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Der neue Nachbar


Nein, sie irrte sich nicht. Das Wetter war herrlich, kein Wölckchen am Himmel. Die Sonnenstrahlen wärmten sie und doch hatte sie kein gutes Gefühl. Woher das rührte war eigentlich klar: Der neue Nachbar!

Minni, wie sie alle nur nannten, hatte ihn vor einer Woche zum ersten Mal gesehen. Sie lebte mit ihrer Familie hier am Ufer der Enz. Dort war das Binsengras so hoch, dass man sie nicht gleich entdecken konnte. Und unter der Brücke war es warm und trocken. Noch viele andere lebten hier, ernährten sich vom Inhalt der Papierkörbe und den Resten, den die Leute im Biergarten des Enzauenparks übrig ließen. Die meisten, die hier wohnten, waren von Läusen und Flöhen geplagt, auch Minnis Familie konnte sich dem nicht entziehen, aber man versuchte doch würdig und einigermaßen sauber auszusehen. Der neue Nachbar war da ganz anders. Er sah zerzaust aus, scherte sich einen Dreck um Sauberkeit und roch auch dementsprechend. Er war nicht mehr der Jüngste und wirkte ausgezehrt. Man sah ihm aber an, dass ihm das Leben unter der Brücke neu war. Er hatte sich anfangs lange geziert und nur mal am Müll gerochen wenn keiner hinsah. Doch nach ein paar Tagen verlor er jede Scheu und kämpfte wie ein Berserker ums Essen. Alle mieden ihn. Sein Blick war wirr und gefährlich, er schien unberechenbar.

Seit letzter Woche waren viele Kinder verschwunden hieß es. Minni kannte keins von ihnen. Zum Glück hatte es ihre Freunde und Familie noch nicht getroffen. Vielleicht war das auch nur wieder ein Gerücht. Wie immer wenn jemand neu war und so aussah wie er, rankten sich gleich gruselige Geschichten um ihn. Und doch, Minni hatte Angst vor ihm. Wenn sie ihn nur von weitem sah versteckte sie sich. Meist konnte sie ihn riechen bevor sie ihn sah. Man konnte hier eh alle riechen, aber er hatte einen besonderen Duft, anziehend und abstoßend zugleich.

Ihre Mutter hatte große Angst um Minni. Ihre anderen Geschwister waren schon weggezogen und ihr kleiner Bruder war ertrunken, als er an einer Brücke auf eine steinerne Figur ohne Arme stieg und herabfiel. An dieser Stelle fließt die Nagold in die Enz und der Fluss ist sehr reißend, er hatte keine Chance. Mutter beschloss daraufhin weiter zu ziehen und der Enzauenpark war ein wundervolles Fleckchen Erde, wenn nicht sogar der schönste in Pforzheim. Im Sommer tummelten sich viele Leute und Kinder an den Spielplätzen und bepflanzten Wegen herum. Es roch herrlich nach Wiesenblumen und frischem Gras. Und natürlich nach leckerem Essen, wenn der Biergarten wieder eröffnet wurde. Am meisten liebte Minni die Abende, wenn Musik zu ihr herüber drang, vermischt mit dem Klirren der Gläser und dem Gemurmel, Gelächter und dem Klatschen der Leute. Gerne würde sie dann näher heran gehen, aber ihre Mutter verbot es ihr. Sie hatte zu große Angst entdeckt zu werden.

Minni spazierte ein bisschen am Ufer entlang, natürlich immer genug Abstand zum Wasser haltend und hielt Ausschau nach etwas Essbarem. Plötzlich stieß ihr ein widerlicher Geruch in die Nase. Unwillkürlich begann ihr Herz heftig zu pochen in Vorahnung, dass etwas Schreckliches geschehen sein mag. Langsam ging sie weiter, ließ sich von ihrer Nase leiten.

Da! Ihr stockte der Atem und heftige Übelkeit überkam sie. Dort lag eine Leiche im Gras! Zuerst sah sie nur einen Arm und drehte sich schnell weg um den Rest nicht sehen zu müssen, doch die Neugier überwog. Sie drehte sich erneut um und sah nun das ganze Ausmaß: Schrecklich verstümmelt, mit aufgerissenem Bauch und nur einem Bein lag dort ein kleiner Körper. Angewidert schloss Minni die Augen und wandte sich ab. Aber sie musste doch nachschauen ob sie das Opfer kannte. Sie holte tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und drehte sich um.

