.“
Am nächsten Tag staunten meine Eltern, dass ich freiwillig mein Zimmer aufräumte und sogar den Staub beseitigte. Meine Mutter zog mich lachend auf: „Was ist los? Kriegst du heute noch Damenbesuch? Du solltest auch noch duschen.“ Nach dem Essen klingelte es. Alex wollte mich abholen. Heute hatte sie wieder ihren blauen Anorak an und sah mit ihrer Pudelmütze wieder aus wie ein Junge. „Peter verrate mich nicht bei den Anderen. Ich habe Angst, dass ich dann nicht mehr bei euch mitspielen darf.“ „Keine Panik, du bist Alex und ich freu mich, dass du mein Freund bist.“ Meine Mutter stand dabei und schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, ob das alles so richtig ist. Ihr wisst, Lügen haben kurze Beine.“ Aber es kam alles anders.
Wir trafen uns mit unseren Freunden vor dem Bolzplatz. Es waren auch Geschwister dabei. Die Mädchen begrüßten Alex mit: „Hi, Alexandra. Du hast es beim letzten Fußballturnier den Jungs ja toll gezeigt, dass Mädchen mehr können.“ Ich stand mit roten Ohren daneben. Einer meiner Freunde zog mich auf die Seite und sagte: „Wir waren alle erstaunt, als meine Schwester mir das erzählt hat. Ärger dich nicht. Ist doch egal. Hauptsache Alex kann gut Fußball spielen. Sobald der Schnee weg ist, müssen wir wieder gegen die Kicker aus der anderen Straße antreten. Sie sind sauer, dass sie beim letzten Mal gegen ein Mädchen verloren haben und fordern uns heraus.“ Da der Bolzplatz wegen Glatteis gesperrt war und das Wetter wieder ungemütlich wurde, gingen wir alle wieder nach Hause. Diesmal lud ich Alex zu mir ein. Wir trennten uns kurz, um unsere Schneebekleidung auszuziehen. Es klingelte. Da ich noch im Bad war, öffnete meine Mutter: „Hallo Alexandra heute wieder als Mädchen unterwegs? Siehst hübsch aus. Gehe doch schon mal in Peters Zimmer. Er ist noch im Bad.“ Zu mir rief sie: „Peter, ich gehe einkaufen. Deine Schwester nehme ich mit. Bis nachher.“ „Ja, aber“, ich hörte nur die Tür zuklappen. Ich sah an mir runter. Jetzt wird’s peinlich, ich war nur in Unterwäsche. Meine restlichen Anziehsachen waren in meinem Zimmer und da saß Alex, ein Mädchen. Die Option, meine nasse Hose anziehen, verwarf ich. Die hing über der Wanne. Leise schlich ich zu meinem Zimmer. Ich hatte Glück, Alex stand vor meinem Bücherregal und bestaunte die Bücher. Langsam nahm ich die Hose vom Stuhl. Da klapperte die Gürtelschnalle und Alex drehte sich um. Ich merkte, dass ich einen roten Kopf bekam und blieb wie erstarrt stehen. Alex grinste: „Willst du deine Hose nicht weiter anziehen? Sonst wird dir kalt.“ Verlegen zog ich mir die Hose fertig an. „Es braucht dir nicht peinlich zu sein. Du hast ja noch eine Unterhose an! Außerdem weiß ich, wie ein Junge aussieht. Ich habe einen älteren Bruder.“
Alex sah sich neugierig im Zimmer um: „Du hast viele Bücher. Hast du noch andere Hobbys außer lesen?“ „Ja, ich interessiere mich für Technik. Ich muss immer wissen, wie etwas funktioniert. Und die Amerikaner fliegen zum Mond. Das ist spannend. Ich verfolge alle Berichte, die ich zu lesen oder im Fernsehen zu sehen kriege.“ Ich zeigte dabei auf die großen farbigen Zeitungsausschnitte an meinen Wänden. „Alex, willst du einen Kakao?“ „Ja! Ich komme mit in die Küche und helfe dir.“ In der Küche passte sie auf, dass die Milch nicht überkochte. Ich fand im Vorratsschrank noch einige Weihnachtskekse. Anschließend machten wir es uns am Küchentisch bequem und ich schwärmte mit leuchtenden Augen von der Mondlandung. Meine Mutter kam vom Einkaufen wieder und scheuchte uns in mein Zimmer: „Peter, nimm die Tassen mit und langweile Alex nicht mit deinen Mondgeschichten. Und benimm dich.