Schweigend lief ich die menschenleere Straße entlang. Der Regen ergoss sich auf alles, was sich ungeschützt ihm preisgab und ertränkte es fast. Doch mir war es gleich. Die vergangene Stunde hatte den letzten Rest an Gefühl aus meinen Gliedern genommen und was mir nun blieb, war eine leere Hülle, die nur noch atmete, weil es ihre, von der Natur vorgegebene, Aufgabe war.
Warum träumte der Mensch und schürte Wünsche und Sehnsüchte, wenn es doch unmöglich war, die wichtigsten und bedeutungsvollsten unter ihnen wahr werden zu lassen?
In meinen trüben Gedanken versunken, schreckte ich plötzlich auf, als ich dicht neben mir einen Laut hörte. ‚Diese Stimme! Seine Stimme!‘, schoss es mir durch den Kopf und ich blieb ruckartig stehen. Langsam drehte ich mich um und sah meinen Gedanken bestätigt – er war mir gefolgt!
‚Warum zum Teufel habe ich das nicht bemerkt!‘ Gedanklich gab ich mir selbst eine Kopfnuss. ‚Weil ich wieder einmal blind durch die Straßen gelaufen bin... Das wird in letzter Zeit irgendwie zur Gewohnheit. Nur, wie sollte ich denn sonst –‘ Unerwartet schreckte ich aus meinen Gedankenstrudel auf, als ich wieder seine Stimme hörte. Ein warmes Gefühl machte sich in meinem Bauch bemerkbar und ich registrierte nicht zum ersten Mal, welche Wirkung allein seine Anwesenheit auf meinen Körper hatte. Bis vor einer Minute dacht ich, dass ich nie wieder eine Empfindung in meinem Körper spüren könnte, doch dieses Kribbeln im Bauch breitete sich in rasender Geschwindigkeit in mir aus und ergriff von meinem Herzen Besitz, der heiße Schockwellen durch meinen Körper pulsieren ließ und mich von Kopf bis Fuß einhüllte.
Er räusperte sich wiederholt und setzte zum Sprechen an, stockte jedoch wieder, als er meinen Blick bemerkte, der sich an seinen Augen festgesaugt hatte. Als mir mein Verhalten bewusst wurde, erhöhte sich die Temperatur in mir wiederholt und ich konnte spüren, wie ich rot anlief. Nicht eine sanfte, gesunde Röte, die man geschickt als Kälterötung tarnen könnte. Nein!! Wegen meiner verhassten blassen Haut leuchtete ich innerhalb weniger Sekunden von Kopf bis Fuß, als wenn ich einem Luchturm Konkurrenz machen wollte. „Ähm...“ Mehr brachte ich nicht heraus und war plötzlich wieder von seinen Augen gefangen, die mich, bei meinem Versuch, die menschliche Sprache zu verwenden, erneut taxiert hatten und nicht mehr los ließen. Das heiße Kribbeln in meinen Körper brachte nun mehrere artistische Verrenkungen zustande, als er mich plötzlich sanft anlächelte. „Samuel.“ Seine Stimme ist unbeschreiblich. Eine Mischung zwischen rauchig trüb und samtig weich. Er stockte, sah sich um und blickte mir wieder in die Augen „Sam... Bitte lauf dieses mal nicht davon. Ich...“, er seufzte, „ich werde dir alles erklären, doch bitte komm wieder mit mir zurück. Ins Warme und Trockene...“
Ich starrte ihn ausdruckslos an. Mein Herz, das sich bis eben vor Freude in Turnübungen erprobt hatte, stand urplötzlich still und setzte erst nach langer Zeit wieder mit ihrer ursprünglichen Tätigkeit fort, nur dass ich jetzt bei jedem Schlag das Gefühl hatte, mein Herz würde von einer riesigen schweren Faust erdrückt werden. Panik überkam mich und ich blickte gehetzt um mich. Als ich gerade einen Fluchtweg entdeckt hatte und mein Ziel fest im Auge behielt, um nicht noch einmal zu ihm – und seine Augen – zu sehen, schlangen sich plötzlich zwei Arme um mich. Zwei wundervoll starke Arme, die mich an seinen starken warmen Körper zogen. Ich konnte seinen Duft riechen. Ein Duft, der nur ihm zueigen war und mich jedes Mal zum träumen brachte. Doch jetzt trieb es mir nur die Tränen in die Augen. Ein Schluchzer entrang sich meiner Kehle und ich fing in seinen Armen an zu zittern.
„Hey, schsch, ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung...“ Sanft hauchte er mir beruhigende Worte ins Ohr und nach einiger Zeit fasste ich mich wieder so weit, dass ich den Regen wahrnahm, der meine und seine Kleidung völlig durchdrungen hatte.