Nein! Das durfte nicht wahr sein, sie musste sich irren. Wieder schloss sie die Augen und öffnete sie erneut. Doch es gab keinen Zweifel, sie sah in die gebrochenen Augen von Ida. Minni kannte Ida gut, wenn sie auch nicht beste Freundinnen waren. Hier freundete man sich ohnehin nicht näher an. Ida hatte helleres Haar als Minni und war schon ein bisschen älter. Sie hatte eine große Familie und viele Geschwister. Man konnte sie meist an der großen Treppe am Flussufer antreffen, wo sie fröhlich herumtobte. Ida und ihre Familie waren nicht so ängstlich. Ihrer Mutter war es egal ob man sie entdeckte, darauf war Minni oft ein bisschen eifersüchtig, denn Ida schien viel glücklicher zu leben. Aber nun hatte sich wohl erwiesen, dass es besser war umsichtiger zu sein.

Das Blut war schon eingetrocknet und zum Teil in der Erde versickert. Sie musste schon länger hier liegen, denn schon waren Idas Überreste von Ameisen bevölkert. Hatte noch niemand die Leiche bemerkt? Der Gestank war so schrecklich, jemand musste das doch bemerkt haben. Waren alle so gleichgültig, dass Idas Schicksal niemanden kümmerte? Vielleicht hatte sie wirklich noch niemand entdeckt, das hohe Gras versteckte den Leichnam, wäre Minni nur einen Meter weiter rechts gelaufen hätte sie ihn ebenfalls nicht bemerkt. Was sollte sie jetzt tun? Schreien? Würde jemand kommen? Hätte es noch einen Sinn, jetzt wo Ida schon tot war? Oder würde sie damit nur den Mörder auf sich aufmerksam machen?

Minni lief. Sie lief einfach los, lief und lief, ohne zu wissen wohin, ohne Rücksicht auf ihren kleinen Körper der bald mit Kratzern übersäht war. Irgendwann spürte sie die Schwere die ihren Körper umfing, wurde langsamer und blieb endlich stehen. Erst jetzt wurde ihr bewusst wie sehr sie sich verausgabt hatte, der Atem brannte heiß in der Lunge. Sie erlaubte sich ein wenig zu verschnaufen.
Wo war sie? Hier kam ihr nichts bekannt vor. Und doch, es roch vertraut. Minni hockte im hohen Gras hinter einem großen Stein, der sie weitgehend verdeckte. Jetzt sah sie sich erst einmal um. Natürlich! Die Brücke! Hier hatten sie früher gelebt, wo Enz und Nagold sich trafen und der steinerne Mann ohne Arme über die Brücke wachte.

Ob wohl hier ihr kleiner Bruder seinen Tod fand, gab ihr die vertraute Umgebung etwas Tröstliches. Die jüngsten Ereignisse im Park ließen diesen nicht mehr sicher erscheinen. Hier war sie zu Hause, hatte selbst oft auf dem steinernen Mann herumgeturnt und von dort oben die Aussicht genossen.
Vielleicht sollte sie dort hinaufklettern um sich eine bessere Übersicht zu verschaffen. Gesagt, getan! Behände kletterte Minni auf die Figur und ließ sich auf deren Schulter nieder. Der Ausblick faszinierte sie immer wieder. Zur einen Seite der Brücke, wo die beiden Flüsse ineinander flossen, mit dem großen Wehr, von dem das Wasser mit Getöse herunter sprang. Zur anderen Seite, wo die Enz, nun mit mehr Schwung zur Stadt hinaus drängte. In der Mitte, auf der Brücke, geschäftiges Treiben: Viele viele Autos, die hinein oder aus der Stadt hinaus wollten, viele Menschen, die schnellen Schritts über die Brücke liefen, ein paar nahmen sich die Zeit am Brückengeländer zu verweilen, ins Wasser zu schauen und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. An der rechten Flussseite hörte man das Toben der Kinder, die sich auf dem Spielplatz neben dem Congresszentrum die Zeit vertrieben.

