Das Telefon läutete. Thomas lief ein Schauer den Rücken hinunter. Es läutete. Das schwarze, alte, rostige Telefon, das noch immer eine Drehscheibe besaß. Es passte sehr gut zum inneren der kleinen Holzhütte. Auch sie wirkte alt, heruntergekommen und schon seit langem nicht mehr benützt. Das war sie immerhin auch. Seit dem Tod von Thomas Großmutter hatte es niemand mehr gewagt, einen Fuß in die Hütte zu setzen. Wegen der Schauergeschichten, hatte sein Vater immer gesagt. Thomas hatte immer nur darüber gelacht, doch seine Großmutter wurde immer wütend und meinte, damit soll man nicht scherzen. Dann hatte sie mit ihren Gruselgeschichten angefangen. Sie waren einer der Gründe warum er die Hütte im Wald so oft wie möglich erwähnt hatte. Er wollte die Geschichten hören. Die Geschichten von Geistern, Psychopathen und Werwölfen. Zugegebenermaßen waren nur in einer Geschichte Werwölfe vorgekommen und auch nur wenige handelten von Geistern, dafür gab es genug Serienmörder, verrückte Axtmörder und Massenmördern in ihnen. Sie alle sollten einmal im Besitz dieser Hütte gewesen sein. Sie alle hatten in ihr Gräueltaten begangen und sein Vater hatte gerne auf irgendeinen Fleck an der Wand gedeutet und sich darüber lustig gemacht, dass dies einer der vielen Blutflecken waren, die diese Verrückten hinterlassen hatten. Thomas und seine Schwester Maria hatten immer furchtbar darüber gelacht und ihre Großmutter hatte ihnen daraufhin nur den Rücken zugedreht und ihnen gesagt, dass sie selbst schuld wären, wenn sie einmal in dieser Hütte ihr grausames Ende finden würden. Doch das hielt sie nicht davon ab, sie immer wieder nach neuen Geschichten zu fragen.
Thomas Lieblingsgeschichte handelte nicht von brutalen Morden und Vergewaltigen oder dem Ausweiden von Leichen. Seine Lieblingsgeschichte handelte von einem Kind, das im Wald aufgewachsen war. Alleine. Eines Tages hatte Kind, so nannte seine Großmutter diesen Serienmörder, denn immerhin war er nicht von jemanden großgezogen worden und hatte daher keinen Namen diese kleine Holzhütte entdeckt. Kind hatte noch nie ein trockenes Zuhause gehabt, aber nun hatte er eines gefunden. Doch die Hütte war nicht leer. Kind schlich hinein und hörte das Läuten eines Telefons. Der Mann, der zurzeit dort wohnte, hob ab, mit dem Rücken zu Kind. Kind nutzte die Chance und schlich sich an, dann zog Kind die Klinge seines Messers über die Kehle des Mannes. Nun hatte Kind das Haus für sich, bis die Polizei kam. Sie suchten alles ab, doch Kind kannte den Wald und sie fanden ihn nicht. Kurz darauf zog wieder ein Mann in Kinds Haus. Kind schlich sich erneut hinein und das Telefon läutete. Der Mann hob ab und Kind sorgte dafür, dass es das letzte war, das er tat. Danach zog eine Frau ein und Kind schlich sich wieder hinein. Das Telefon läutete. Die Frau hob ab und Kind nutzte seine Chance. "Wenn dieses Telefon läutet", hatte seine Großmutter immer gesagt. "Wenn es läutet, heb ja nicht ab, sondern lauf um dein Leben."
Und nun läutete es. Das Telefon läutete. Er hob mit schweißnasser Stirn ab. "Ja?" "Du hättest lieber auf die Schauergeschichten hören sollen, Thomas", hörte er die Stimme gleichzeitig durch den Hörer und ganz dicht an seinem Ohr. Dann schmeckte er Blut und fiel gemeinsam mit dem Hörer zu Boden.
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2023
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