“ Was war das jetzt? Ich benahm mich doch immer. Alex durchstöberte mein Bücherregal: „Das kenne ich auch, Jim Knopf. Das habe ich mal gelesen. Oh, du hast auch ein Märchenbuch von Hans-Christian-Andersen.“ Sie legte sich auf mein Bett, schlug das Buch am Buchzeiger auf und las vor: „Die Prinzessin auf der Erbse.“ Langsam las sie mir aus der Geschichte vor. Ich lag neben ihr und lauschte ihrer schönen Stimme. Nach einer Weile sollte ich weiterlesen. Da wir anschließend abwechselnd lasen, hielten wir beide das Buch fest und waren dadurch eng zusammen gerutscht. Meine Mutter kam ins Zimmer, sah uns beide an und runzelte die Stirn. „Alexandra, wann musst du eigentlich zu Hause sein? Wir haben gleich fünf.“, fragte sie. „Danke. Ich habe Mama einen Zettel hingelegt, wo ich bin, aber ich gehe um sechs sowieso runter.“ „Ja, dann ist ja gut.“, meinte meine Mutter. Sie sah mich kurz ermahnend an und verließ das Zimmer. Wir lasen noch ein Märchen. Dann kam mein Vater rein: „Hallo ihr beiden, alles gut bei Euch? Ah, ihr lest zusammen. Find ich gut.“ Er schaute uns an und sagte zu Alex: „Wir haben gleich sechs.“ Alex stand auf und gab meinem Vater artig die Hand: „Vielen Dank und guten Abend.“ Anschließend verabschiedete sie sich von mir: „Tschüss Peter, bis morgen. Ich muss jetzt gehen.“ Alex verabschiedete sich noch von meiner Mutter und ging zur Wohnungstür raus. Mein Vater sah mich lange an und setzte sich zu mir aufs Bett: „Alexandra ist ein hübsches Mädchen!“ „Ja, Alex ist ein guter Kumpel und Freund.“ „Ja, das wissen wir. Aber Alex ist auch ein Mädchen. Mama und ich finden es nicht so gut, wenn ihr zwei so eng aneinander gekuschelt im Bett liegt. Ihr kommt langsam in ein Alter, wo das nicht mehr so schicklich ist. Du musst an den guten Ruf von Alexandra denken. Denke immer daran. Du bist der Ältere und wirst bald ein Mann.“ Mein Vater stand auf, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Na, nun komm, das Abendessen ist fertig.“ Ich blieb noch eine Weile liegen und dachte nach. Was meinte mein Vater jetzt damit. Was war nicht schicklich? Das verstand ich nicht, wir hatten doch nur gelesen. Abends fragte ich meine Eltern, was Papa meinte. Am nächsten Wochenende wurde ich von meinem Vater aufgeklärt. Alex erzählte ich erstmal nichts davon. Es war mir peinlich. Tage später erzählte mir Alex von einem Gespräch mit ihrer Mutter. Darin ging es um das gleiche Thema, nur von der weiblichen Seite aus gesehen. Aber wir waren uns einig: Wir waren doch nur Freunde mit gleichen Interessen!
Das Wetter wurde besser und Alex übte mit mir Rollschuhlaufen. Sie hatte eine Engelsgeduld mit mir. Anfangs war ich sehr wackelig, aber nach einer Woche wurde es besser. Alex übte mit mir das Bremsen und die Kurven. Manchmal sah ich ihr auch zu, wie sie Elemente aus ihrem Turniertanz vorführte. Nachdem ich einige Tricks gelernt hatte, fasste mich Alex an den Händen und zeigte mir Elemente aus dem Paarlauf. Nebenbei trainierten wir noch für die Fußballspiele. Im Sommer gingen wir mit unseren Freunden zum Baggersee. An Regentagen verkrümelten wir uns in irgendein Kinderzimmer und schmökerten. Oftmals lasen wir gemeinsam in einem Buch. Unsere Eltern hatten sich an den Anblick gewöhnt, dass wir nebeneinander auf dem Bett lagen. Es lief alles sehr harmonisch ab. Laut wurde es nur bei unseren „Mensch-ärger-dich-nicht“-Schlachten. Oftmals spielten auch die jeweiligen Eltern und Geschwister mit. Wir hatten viel Spaß.