Minni sog genüsslich die Luft ein mit all diesen Eindrücken im Kopf, während in einem kleinen Winkel ihres Gehirns noch die Angst lauerte. Als sie jetzt noch einmal nach unten sah wurde sie gewahr, wie sorglos diese Leute hier waren und sich um sich selbst kümmerten. Keiner von ihnen wusste was sich alles in der letzten Woche hier ereignet hatte und es interessierte sie auch nicht. Ihr war als müsste sie schreien um alle darauf aufmerksam zu machen, doch selbst ihr Schreien würde keiner wahrnehmen, höchstens ihre Mutter. Mutter! Auch sie war in Gefahr, wenn auch bisher nur Kinder verschwanden. Sie würde sich sicher schon schrecklich um sie sorgen. Minni musste zurück in den Park laufen. Sie drehte sich um und kletterte auf das Geländer des steinernen Podests zurück. Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie nicht ein Geräusch gehört? Ein leises Geräusch, das sie trotz des Lärms von der Straße wahrnahm, weil es hier nicht her gehörte? Oder war es ein Geruch der ihre Nase nur streifte, sie aber automatisch in Alarmbereitschaft versetzte? Sie traute sich nicht sich zu bewegen, nur ihre Augen jagten umher, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie hatte keine Zeit lange zu überlegen, also kletterte sie, so schnell sie konnte, vom Podest auf die Brücke. Sie wagte es nicht sich umzudrehen und lief wieder unter die Brücke und weiter flussabwärts.

Als sie die nächste Brücke erreicht hatte hielt sie an um zu verschnaufen. Sie blickte sich um und als sie nichts Verdächtiges sah schaute sie an sich hinunter. Arme und Beine waren zerschunden, von blutenden Kratzern übersäht. Zum Glück schien sie nicht ernsthaft verletzt zu sein. Wieder zuckte sie zusammen, warum wusste sie nicht. Sie sah sich noch einmal um. Da entdeckte sie ihn: den neuen Nachbarn. Er lief oben die Straße entlang als ob nichts gewesen wäre. Schnell duckte sie sich ins Gras, noch hatte er sie nicht gesehen. Gemütlich schlenderte er weiter, schmiegte sich an das Geländer und schloss genüsslich die Augen, die von der Sonne geblendet waren. Er sah heute sogar etwas besser aus als letzte Woche, er schien sich wieder mehr zu pflegen. Sein Blick streifte scheinbar ziellos durch die Gegend, doch Minni traute ihm nicht. Sie war noch immer überzeugt, dass nur er hinter dem Mord an Ida stecken konnte. Langsam bewegte sich Minni vorwärts, Schritt für Schritt.

Da reckte er den Kopf! Er hatte sie gesehen. Minni schaute nach rechts und links, doch niemand sonst war in ihrer Nähe, er konnte nur sie meinen. Sie lief ein paar Schritte und sein Blick war auf sie geheftet. Wie konnte er in seinem Alter noch so gut sehen. Jetzt setzte er sich in Bewegung ohne sie aus den Augen zu lassen. Langsam lief er in ihre Richtung. Jetzt konnte sie nur noch laufen, laufen so schnell sie konnte. Die Gräser peitschten ihre Beine, doch Minni spürte das nicht. Sie drehte sich um, er war ihr auf der Spur und wurde immer schneller. Sie erreichte die nächste Brücke, dort gab es kein Gras in dem sie sich verstecken konnte. Sie drehte sich noch einmal um, er war ihr dicht auf den Fersen. Ihre Kräfte ließen nach, noch nie in ihrem Leben war sie so viel gerannt. Sie versteckte sich hinter dem Brückenpfeiler, doch der Nachbar hatte sie ständig im Visier. Das würde ihr nicht helfen. Sollte sie um Hilfe rufen oder würde ihn das nur bestärken, weil er dann wusste, dass er mit ihr leichtes Spiel hatte? Noch während sie darüber nachdachte machte der Nachbar einen Satz von der Brücke und raste auf sie zu, sein Blick irre, wie sie ihn noch nie gesehen hatte.

Sie wusste nicht wieso aber sie hatte auf einmal zu Schreien begonnen. Zumindest meinte sie zu schreien, aber aus ihrem Hals kam nur ein Piepsen. Da teilte sich vor ihr das Gras und ein noch kleineres Mädchen sah sie entsetzt an. Noch bevor Minni sie warnen konnte hatte der Nachbar sie schon entdeckt. Das Mädchen lief sofort los und der Nachbar hinterher. Minni wusste nicht was sie tun sollte. Sollte sie versuchen ihr zu helfen? Doch es war schon zu spät, sie hörte nur einen schrillen Schrei, dann das knacken von Knochen und andere schreckliche Geräusche die sie nicht zuordnen konnte. Minni saß immer noch wie versteinert am Brückenpfeiler, unfähig sich zu bewegen.

