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- Möchtest du gerne ein Stück Lioner haben?

Ich sitze in meinem Kinderwagen und schaue die Verkäuferin hinter der Wursttheke ungläubig an. Ich weiß nicht so richtig, was ich mit dieser seltsamen Frage anstellen soll. Kann man überhaupt sagen, dass es eine Frage ist? Ist es nicht eher eine rhetorische Frage? Die Verkäuferin steht mit ihrem langem Messer bereits hinter der Theke, um mir ein Stück von dieser weichen Wurst abzuschneiden. Ich weiß doch schon lange, dass sie auf mein „Ja“ antwortet.

Wenn ich zustimme, dann wären alle Probleme aus der Welt geschaffen und jeder wäre glücklich: ich hätte dann meine Wurst und sie wäre froh, mir einen Gefallen getan zu haben. Die Probleme würden erst anfangen, wenn ich nein sagen würde. Dann würde die Welt untergehen! Die Verkäuferin würde mich dann traurig ansehen und das Messer wieder dahin legen oder sie würde mich noch mal fragen oder noch besser: sie würde mich ignorieren und mir dennoch das Stück geben, obwohl ich es gar nicht möchte.

Es bleibt mir also nichts anderes übrig als mit dem Kopf zu nicken…

Mein Kinderwagen bewegt sich weiter, ich weiß nicht wohin, Hauptsache, weg von dieser Würstchenhölle. Ich habe nun das ominöse Stück Wurst in der Hand. Was ist denn so einzigartig an dieser Wurst, dass mir jedes Mal eine Verkäuferin ein Stück davon andreht? Ich nehme mir den Lioner unter die Lupe: ich habe ein dickes Stück ergattert, dass Stück ist kalt und das Fleisch blass. Ich frage mich, warum es überhaupt Lioner sein muss. Warum nicht Schinken oder Salami? Ist es ein Zeichen? Ich habe keine Ahnung und esse sie in ein paar Happen. Ich fühle mich nicht glücklich und mir wird wegen dem faden Aroma schlecht.[...]

Viele Jahre später werde ich, im gleichen Supermarkt, schon wieder mit dem Lionerproblem konfrontiert. Vor mir in einem anderem Kinderwagen sitzt mein Neffe. Auch er wurde mit der Frage „Möchtest du gerne ein Stück Lioner haben?“ belästigt. Diese Frage sollte gesetzlich verboten werden. Mit dieser Frage kann man nichts anstellen und keine ehrliche Antwort geben. Ich beende lieber dieses Problem und antworte der Verkäuferin höflich… ich meine heuchlerisch:

- Nein Danke. Er würde gern ein Stück nehmen, doch ihm wird wegen der Wurst schlecht.

Die Verkäuferin schaut mich etwas seltsam an, legt dass Messer wieder bei Seite und wünscht uns einen schönen Tag.

Ich drücke den Kinderwagen weiter vor mich hin, denn ich möchte von hier fliehen. Da sagt plötzlich mein Neffe:

- Aber Onkel…. warum bekomme ich keine Wurst? Ich habe jedes Mal ein Stück bekommen…

Ich bin sprachlos. Ich habe ihm vom Lionerdilemma gerettet und nun möchte er auch noch ein Stück Wurst! Sieht er denn nicht, dass ich ihn vom Schlamassel befreit habe? Ich lasse mir dies durch den Kopf gehen. Plötzlich geht mir ein Gedanke durch den Kopf: mein Neffe und all die anderen Kinder wurden auf den Lioner konditioniert. Jedes Kind bekommt ein Stück Wurst, auch wenn er nicht will. Dann sehen die anderen Kinder, dass man Lioner bekommt und dem zu Folge will dann jeder Lioner, da jeder das haben will, was der andere hat. Dies wird von einer Generation zur anderen weiter geführt, da man sich an die Wurst und die eingebildete Freude im Besitz der Wurst zu sein, erinnert. Der Supermarkt wiederum wird so gut besucht und macht Profit.

Demnach zu Folge ist die Lionerfrage keine Frage, sondern eine Gehirnwäsche… Und dies akzeptiert man mangels an Alternative: als Kind kann man sich den Supermarkt nicht auswählen und die Wurst sowieso nicht [...]

Seit diesem Tag vermeide ich in den Supermarkt zu gehen. Wenn es wirklich nicht anders geht, bleibe ich da drinnen so wenig wie nur möglich und mache den größtmöglichsten Bogen um die Wursttheke. Ich schließe meine Augen, um den Lionerzwang nicht zu sehen. Doch ich kann nicht die ganze Zeit wegschauen… Ich mache es trotzdem. Es ist besser unauffällig zu bleiben und den Lioner zu ignorieren. So bekommt man keine Probleme mit dem Lioner und dessen Anhänger[...]