Streitigkeiten hatten wir nur bei der Frage über die körperlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen: Wer traut sich mehr zu? Wer hat mehr Ausdauer? Mittlerweile hatten wir schon andere weibliche und männliche Mitstreiter gefunden. Im Sommer starteten wir diverse Wettkämpfe. Wir stoppten die Zeiten für Dauerläufe, Wettschwimmen, auf Bäume klettern, im Schwimmbad einen Sprung vom siebeneinhalb Meterturm und wir stellten fest: Es gibt keinen sportlichen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Wir haben trotzdem alle viel gelacht und unseren Spaß gehabt. Auf den Rollschuhen wurde ich auch immer sicherer. Durch Alex Rollschuhtanzeinlagen wurden immer mehr Freunde mobilisiert und wir bekamen bei unseren Rollschuhausflügen Gesellschaft. Das Ganze endete erst im Herbst, als das Wetter schlechter wurde. Nebenbei hatte uns die Schule im Griff. Die Hausaufgaben nahmen jetzt viel Zeit in Anspruch und unsere Lesestunden konnten wir nur noch selten durchführen. Schade, ich hatte mich daran gewöhnt.
Zur Weihnachtszeit schneite es kräftig und pünktlich zu den Feiertagen konnten wir wieder rodeln gehen. Wir genossen die Ferientage ohne schulische Verpflichtungen. Aber die Ferien gingen zu Ende und die Schule nahm wieder unsere Zeit in Anspruch. Im Frühling waren das Fußballspielen und Rollschuhlaufen nur am Wochenende möglich. In den Osterferien kam Alex mit verweintem Gesicht zu mir auf unseren Lieblingsbaum geklettert. Ich fragte: „Was ist los?“ Mit schluchzender Stimme erzählte sie: „Mein Vater wird nach Bayern versetzt und die ganze Familie muss mit umziehen. Der Umzug soll in den Sommerferien stattfinden.“ Sie sah mich verzweifelt an: „Was wird aus unserer Freundschaft?“ Ich versuchte sie zu trösten: „Wir können uns ja schreiben. Wir machen eine Brieffreundschaft und wenn wir groß sind, dann können wir uns wiedersehen.“
Aber noch war Zeit für gemeinsame Unternehmungen. Wir waren im Hallenbad, Rollschuhlaufen oder Fußballspielen. Aber die Sommerferien kamen immer näher. Wir wurden immer trauriger. Am zweiten Ferientag klingelte Alex ganz früh bei uns und verabschiedete sich. Wir weinten beide. Alex umarmte mich und sagte, „Danke für unsere schöne Zeit.“, und gab mir einen Kuss auf den Mund. Dann drehte sie sich um und rannte die Treppe nach unten. Aus dem Fenster sah ich, wie der Möbelwagen und das Auto von Alex Eltern vom Parkplatz abfuhren.Tage lang rannte ich mit traurigem Gesicht umher. Ich hatte keine Freude nach draußen zu gehen. Ich fühlte mich, als wenn ich was verloren hätte. Im Herbst bekam ich von Alex einen Brief. Darin schrieb sie mir:
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„Mir geht es gut. In der Schule habe ich mich gut eingelebt und neue Freunde habe ich auch schon gefunden.“
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Ich schrieb noch einen Brief zurück und wartete vergeblich auf Antwortpost.
