Sie hörte das Flattern ihrer Flügel und bewegte sich ein Stück weiter nach vorne. Geschickt wich sie einem Ast aus und steuerte auf den nächsten zu. Kurz ließ sie sich auf ihm nieder, bevor sie sich wieder in die Luft erhob.
Eigentlich wusste sie nicht genau wo sie eigentlich war oder wo sie eigentlich hin wollte. Alles was sie sah, waren Äste. Trostlose Äste ohne Blätter. Alles war kahl. Kahl uns kalt. Die Landschaft vor ihr wirkte trostlos und der Himmel war schon grau. Wie den ganzen Tag auch schon, doch nun wurde es langsam dunkel. Dunkel und noch grauer. So etwas hatte sie noch nie in ihrem ganzen Leben erlebt. Nicht dass das eine Kunst war, immerhin war dies ihr erster Tag. Der erste Tag ihres Lebens. Der Erste und der Letzte.
Einige Stunden waren vergangen, seit sie geschlüpft war. Sie war nicht allein. Viele ihrer Geschwister hatten ihr Gesellschaft geleistet, doch nun waren sie fort. Sie wusste nicht genau wann sie verschwunden waren, aber offenbar hatten sie im Gegensatz ein Ziel. Einen Ort wo sie hin wollten. Auf sie selbst traf das nicht zu. Nun war sie ganz allein. Ohne Ziel vor den Augen.
Wahllos flog sie von einem Ast zum nächsten und ließ sich darauf nieder. Ein Stück hinauf, ein Stück hinunter. Sie hatte Hunger, zum ersten Mal in ihrem Leben. Zuerst probierte sie einen kleinen Ast, stellte aber schnell fest, dass dieser als Nahrung nicht taugte. Doch wo würde sie sonst noch etwas finden? Sie wusste es nicht. Es dauerte lange bis sie ein vertrocknetes Blatt fand und sie vergnüglich anfing daran zu knabbern.
Zufrieden ließ sie von dem Blatt ab und schwang sich wieder in die Lüfte. Sofort wurde sie von einer Windböe erfasst und hoch in die Luft geschleudert. Es braucht eine ganze Weile bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Schnell landete sie auf dem nächstgelegenen Ast, bevor ihr dies erneut passieren konnte. Ihr war schwindlig und als sie hinuntersah wurde dies noch schlimmer. Sie war nun ganz oben. Im Wipfel des Baumes. Schnell kroch sie in die Mitte des dürren Astes und blieb dort eine ganze Weile sitzen. Ihr wurde bald klar, dass sie hier nicht länger bleiben konnte, sonst würde sie noch an einem noch ungünstigerem Ort landen. Einen an dem sie nicht wieder herauskommen würde. Immer noch etwas benommen flog sie ein Stück weiter nach unten. Es war schwierig nicht wieder vom Wind nach oben geschleudert zu werden, aber sie schaffte es schließlich doch. Erleichtert ließ sie sich wieder nieder. Sie hatte es geschafft.
Nach einer Weile beschloss sie sich ganz in Sicherheit zu bringen und schwebte ein Stück weiter nach unten. Dann kam er urplötzlich. Sie hatte damit nicht gerechnet und hatte ihn auch nicht gesehen, oder bemerkt. Erst als sein scharfer Schnabel sich um sie schloss, wurde ihr bewusst, dass er da war, aber da war es schon zu spät. Sie spürte den Schmerz und wie sie keine Luft mehr bekam, dann schluckte der Vogel und alles war vorbei. Nun hatte sie ein Ziel erreicht, ein Ende, obwohl sie hier nie hin wollte.
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2021
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