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Behindert doch nicht gehindert

Es störte ihn nicht wirklich. Klar, er war anders, als die anderen, aber es machte ihm nicht wirklich etwas aus. Zu Anfang hatte es das. Dann wurde ihm bewusst, dass die Anderen eigentlich die waren, die eifersüchtig sein sollten, nicht er. Er hatte etwas, dass sie nicht besaßen. Den Glauben an sich selbst. Sonst wäre er nie so weit gekommen. Die Leute sahen immer auf ihn herab, aber das war es, was ihn stark machte. Er hielt es aus. Er war immer derjenige, der die Nerven behielt und ruhig blieb, während alle anderen in Panik gerieten. Außerdem war es nicht so als hätte er nicht genauso einen normalen Job wie alle anderen Menschen auch. Er hatte bloß härter daran gearbeitet und nun zahlte sich dies auch aus.

Er saß an seinem Schreibtisch, wie sonst auch und war schon wieder einmal einer der Letzten, die gingen. Da hörte er es. Das leise fiepen. Er konnte es zuerst nicht ganz zuordnen, erst als er den Kopf in Richtung Fenster drehte, konnte er ihn sehen. Der kleine Vogel hatte sich an einer der Befestigungen verfangen und kämpfte heftig mit ihr. Es sah nicht so aus, als würde er gewinnen. Er hatte angefangen zu bluten und seine Federn hatten schon begonnen sich rötlich zu verfärben.

Vorsichtig bewegte er seinen Rollstuhl zum Fenster. Er glaubte schon fast, dass sich der Vogel das Bein selbst abreißen würde, bis er es geschafft hatte es zu öffnen. Er verfluchte nicht zum ersten Mal die viel zu hoch befestigten Fenstergriffe. Als noch schwieriger entpuppte es sich zum Fensterbrett hinzukommen – zumindest zum äußeren Teil. Er schaffte es kaum an die Befestigung heranzukommen und selbst wenn er es schaffen würde den Vogel zu befreien, würde er ihn eher in die Tiefe fallen lassen, anstatt ihm zu helfen, denn fliegen konnte er sicher nicht mehr. Mit aller Kraft zog er sich ein Stück hinauf. Neben ihm lag eine Mappe und vorsichtig schob er sie unter den Vogel. Er schien zu merken, dass er ihm helfen wollte, denn er hielt still und betrachtete ihn aus klugen Augen. Erst als er versuchen wollte das Bein des Vogels aus der Befestigung zu lösen, wurde ihm klar, dass er eine Hand zu wenig hatte. Er konnte sich nicht gleichzeitig am Fensterbrett hochziehen, die Mappe unter dem Vogel halten und sein Bein lösen. Stumm betrachtete er den Vogel. Es war sonst niemand da, der ihm hätte helfen können, außerdem hatte er es auch satt andere um Hilfe bitten zu müssen.

Vorsichtig stützte er sich etwas weniger mit der Hand ab, sondern verlagerte sein Gewicht nach vorne, direkt auf die Kante des inneren Fensterbrettes. Wenn er schnell war, könnte er es für kurze Zeit schaffen sich so zu halten. Falls nicht, würde der Vogel abstürzen und er selbst am Boden vor dem Fenster liegen. Stumm zählte er bis drei, dann riskierte er es – immerhin ging es hier um das Leben eines Vogels.

Seine Hände arbeiteten schneller als sein Verstand und erst, als er den Vogel schon auf der Mappe in seinem Schoß sitzen hatte, wurde ihm bewusst, dass er es geschafft hatte – und zwar ganz allein.

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Tag der Veröffentlichung: 13.06.2022

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