Um mich aus meinem Sommerferienloch herauszuholen, das nun durch Alex noch tiefer war, hatten mich meine Eltern bei einem Sommerzeltlager angemeldet. Dieses veranstaltete der örtliche Pfadfinderverein jährlich und war als Indianerlager geplant. Für mich als Karl-May-Leser genau das Richtige. Ich dachte an Alex. Das wäre auch was für sie gewesen. In der dritten Ferienwoche ging es los. Ich sattelte mein Stahlross und wurde von meinem Vater zum Sammelpunkt gebracht. Das Gepäck wurde in einen VW-Bus verladen. Wir, etwa sechzig Indianer und Squaws mit unseren Betreuern, strampelten ungefähr zwanzig Kilometer in einen nahen Wald. Es erwarteten uns drei leere, vorbereitete Indianerdörfer, die wir schnell mit Leben und Radau füllten. Jedem Tipi war ein verantwortlicher Unterhäuptling zugeteilt. Nachdem wir uns eingerichtet hatten, wurden die Lagerregeln verkündet. Wir lernten schnell, dass der Küchenbereich für alle bis auf die eingeteilten Personen tabu war. Lagerfeuer waren nicht zum Kokeln da. Tiere und Pflanzen sind Lebewesen und sollten nicht unnötig gestört werden. Wir sind alles Menschen und es gibt keine Unterschiede. Und Squaws und Indianer respektieren sich gegenseitig. Die Toiletten hießen Donnerbalken und bestanden aus einer ausgehobenen Grube mit zwei querliegenden Baumstämmen. Der ganze Komplex war mit Zeltplanen vor zufälligen, neugierigen Blicken geschützt. Unter großer Strafe war es verboten, den Toilettenbereich des anderen Geschlechts zu besuchen. Einige Unterhäuptlinge erzählten von den wildesten Strafen für dieses Vergehen: „Vor zwei Jahren hatte sich jemand in die falsche Waldtoilette verlaufen und wurde als Strafe dann im Wald an einen Marterpfahl mit nackten Füßen über einen Ameisenhaufen gebunden…“ Da niemand diese Erfahrung machen wollte, wurde diese eine Regel von uns peinlich genau befolgt. Ach ja, Gefangene sollten auch nicht am Baum gefesselt alleine im Wald zurückgelassen werden. Am Lagerfeuer erzählte man sich, dass vor einigen Jahren mal eine groß angelegte Suchaktion gestartet wurde…
Die Lagerfeuerromantik brachte den Nachteil mit sich, dass ein Feuer immer Holz braucht. Brennholz sammeln war für alle eine Verpflichtung. Die größeren Teilnehmer durften sogar mit dem Beil Baumstämme zerkleinern. Jedes Zelt war mal mit Küchendienst dran. Ich habe noch nie so viele Brote geschmiert… Durch die Bewegung an der Luft hatten wir immer Hunger! Nachtwachen waren aufregend und wurden am Lagerfeuer durch laute Lieder und aber auch leise Geschichten über Mister X spannend gestaltet. Wir übten in der freien Natur das Leben als Indianer und erstellten für unseren Stamm Totems und Marterpfähle. Flüsternd wurden kleine Geheimnisse und Intrigen über Mister X zwischen den einzelnen Stämmen ausgetauscht. Die spannende Frage bis zum Schluss war: Wer war Mister X? Die Indianerspiele bauten auf dieser Geschichte auf. Anschleichen und Lagerüberfälle in Kriegsbemalung wurden geübt und gehörten zum normalen Ablauf. Erst als alle Stämme zusammenarbeiteten, konnte am letzten Abend Mister X aufgestöbert und gefangen werden. Mit einem großen Abschiedsfest wurde unser Abenteuer beendet und am nächsten Tag die Heimreise angetreten. Ich hatte während der letzten Ferienwoche zu Hause viel zu erzählen.
Da mir das abenteuerliche Lagerleben gefallen hatte, wurde ich mit dem Einverständnis meiner Eltern Mitglied in diesem Pfadfinderverein. Einmal pro Woche war Gruppenabend. Dort lernten wir die Grundkenntnisse, wie wir uns im Gelände mit Kompass, Landkarten oder Sternen orientieren konnten. Zeltaufbau, Lagerfeuer, Knotenkunde gehörten auch zu den Übungsabenden. Der Zusammenhalt in der Gruppe war kameradschaftlich. Manchmal wurden an den Wochenenden Fahrten unternommen. Im Sommer schliefen wir in Zelten, im Winter meist in Jugendherbergen. Bei diesen Fahrten trafen wir auch auf andere Pfadfindergruppen. Durch Wettkämpfe konnten sich die einzelnen Gruppen in den verschiedenen Disziplinen miteinander beweisen. Oftmals war Teamwork und auch Mut angesagt. Der Spaß und Fairness standen bei allen Spielen im Vordergrund. Es siegte nie eine einzelne Person, es zählte das Gruppenergebnis.
