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Zu spät

Sie kam immer zu spät. Egal wo sie hinging, sie war zu spät. Egal was sie tun sollte, sie war zu spät. Das war das einzige, worin sie wirklich gut war, das zu spät kommen.

Sie verpasste den Bus, sie gab Arbeiten zu spät ab und auch zum Vorstellungsgespräch war sie zu spät und somit auch bei der Jobvergabe. Langsam fragte sie sich, ob sie überhaupt in der Lage war, irgendetwas pünktlich zu erreichen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben ihr davon lief und sie mühselig und erschöpft ihm hinterher schnaufte. Sie kam nicht mit und das machte ihr Angst. Alles war ihr zu viel.

Eigentlich war sie ja stolz, wenn sie die Dinge erreichte. Stolz war vielleicht nicht das richtige Wort, eher erleichtert. „Immerhin hab ich es gemacht“, dachte sie sich jedes Mal, wenn sie zu spät war. Sie hätte es auch gleich bleiben lassen, einfach den ganzen Tag im Bett bleiben und nichts tun. Einfach nur schlafen, an die Decke starren. Es wäre so leicht…

Manchmal träumte sie davon, aber dann riss sie sich wieder zusammen und machte weiter, versuchte ihr Leben in den Griff zu kriegen. Versuchen war das richtige Wort. Es schien ihr ja trotzdem nie zu gelingen. So sehr sie es auch versuchte. Manchmal verfluchte sie sich dafür, manchmal hatte sie nicht die Kraft dazu. Sie versuchte sich auf Dinge zu freuen und dadurch ihr Ziel rechtzeitig zu erreichen, sie versuchte sich dazu zu zwingen, sich dafür zu belohnen, doch nichts davon half. Sie wusste nicht wieso.

Sie trieb dahin, hilflos und allein, verloren in der Welt. Manchmal fragte sie sich, ob alles eigentlich einen Sinn hätte, ob es jedem so ging, oder ob irgendetwas mit ihr falsch war. Dann verdrängte sie diese Gedanken, sie halfen ja doch nicht, dennoch schaffte sie nie diese leise nagende Stimme in ihrem Kopf abzuschalten, die ihr immer sagte, dass sie es sowieso nicht schaffen würde, dass sie nicht gut genug war, dass sie niemand brachte, dass sie unwichtig war, dass es keinen Sinn hatte. Sie hatte Angst davor, dass sie irgendwann zu spät wäre, diese Stimme zu vertreiben. Nicht mehr aus dieser Endlosschleife zu entkommen. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass nichts davon der Wahrheit entsprach, dass sie es schaffen würde, dass sie gut war, dass sie das konnte. Und dann war sie wieder zu spät, zu was auch immer gerade anstand. Aber das spielte keine Rolle, immerhin tat sie es, zu spät, aber sie tat es. Manchmal reichte ihr das schon und zumindest die Erleichterung breitete sich in ihr aus.

Zu spät, aber doch. Dieser Satz war schon fast zu ihrem Lebensmotto geworden.

Heute hatte sie es wieder geschafft. Ihr Wecker hatte vor über zwei Stunden geläutet, aber nun stand sie. Nun hatte sie sich ins Badezimmer geschleppt und die Zähne geputzt, angezogen und zumindest eine Banane und eine Scheibe Toast mit Butter gegessen. Nun starrte sie auf die ausgedruckten Zettel, die sie lesen musste. Den ersten Absatz hatte sie schon durch. 5 Zeilen. Das hatte sie schon geschafft. Sie wusste schon, worauf das hinauslaufen würde. Sie würde zu spät damit fertig sein.

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2023

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