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Vorwort



Es gibt keine Grenzen mehr zu überschreiten. Alles, was ich gemeinsam habe, mit dem Unkontrollierbaren und Kranken, dem Gemeinen und Bösen, alles Schlimme, was ich verursacht habe, und meine totale Gleichgültigkeit dem gegenüber habe ich nun übertroffen. Mein Schmerz ist gleichbleibend und heftig.
Und ich hoffe für niemanden auf eine bessere Welt. Ich möchte sogar, dass mein Schmerz auch anderen zugefügt wird. Ich will, dass niemand davon kommt.
Aber selbst nachdem ich das zugebe, gibt es keine Katharsis. Meine Bestrafung entzieht sich mir weiterhin und ich komme zu keinen tieferen Einsichten über mich selbst. Aus meinem Erzählen kann kein neues Wissen herausgeholt werden.
Dieses Geständnis war völlig … bedeutungslos.


Nachtmahr – Katharsis

Katharsis



Die Holztüren des großen Gerichtsaals schwangen zur Seite und gaben den Blick auf einen schwarzgekleideten Mann frei, der von zwei Wachen begleitet wurde. Die Hände des Mannes waren mit Handschellen gefesselt. Dennoch zeigte sein unbewegtes Gesicht den Schatten eines spöttischen Grinsens.
Die Wachen setzten den Mann auf den Stuhl des Angeklagten und nahmen ihm die Handschellen ab. Der Richter thronte hinter seinem Pult und betrachtete die Unterlagen vor ihm. Er nahm keine Notiz vom Geschehen.
Unvermittelt begann der Schwarzgekleidete zu sprechen: „Der drohende Ausschluss aus der Gesellschaft soll böse Menschen daran hindern, böse Taten zu begehen. Soziale Kontrolle nennt ihr das.“
Der Angeklagte saß ruhig auf dem Stuhl, seine Hände lagen zusammengefaltet im Schoß.
„Und wenn die soziale Kontrolle versagt, tritt die Justiz ein, die Gerechtigkeit. Ich interessiere mich nicht für eure Gerechtigkeit. Ich interessiere mich nicht für euer Urteil. Es hat für mich keine Verbindlichkeit, keine Wirkung.
Egal, zu welchem Entschluss Sie und Ihre Richterkollegen, die Anwälte, das Volk und die Gesellschaft am Ende kommen, ich werde diese Verhandlung durch die selbe Tür verlassen, durch welche Ich sie auch betreten habe.“
Der Richter zog die Augenbrauen hoch und blickte den Angeklagten an. „So?“, fragte er und senkte den Blick wieder auf seine Unterlagen. Haben Sie sich schonmal umgesehen? Sie können diesen Saal nicht so einfach verlassen, er ist -“
„Das ist eine Tatsache, Herr Richter“, unterbrach der blasse Mann den Richter mit ruhiger Stimme. „Ich habe das nicht gesagt, um Sie zu provozieren oder zu beleidigen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, irgendwelche Emotionen hervor zu rufen. Ich spreche lediglich die Wahrheit aus.“
Die Stirn des hochgewachsenen Richters fiel in tiefe Falten.
„Sie befinden sich auf dem Stuhl des Angeklagten“, erinnerte er diesen. „Es ist sicherlich nicht an Ihnen, etwas als wahr oder falsch zu beurteilen. Diese Aufgabe und Bürde fällt heute mir zu.“
„Nein“, sagte der Angeklagte.
Der Richter verlor langsam die Geduld. „Hören Sie jetzt auf mit diesem Mummenschanz!“
Der Angeklagte zuckte mit den Achseln und blickte gleichgültig zum Podest der Richter.
„Gut“, sagte der Richter. Er blickte wieder in seine Unterlagen. „Ihnen werden insgesamt 66 Straftaten vorgeworfen, allesamt Kapitalverbrechen. Das Protokoll sieht vor, dass Sie sich dazu äußern dürfen.“
„Schuldig“, sagte der Angeklagte.
Dieses Mal zuckte der Blick des Richters zum Angeklagten. Misstrauisch musterte der Justizvertreter den Mann. Es dauerte einige Momente, bevor er fragte: „Sie geben zu, all diese Straftaten begangen zu haben?“
„Ja“, antwortete der blasse Mann. Die Hände nach wie vor im Schoß.
„Damit ...“, der Richter zögerte einen Moment. „Damit wird die Dauer der Verhandlung um einige Stunden verkürzt, ich werde -“ Er stockte. Der Angeklagte hatte den Blick plötzlich zur Decke gerichtet und fokussierte dort einen imaginären Punkt. „Träumen können Sie später!“, herrschte er ihn dann an. „Senken Sie den Blick!“