Dies gelingt mir auch eine Zeit lang: ich beachte den Lioner nicht länger… Jedoch halte ich es nicht länger aus, nichts zu unternehmen. Nachts kann ich nicht mehr schlafen, ich denke die ganze Zeit an nichts anderes als an den Lioner. Und um dies ein Ende zu bereiten entscheide ich mich einen Gegenangriff zu starten. Ich muss die Menschheit vor dem Lioner schützen![...]

Ich stehe an der Wursttheke und habe einen Zettel mit einer Nummer in der Hand. Jedoch ist diese Nummer schon längst abgelaufen. Ich behalte sie jedoch: ich möchte so unauffällig wie nur möglich sein. Ich warte auf den richtigen Moment, um meinen Angriff zu starten…. Da endlich! Da kommt eine Frau mit ihrem Einkaufswagen zur Theke. Im Einkaufswagen sitzt ein kleines dickes Kind: ein typisches Lioneropfer. Ich sehe es ihm doch schon von Weitem an, dass er gerne die Wurst annimmt und sie in sich hinein stopft, obwohl sie ihm bereits aus den Ohren wieder herauskommt.

Da nicht viele Leute vor dem Lioneraltar versammelt sind, braucht die Frau nicht lange zu warten. Sie kauft ein, legt die Päckchen in den Wagen. Ich werde nervös, mir ist es heiß. Ich sehe wie die Verkäuferin das Messer bereit in ihrer Hand und stellt folgendes fest:

- Mein liebes Kind, du möchtest bestimmt ein Stück Lioner, oder?

Das Kind nickt, sie schneidet und reicht das Stück herüber. Das ist mein Stichzeichen.

Ich gehe dazwischen, reiße das Stückchen Wurst an mich und werfe es so weit wie nur möglich weg. Es fliegt in einem hohen Bogen außer Sichtweite. Die Frau ist entsetzt, die Verkäuferin perplex und das Kind schaut dumm gerade aus. Und nun schreie ich der Verkäuferin ins Gesicht:

- Können sie nicht endlich aufhören jedem Kind ein Stück Wurst unter zu jubeln? Stecken sie sich den Lioner sonstwo hin! Sehen Sie denn nicht, was sie mit dem Lioner anstellen? Lioner ist fad und total unnötig! Warum fragen sie den Kleinen nicht einfach, ob er bereits vom Supermarkt abhängig ist, um seine Lionerdosis zu erhalten? Oder braucht er noch ein paar Happen, um ihn zu „überreden“, dass er in Zukunft hierher wiederkommen soll?

Die Verkäuferin schaut mich noch perplexer an, die Frau starrt mich verständnisslos an und der Dicke scheint nichts von alldem verstanden zu haben. Ich zweifele an mir selbst. Habe ich nun das Richtige gemacht? Ich gehe einfach wieder und schenke dem Trio keine weitere Aufmerksamkeit mehr. Ich bin verbittert, verzweifelt, verloren[...]

Es sind bereits 3 Tage seit meinem Überfall verstrichen. Und seit 3 Tagen bin ich nicht mehr draußen gewesen. Wozu denn auch? Draußen lauert der Lioner und seine Versuchungen. Ich kann sie überall sehen, die Lioner und dessen Anhänger, ich kann sie hören, ja sogar riechen. Ich weiß, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin: mir ist nicht mehr zu helfen, da ich bereits verloren bin… Ich weiß ganz genau, dass ich das Gesprächsthema Nummer eins bin: „Hast du schon von dem komischen Typen gehört? Er ist wegen einer Wurst ausgeflippt, dass es so etwas gibt…“. Was kann ich nur machen, damit ich dem Lionerdiktat entgehen? Ich weiß es nicht… Deshalb sitze ich in meinem Sessel vor dem Fernseher und rühre mich nicht von der Stelle. Ich mache nichts. Ich schaue nicht einmal fern; der Fernseher strahlt ein weißes, flackerndes und rauschendes Bild aus.

Langsam, aber sicher wird mir klar, dass ich mich nicht in meiner Wohnung verstecken kann. Der Lioner wird mich schon finden. Ich höre bereits die Musik da draußen. Es ist die Musik vom Supermarkt. Und diese wird immer lauter. Es sind die Fanfaren der Konsumgesellschaft. Sie stehen nun draußen im Treppenhaus, vor meiner Wohnungstür. Jemand klopft nun laut an die Tür. Ich weiß, dass sie gekommen sind, um mich zu holen… Es hört nicht auf mit klopfen. Es ist ja schon gut! Warum denn so eilig? Ich komme schon die Tür aufschließen…

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Tag der Veröffentlichung: 18.07.2011

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