Ihr Herz klopfte wie wild, ihr Blut rauschte in ihren Ohren und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dann war es ruhig. Nur schlurfende Schritte im Gras waren zu vernehmen. Da teilte sich abermals das hohe Gras und der Nachbar stand direkt vor ihr. Er war von oben bis unten blutverschmiert, er grinste Minni an und kam noch einen Schritt näher. Für Minni gab es keine Chance mehr. Am liebsten hätte sie die Augen einfach geschlossen und das Unvermeidliche über sich ergehen lassen, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Er beugte sich zu ihr herunter, ganz langsam, und sog ihren Duft ein, dann leckte er sich die blutverschmierten Lippen und grinste höllisch. Er genoss ihre Angst.

Dann wandte er sich ab und lief gemächlich davon, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und Minni mit einem höhnischen Lachen zu verabschieden.

Sie saß noch immer reglos da. Ihre Gedanken rasten. Was war da eben passiert? Warum hatte er sie nicht angefallen? Hatte er genug von dem kleinen Mädchen? Hatte er Mitleid mit ihr? Nein, auf gar keinen Fall. Dieses letzte Grinsen bedeutete nur: Jetzt weißt du was auf dich zukommt! Minni hätte am liebsten geweint. War sie schuld am Tod des kleinen Mädchens? Hätte sie nicht geschrieen, wäre er über sie hergefallen und hätte das kleine Mädchen nicht entdeckt. Das war es was ihm so viel Vergnügen bereitet hatte. Sie musste ein schlechtes Gewissen haben, weil sie auf Kosten eines anderen Mädchens überlebt hatte.

Nach ein paar Stunden bemerkte Minni, dass ihr kalt wurde. Die Sonne war unter gegangen und sie saß noch am selben Fleck. Die Kälte weckte sie aus ihrer inneren Starre. Was sollte sie jetzt tun, an wen sich wenden? Sie wusste er würde irgendwo auf sie warten, wenn nicht heute Nacht so irgendwann, wenn sie es am wenigsten erwartete. Sie hatte nicht mehr die Kraft heute Nacht bis nach Hause zu laufen, sie wäre eine leichte Beute für ihn. Vielleicht würde er sie gerade deshalb heute verschonen. Er liebte wohl das Spiel. Langsam trottete Minni los. In der Nacht waren alle Geräusche noch unheimlicher als sonst, doch seltsamerweise kümmerte Minni das im Moment überhaupt nicht. Sie fühlte überhaupt nichts, keinen Schmerz, keine Kälte, kein Gewissen. Keine Tränen! Wenn sie doch nur weinen könnte, vielleicht würde sie dann wieder etwas fühlen. Monoton lief sie weiter, so weit ihre kleinen Füße sie trugen.

Blinzelnd erwachte sie. Sie konnte sich nicht daran erinnern wann sie eingeschlafen war. Alles an ihr fühlte sich feucht an und die Morgensonne, die sie geweckt hatte, konnte sie nicht trocknen. Sie schaute sich um, sah und hörte Vertrautes. Sie war schon in der Nähe des Enzauenparks. Der Gedanke beruhigte sie. Nun lief sie schon ein bisschen schneller. Sie musste an ihre Mutter denken und Heimweh erfasste sie.

Sie kam gerade am Biergarten vorbei, als sie die Stimme des neuen Nachbarn vernahm. Sie war schmeichelnd und verfehlte offenbar nicht ihre Wirkung. Er stand bei einem der Kellner und erbettelte wohl etwas zu essen. Der Kellner lachte ihn an und gab ihm ein paar kleinere Fleischstücke. Nun kamen auch andere Kellner dazu und schienen sich prächtig mit dem Neuen zu verstehen. Wie naiv sie wohl waren, wenn sie nur wüssten was ihr neuer Freund so trieb. Aber das interessierte ja keinen, was unter der Brücke geschah. Einer tätschelte dem Neuen sogar freundschaftlich die Schulter. Wenn sie nur ahnten was dieser nette ältere Herr sonst so tat. Wieso ließen die Erwachsenen sich so leicht blenden? Minni hatte sofort bemerkt, dass mit dem neuen Nachbarn was nicht stimmte. Auch die anderen unter der Brücke waren gleich misstrauisch gewesen. Aber das waren die immer.