Seine Brust, gegen die ich immer noch gepresst wurde, bebte leicht. Ungläubig sah ich zu ihm auf. Er lacht! Ein heißer Strom altbekannter Gefühle brandete durch meinen Körper und neben diesen, fühlte ich ein neues. Hoffnung und... noch etwas... Ich konnte es nicht beschreiben, doch es war wunderschön und es brannte sich mir für immer in mein Herz.
Er bemerkte meinen Blick und sah mich liebevoll an. Meine Augen wurden groß, als sein Kopf sich zu mir hinunterbeugte und er mir einen Kuss auf meinen Mundwinkel hauchte.
„Jan?! Wa-was... I-i-ich.. w-w-wie...“ Vollkommen perplex stammelte ich – mein Gehirn hatte sich eben selbst auf Stand-by-Modus geschalten.
Seine Hand fuhr sanft über meine Haare und strich meine Wange entlang. „Endlich habe ich dich gefunden. Ich bin dir vorhin nachgerannt, doch du warst zu schnell verschwunden und ich wusste nicht, wo ich dich finden könnte...“ Sein Blick glitt über unsere Kleider. “Wie es aussieht sind wir wohl beide durch die Straßen geirrt, ohne eine Ahnung zu haben, wohin wir gehen.“ Er schmunzelte. Ich konnte nur nicken, da ich wieder von seinen Augen gefangen war. Wissend blickte er auf mich nieder. Plötzlich blitze etwas in seinen Augen auf und seine Gesichtszüge festigten sich. „Ich liebe dich auch.“ Verdutzt und ungläubig sah ich ihn an. Er lächelte schief.
„Ich wusste schon seit längerem, dass du dich in mich verliebt hattest. Jedoch hatte ich, aus Angst dich zu verletzen, deine Blicke ignoriert und gehofft, dass es wieder vorüber gehen würde.“ „Was?!“ Erschrocken wollte ich mich aus seiner Umarmung befreien, doch er presste mich nur noch starker an sich. „Nur trat genau das Gegenteil ein...“ Er seufzte. „ Ich hasste mich selbst dafür, doch ich wusste nicht warum... Bis heut Morgen...“ Tief sah er mir in die Augen. „Als du mir aus Verzweiflung deine Gefühle entgegengeworfen hast, ist mir im selben Moment klar geworden, dass ich meine Gefühle zu dir nur verstecken wollte, um mir nicht eingestehen zu müssen, mich in einen Mann - in dich - verliebt zu haben.“ Ein Schluchzer löste sich aus meiner Kehle. Eine Welle der Euphorie erfasste mich. „Du Idiot!!“, fasste ich meine Gefühle in Worte. Ich lachte unter Tränen und warf meine Arme um seinen Hals, um ihn zu mir hinunter zu ziehen und meine Lippen fest auf seinen Mund zu pressen. Überrascht schnappte Jan nach Luft.
Als ich mit meiner Zunge leise bittend seine Lippen liebkoste, gab er meinem Drängen nach und erwiderte den Kuss mit ebensoviel Leidenschaft. Freudig erschauerte mein Körper und ich presste mich noch fester an ihn. Als er meine Reaktion bemerkte, intensivierte er unser Zungenspiel und strich zärtlich meinen Rücken hinauf.
Wir hatten unsere Umgebung völlig ausgeblendet und lebten nur noch für diesen Moment, diesen besonderen Augenblick.
Nach einiger Zeit mussten wir jedoch den Kuss wegen Luftmangels lösen und sahen uns intensiv in die Augen. Verträumt blickte ich ihn an, bis er plötzlich zusammenzuckte und sich verwundert den Kopf rieb. Beide schauten wir gleichzeitig nach oben. Mit einem ’Plong’ war ich jäh wieder in der Wirklichkeit zurück und registrierte, mir verdutzt die Stirn reibend, dass der Regen in einen Hagelschauer übergegangen war und wir immer noch mitten auf der Straße standen.
Lachend griff Jan nach meiner Hand und zog mich schnell zum nächstgelegenen Unterstand. Während mein Blick weiterhin verträumt sein Gesicht anstarrte, begriff ich plötzlich etwas tief in meinem Innern.
Mit einem warmen Gefühl stolperte ich Jan unter dem Türsturz hinterher und schmiegte mich fest an ihn. Als er mich zärtlich lächelnd in seine Arme schloss, wusste ich, dass manche Träume doch in Erfüllung gehen konnten.
>> FIN <<
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2013
Alle Rechte vorbehalten