Der Angeklagte löste den Blick von der Decke des Saals und legte den Kopf etwas schief.
„Es wird bald vorbei sein“, sagte er. „Sie könnten gehen.“
Der Richter musterte den Mann zum zweiten Mal. In seinem Gesicht arbeitete es.
„Noch haben Sie die Möglichkeit dazu“, erklärte der Angeklagte und blickte wieder zur Decke.
Der Richter und die Menschen im Saal blickten verständnislos. Der Moment der Ruhe dauerte zu lange.
Irgendetwas stimmte nicht. Etwas Falsches trieb den Geräuschpegel im Saal in die Höhe. Es machte die Menschen unruhig. Brachte die Menschen zum Tuscheln.
Schließlich überwand der Richter seine Starre und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Ruhe!“, rief er mit belegter Stimme. Es half nicht. Die Menschen im Saal tuschelten weiter. Lauter.
Ein erneuter Schlag.
„Ruhe! Ruhe im Saal!“ Der Richter schrie nun.
Das Tuscheln erstarkte zu einem tonlosen Murmeln.
Einen ratlosen Moment lang schaute der Richter in die Runde. Dann griff er nach dem Hammer.
„Ich sagte Ruhe!“, brüllte er und ließ den Hammer fallen. Der Aufschlag ließ das Gebäude erzittern, Staub löste sich von der Decke, die Verstrebungen ächzten. Plötzlich herrschte Grabesstille.
Das Knarzen von Holz auf Stein durchzuckte den Saal. Alle Augen richteten sich auf den Angeklagten, der seinen Stuhl verlassen hatte und auf die Saaltür zuging.
Der Richter sprang auf. Es schien, als wolle er den Angeklagten aufhalten. Der jedoch bewegte sich nicht. Er blickte den Richter nur an.
Gerade öffnete dieser den Mund, als ihn ein lautes Knirschen innehalten ließ.
Als er nach oben blickte, riss er noch die Augen auf, bevor ihn ein Steinbrocken aus der Saaldecke zu Boden riss.
Blutüberströmt blieb er liegen.
„Soziale Kontrolle“, rezitierte der Schwarzgekleidete, während die Saaldecke erneut knirschte. „Nennt ihr den Ausschluss aus der Gesellschaft.“ Er blickte kurz über die versammelte, verängstigte Menge. Dann zum Platz des Richters. Das hölzerne Pult, die Tische und die Stühle zerbarsten in einer ohrenbetäubenden Explosion.
Scharfe Splitter durchlöcherten die Luft und zerrissen das Band der Lethargie. Wie auf ein unhörbares Kommando sprangen die Menschen von den Sitzreihen, schrien und liefen planlos und panisch umher, stießen sich um und versuchten, ihr Leben zu retten.
„Er soll bösen Menschen ebenjene Kontrolle vorenthalten“, sprach der Mann inmitten der Hysterie weiter. Trotz dem Geschrei, der Panik und dem ohrenzerfetzendem Stakkato weiterer Explosionen war seine ruhige Stimme im ganzen Saal zu hören.
Die Masse kümmerte sich nicht darum. Mit sich überschlagenden Stimmen versuchte sie den brennenden Holzbalken auszuweichen, die von der Saaldecke fielen. Verwundete Menschen fielen zu Boden. Männer, Frauen, Kinder. Die Masse kümmerte sich nicht darum. Sie versuchte den Flammen zu entkommen, die in abartig kurzer Zeit im ganzen Saal wüteten.
Der Marmorboden des Saals wölbte sich und brach auf, Flammen peitschten gegen zerbröckelnde Mauern und die tragenden Gerüste und Stahlbetonwände beugten sich der unwirklichen Hitze.

Die Masse starb.


Ein Mann stand unter einem steinernem, rußgeschwärzten Türbogen. Vor ihm stapelten sich rauchende Trümmer. Der Schwarzgekleidete schritt durch Asche und Glut. Das Knirschen seiner Stiefel auf zerstörtem Holz und ausgebrannten Knochen stoppte abrupt, als er vor einem entstellten Körper stehen blieb.
Der Klumpen aus Blut und Asche lag unter einem großen Stein begraben. Ein letzter Funke Leben blickte den Schwarzgekleideten aus liderlosen Augen an.

„Dabei“, sagte der Mann. „Habt ihr nicht einmal den Schimmer einer Ahnung davon, was Kontrolle bedeutet“.

Der Funke in den Augen des Richters verschwand.

Impressum

Texte: Peter O. Greza
Bildmaterialien: Peter Oliver Greza
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2012

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