Minni fühlte sich einigermaßen sicher, solange der Nachbar mit den Kellnern beschäftigt war. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Mutter zu suchen. Um diese Zeit war sie meist am anderen Ufer, damit sie nicht den Männern begegnete die den Park pflegten. Auf der anderen Seite waren viele Spielplätze, wo sich auch Minni gerne aufhielt. Schnell sprang sie über die Brücke. Am Spielplatz angekommen sah sie sich erst einmal um. Ein paar Kinder tobten kreischen an den Spielgeräten herum, nur ein kleines Mädchen stand traurig dabei, die Hände auf dem Rücken, in Gedanken versunken hin und herwankend. Ihre Mutter zog sie gerade zu sich und nahm sie tröstend in die Arme. Minni war als würde ihr Herz zerbrechen. Wie sehr vermisste sie gerade jetzt ihre Mutter, ihren Trost, die Sicherheit, die sie bei ihr empfand. Minni setzte sich ins Gras und wurde erdrückt von Hoffnungslosigkeit. Die Einsamkeit, die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse des letzten Tages, die Trauer um Ida, all das brach auf einmal über ihr herein. Jetzt musste sie all diese schrecklichen Gefühle zulassen. Wie gerne würde sie jetzt weinen, aber das konnte sie eben nicht. Sie hatte oft die Kinder auf den Spielplätzen beobachtet. Wenn sie sich verletzt hatten, liefen ihnen, oft unter großem Gejammer, dicke Tränen über die Wangen. Bisher hatte Minni das nicht verstehen können, doch jetzt war ihr so nach Weinen. Vielleicht spülte man mit den Tränen ein paar schlechte Gefühle aus seinem Körper. Zumindest schienen die Kinder dann immer erleichtert zu sein.

Iiiiiiiiiiiih! Ein schriller Schrei drang an ihr Ohr. Minni drehte sich um: Mutter! Endlich! Ihre Mutter stand nur wenige Meter von ihr weg, neben dem Weg, der sie trennte. Ihr Blick war panisch, doch jetzt konnte Minni nichts mehr aufhalten, sie lief direkt auf ihre Mutter zu. Erneut schrie Minnis Mutter und lief auf Minni zu, ihr Blick auf die Seite gerichtet. Minni folgte dem Blick und sah ihn. Der neue Nachbar sprang mit einem kräftigen Satz aus dem Gras auf sie zu. Minni wich entsetzt zurück, doch der Nachbar hatte sie an ein paar Haaren zu fassen bekommen. Sie schlug um sich, konnte sich aber nicht aus seinen Klauen befreien. Plötzlich stieß er einen spitzen Schrei aus und drehte sich abrupt um. Minnis Mutter hatte ihn fest in den Arm gebissen. Er schrie vor Schmerz auf und schleuderte Minnis Mutter weg. Sie flog ins hohe Gras. Minnis Herzschlag setzte für einen Moment aus. Was war mit ihrer Mutter?

Der Nachbar hatte diesen Sekundenbruchteil genutzt und sich wieder auf Minni gestürzt. Mit seinem vollen Gewicht drückte er sie zu Boden, sein Gesicht wutverzerrt fauchte er sie an.

Inzwischen waren auf dem Spielplatz ein paar Kinder auf das Spektakel aufmerksam geworden, neugierig kamen einige langsam näher. Der Nachbar riss sein Maul auf und Minni sah in einen scheinbar endlosen Schlund. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und erwartete das Unausweichliche.

„Leo?“ wisperte das traurige Mädchen und sah den Nachbarn unverwandt an. Irritiert drehte er sich nach ihr um. „Leo!“ rief sie jetzt glücklich und ging auf ihn zu. Er ließ Minni sofort los und wich einen Schritt zurück. „Mama, das ist Leo!!!“ rief das Mädchen verzückt. Der Nachbar sah sie an und begann zufrieden zu schnurren, dann ging er auf das Mädchen zu und strich ihr um die Beine. Minni sah verdutzt drein, das Mäuschen kapierte nicht was da vor sich ging. „Tatsächlich!“ lachte die Mutter des kleinen Mädchens, „wir haben unseren Leo wieder, ach wie haben wir dich vermisst!“ und zu dem Mädchen gewandt: „Siehst du, ich habe dir doch gesagt: Katzen finden immer wieder nach Hause zurück.“ Das Mädchen nahm Leo in den Arm und lief mit ihm und ihrer Mutter weg.

Minni begriff langsam. Der Nachbar hatte ein Zuhause, das verloren geglaubt war. Deshalb war er auch das Leben unter der Brücke bei den anderen Tieren nicht gewohnt.
Ihre Mutter schmiegte sich an sie und auf einmal war alles wieder gut. Da bemerkte Minni, dass ihr Fell auf der Brust ganz nass war. Hatte sie etwa geweint?


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Tag der Veröffentlichung: 16.01.2010

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