Am Ferienende kehrte mit Beginn der Schule wieder etwas Normalität in mein Leben. Ich begann meinen Mittelpunkt wieder vor die Wohnungstür zu verlagern. Meine Rollschuhe aber wurden von mir nicht mehr berührt und verstaubten. Da Alex in unserer Mannschaftsaufstellung fehlte, verloren wir das nächste Fußballspiel gegen die Parallelstraße haushoch. Die anderen bejubelten es, wir rannten, nein, wir flüchteten mehr zu unserem Grundstück. Knapp verloren hatten wir schon öfter mal, aber jetzt so hoch. Wilfried rief atemlos: „Das ist auch kein Wunder. Die hatten einen Spieler mehr und sogar einen Ersatzspieler!“ Wir versammelten uns an unserem Stammplatz auf der Heizungskellertreppe und hielten Kriegsrat. Holger, der uns um einen Kopf überragte, übernahm das Wort: „Und Walter ist krank und hat noch nicht mal mitgespielt. Sonst wären die noch mehr in der Überzahl gewesen. Bei denen sind in Eingang 3 vor ein paar Wochen eine Familie mit Jungs in unserem Alter eingezogen. Die waren auch auf dem Platz. Wir brauchen unbedingt mehr Spieler.“ Michael stimmte Holger zu: „Die Bohnenstange hat recht. Wir brauchen unbedingt mehr Mitspieler. So brauchen wir nicht wieder kicken.“ Wir anderen gaben lautstark unsere Zustimmung. Ich sah in die Runde und überlegte kurz: „Ich könnte vielleicht noch zwei Leute fragen.“ Lutz sah mich an: „Wen denn? Etwa die beiden Spinner aus deinem Hauseingang? Die können doch noch nicht mal richtig deutsch!“ Die anderen verzogen auch das Gesicht. Verständnislos erwiderte ich: „Die sollen vernünftig gegen den Ball treten und nicht mit ihm erzählen. Murat habe ich schon mit dem Ball beobachtet. Er ist gut im Kopfball und kann schnell laufen. Und Francesco trifft auch nicht schlecht. Das muss man probieren. Von Alex wart ihr damals auch nicht überzeugt und jetzt fehlt sie uns!“ Lutz rempelte an mir vorbei: „Macht doch, was ihr wollt! Ich muss jetzt nach Hause. Ich bin nicht dafür. Mein Vater sagt, „ich soll mich mit solchen Leuten nicht abgeben. Die sollen wieder nach Hause fahren!“ Provokant rief ich ihm hinterher: „Dein Vater sagt auch, dass du nicht rauchen sollst und du hast gerade deine brennende Kippe in den Blätterhaufen geschnippt.“ Holger zog mich am Ärmel: „Komm runter, das ist ein Idiot. Nimm den nicht zu ernst. Lutz hat‘s zu Hause nicht einfach. Sein Vater trinkt wohl zu viel und hat dadurch die Arbeit verloren.“ Der Blätterhaufen qualmte jetzt stärker. „Scheiße! So ein Penner!“ Mit Ästen zerpflückten wir den Haufen und traten die Glutnester aus. Wir diskutierten über das Pro und Kontra hinsichtlich unserer neuen Mitspieler. Da außer Berührungsängsten kein richtiger Grund dagegensprach, wurde in einer Mehrheitsentscheidung festgelegt, dass wir Murat und Francesco zu einem Probetraining einladen. Fairerweise gaben wir Lutz Einwand als Gegenstimme mit in den Abstimmungstopf.
