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Schweres Gewicht

Schwer und fett. Das war er. Das waren zumindest Georgs Worte. Zuerst hatte er sich gekränkt, dann hatte er festgestellt, dass es ihm nichts ausmachte. Er sah kein Problem mit fett. Das war lediglich eine Beschreibung des Körperumfangs. Was für einen Unterschied machte es nun ob er fett oder dünn war? Bei einem Punkt aber hatte er recht behalten. Er war schwer. Zu schwer. Das musste er bedauerlicherweise feststellen, als er heute Morgen auf einen Sessel kletterte, um an die Box mit Schokoriegel zu gelangen. Das Holz hatte nachgegeben und nun brauchte er einen neuen Sessel. Es war nicht so als hätte er nicht schon davor neue Sessel gebraucht, seine Sessel waren zerkratzt, teilweise an gewissen Stellen geknickt und mit Panzertape wieder zusammengeklebt worden. Teilweise waren Sprünge im Holz entstanden und er hatte sie mit Leim wieder zusammengeklebt – oder auch nicht. Die einst roten Polster waren nun fleckig und fast schon grau. Mit dem alter hatten sich die Sessel immer mehr seiner Wohnung angepasst. Bis jetzt hatte er sich immer eingeredet, dass er keine neuen Sessel brauchte, da sie eh noch hielten, doch nun konnte er es nicht mehr leugnen – er brauchte neue Sessel. Stumm sah er sich in der Wohnung um und stellte fest, dass der Sessel nicht das einzige war, das erneuert werden sollte.

Aus Vorhänge waren an einigen Stellen Fäden herausgezogen worden – ein Überbleibsel aus der Zeit, als er noch eine Katze hatte. Seine Bank hatte nicht mehr ihre originale Farbe und ein großer Fleck auf der linken Seite zeigte, wo er vor Jahren einen Liter Cola verschüttet hatte. Die Kästen waren abgewetzt und verdreckt, sein Boden klebte und hatte Dellen, Brandspuren von einer umgeworfenen Kerze, mehrere Kratzer und runde Abdrücke mehrerer einst ausgeronnener Bierflaschen.

Traurig wandte er sich wieder dem Sessel zu. Er wusste nicht, wann die Kontrolle über sein Leben verloren hatte. Er wusste nur, dass er in den letzten zwei Jahren nichts auf die Reihe gebracht hatte. Seit Caroline… Zumindest fast seit dem. Die ersten drei Monate hatte er durchgehalten. Er hatte es geschafft sich durch den Tag zu kämpfen. Er war stolz darauf gewesen, dass er es geschafft hatte weiter zu machen. Doch dann war auch noch Mertis gestorben. Caroline hatte diesen Kater geliebt – trotz der Schwierigkeiten, die er ihnen eingebracht hatte.

Mit einem traurigen Lächeln betrachtete er die Vorhänge und Kratzspuren im Holz. Eine Träne rollte ihm über die Wange, doch er merkte es gar nicht. Mertis war eine Katze, natürlich hatte Caroline ihn geliebt. Welches Kind tat das nicht? Er warf einen Blick auf den einzigen Bilderrahmen in seiner Wohnung. Im Gegensatz dazu war er blitzblank und kein einziger Fleck war auf dem Glas zu sehen, das das Foto des kleinen, blonden Mädchens mit der im Vergleich zu ihr viel zu großen Katze in ihren Armen schützte. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie „Schau Papa, ich kann ihn hochheben“, gerufen hatte und er das Foto gemacht hatte.

Er ließ seinen Blick auf den Flyer für die Selbsthilfegruppe, den ihm ein Freund gegeben hatte, gleiten. Er sah zurück zu dem Bild. Dann nahm er sein Handy in die Hand und begann zu wählen.

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Tag der Veröffentlichung: 02.11.2022

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