Am nächsten Tag klingelte ich nach der Schule bei Familie Rossi. Es öffnete die ältere Schwester Elena und ich fragte nach Francesco. „Der ist in Cucina. Essen! Komm rein, sonst läuft Maria ins Trombadelle s... äh, Treppenhaus.“ Ich begab mich in die Küche. Dort war der Mittagstisch gedeckt. Auf dem Tisch standen Spaghetti mit Tomatensoße. Maria, die jüngere Schwester, saß im Hochstuhl und hatte die kurze Abwesenheit von Elena genutzt, um mit ihren Händen in ihrem Teller zu rühren. Francesco sagte mit vollem Mund nur: „Hi! Hast du Hunger? Da oben sind Teller und hier sind Löffel und Gabel. Tu dir auf; Soße auch.“ Elena bemühte sich derweilen mit einem Handtuch bei Maria die gröbsten Spuren zu beseitigen. Dabei schimpfte sie eine große Anzahl italienischer Sätze in Richtung ihres Bruders. Dieser verzog das Gesicht zu einem Grinsen und antwortete mit schneller Wortfolge. Ich blickte von einem zum anderen. Die Worte hatte ich nicht verstanden, aber ich begriff, dass mittlerweile Schimpfworte ausgetauscht wurden. Mit ärgerlichem Gesicht beugte sich Elena vor und gab ihrem Bruder eine Kopfnuss. Als ich angesehen wurde, zog ich schnell das Genick ein. Man konnte ja nie wissen. Aber ihr Blick wurde zu einem Grinsen als sie sah, wie ich mich mühte, die Spaghetti auf meine Gabel zu bekommen. „Cesco, zeig ihm, wie das richtig geht. Der verhungert ja.“ Ich beobachtete, wie er eine Spaghetti in den Mund nahm und sie einsaugte: „So!“ Das war ja einfach. Elena kam wieder zum Tisch, beobachtete uns, rollte mit den Augen und meinte zu Cesco: „Idiota!“ Dann erklärte sie mir die richtige Handhabung des Bestecks beim Aufrollen der Nudeln. Endlich konnte ich die ersten Spaghetti meines Lebens essen. Während des Essens fragte ich Francesco, ob er mit mir mal auf den Bolzplatz kommen wollte. Er sagte zu mir: „Ja klar, gerne.“ Den Nachmittag verbrachten wir dann alle zusammen. Die Geschwister erzählten mir von ihrem Leben in Italien. Sie waren schon seit vier Jahren in Deutschland. Der Vater hatte hier in Deutschland Arbeit gefunden und seine Familie nachgeholt. Und die Mutter arbeitete als Reinigungskraft in unserer Grundschule. Die Zeit ging viel zu schnell vorbei. Als ich auf die Uhr sah, war es schon später Nachmittag. Ich verabschiedete mich und rannte schnell die Treppe hoch. Natürlich hatte ich mit meiner Mutter eine kleine Auseinandersetzung, da ich mich nicht gemeldet hatte. Aber sie war froh, dass ich wieder Anschluss suchte.
Am übernächsten Tag regnete es in Strömen. Murat traf ich auf dem Heimweg von der Schule. Für ein längeres Gespräch hatte er keine Zeit, aber er lud mich für den späten Nachmittag zu sich in die Wohnung ein. Auf mein Klingeln bei Familie Öztürk öffnet mir seine ältere Schwester Melike. Während sie mich kurz mit „Salam“ begrüßte, führte sie mich in das Esszimmer und rief nach Murat. Neugierig sah ich mich in dem Raum um. Es war mein erster Besuch in einer türkischen Wohnung. Alles sah so anders aus. In Gedanken ging ich durch die orientalischen Beschreibungen der Karl-May-Bücher. Es roch auch nach fremdartigen Gewürzen. „Hallo Peter“, begrüßte mich Murat, „ich bin gerade mit den Hausaufgaben fertig. Setz dich doch. Möchtest du was zu trinken?“ Er rief in Richtung Küchentür einige türkische Sätze und nahm neben mir Platz. Einen Augenblick später setzte sich Melike mit an den Tisch und servierte uns Apfelsaft und Gebäck. „Iss, solange es noch warm ist. Ist selbst gebacken.“, meinte sie freundlich zu mir. Während wir von der Leckerei kosteten, unterhielten wir uns. Ich erfuhr, dass Melike etwa ein Jahr älter und Murat knapp ein Jahr jünger war als ich. Sie hatten noch ältere, erwachsene Geschwister. Diese lebten noch in der Türkei bei den Großeltern in einem Dorf in der Nähe von Izmir. Obwohl türkisch die Muttersprache von Melike und Murat war, konnten sie sich in Deutsch gut ausdrücken. Melike kam als Fünfjährige mit ihrem Bruder und ihrer Mutter nach Deutschland. Der Vater war schon länger hier. Ich wollte mir noch ein Stück Gebäck nehmen und bekam von Melike einen leichten Klaps auf die Hand. Erschrocken zog ich meine Hand weg und sah sie fragend an. „Bitte nimm nur die rechte Hand zum Essen, die Linke darf nur für unreine Dinge benutzt werden.“, wurde ich von den beiden belehrt. Es folgte eine Einweisung in die türkischen Tischsitten und Gebräuche. Ich hörte hinter mir eine Tür klappen und eine erschrockene Stimme schimpfte auf Türkisch. Ich drehte mich um und sah die Mutter der beiden, die sich mit den Händen ihre Haare bedeckte. Melike bekam einen roten Kopf und antwortete ihr: „Anne üzgünüm.“ Murat sah meine Ratlosigkeit und erklärte mir die Situation: „Anne, äh, Mama wusste nicht, dass wir Besuch haben. Wenn männliche Gäste da sind, hat sie immer die Haare mit einem Tuch bedeckt, und Melike soll auch ihre Haare bedecken, da sie kein Kind mehr ist.“ Die Mutter verschwand wieder und Melike beruhigte sich: „Mama will, dass ich immer ein Kopftuch trage, aber Papa hat mir erlaubt, dass ich es in Deutschland nicht immer tragen muss. Nur zum Besuch der Moschee oder zum Gebet verlangt er, dass ich den Kopf bedecke. Das war die Bedingung. Mama und Papa haben oft Streit deswegen.“ „Gebet?“, wunderte ich mich. Melike und Murat erklärten, dass sie Muslime sind, der Glaube Islam ist und sie zu ihrem Gott Allah beteten. Ein interessanter Nachmittag ging zu Ende. Während des Verabschiedens fragte ich Murat wegen des Kickens. Er versprach, es sich zu überlegen. Ich bedankte mich bei Melike für das leckere Gebäck. Freudig fragte sie mich: „Möchtest du diesen Besuch wiederholen? Wir können uns gerne auch über den Islam unterhalten. Ich habe auch Fragen zu deinem Glauben.“ Wir trafen uns noch öfter. Die Mutter setzte sich aber mit ihrer Bedingung durch: Melike durfte nur mit Kopftuch bei uns sitzen. Ich lernte bei diesen Treffen auch einige Brocken türkisch. Meine Bemühungen um die gängigsten Grußformeln wurden durch das Lob des Vaters gekrönt.
Murat und Francesco kamen mit zum Bolzplatz zum Training und waren schnell in der Mannschaft integriert. Unsere Chancen auf einen Sieg bei unseren Turnieren waren deutlich gestiegen. Unsere Hausgemeinschaft wuchs wenigstens bei uns Kindern zusammen. Die Erwachsenen taten sich wesentlich schwerer.
Im Spätherbst beobachtete ich in einer Parallelstraße aus der Entfernung einen Fahrradunfall. Die verunfallte Person war mit der Hose in der Kette hängen geblieben und stürzte nach einigem Taumeln kopfüber in eine Hecke. Schnell eilte ich zum Unfallort. Da sah ich die erfolglosen verzweifelten Befreiungsversuche des jungen Mädchens. Das Fahrrad lag quer über den Beinen. In der Kleidung und in den Haaren hatten sich die Dornen der Hecke verfangen. Auf meine Frage: „Kann ich helfen?“, verstummte das leise Schluchzen. Nach dem ich ein weinerliches „Ja, bitte.“ vernommen hatte, befreite ich erst das Hosenbein aus der Fahrradkette, dann vorsichtig die stacheligen Zweige aus der Kleidung und half ihr beim Aufstehen. Einige Zweige waren noch in den Haaren verfangen. Plötzlich hörte ich hinter mir das Geschrei: „Was hast du mit Netti gemacht? Spinnst du?“ Bevor ich was antworten konnte wurde ich grob an den Armen gepackt, von Netti weggezerrt und in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: D.HaHerO
Bildmaterialien: D.HaHerO
Cover: D.HaHerO
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2021
ISBN: 978-3-7487-9289-5
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