Während des ersten Einfalls der Meute gab es eine Frau, der man auf den ersten Blick nicht ansehen konnte, auf welcher Seite sie stand. Das mag in einem Krieg, in der eine Rasse sich untereinander bekämpft noch relativ bedeutungslos sein. Doch wenn auf der einen Seite alle humanoiden Völker einer Welt stehen und auf der anderen nicht klar identifizierbare Geschöpfe mit dreizehn Armen, zwei Nasen und eineinhalb Köpfen, sollte man denken können, dass die Fronten sehr klar geregelt sind. Doch dem war nicht so. Keine Sorge, wir werden sofort in die Welt Aygen eintauchen, um dieses Mysterium aufzuklären. Aber um Dich, lieber Leser, nicht zu sehr auf die Folter zu spannen, sei hier gesagt, dass die Frau, von der hier die Rede ist, natürlich auf der Seite der humanoiden Völker stand. Derjenigen, die man für gewöhnlich mit dem Prädikat "gut" bezeichnet. Jedenfalls noch zu Beginn des Krieges.
"Rodrich, Eurer Einheit wurde der Befehl übertragen, beim bevorstehenden Vorstoß die linke Flanke der Hauptstreitmacht zu sichern", schnorrte der Hauptbefehlshaber durch seinen eitrig-gelb verklebten Schnurrbart. "Bereitet Eure Männer darauf vor, sich mit berittenen Wolfskreaturen, sprechenden Insekten und laufenden Toten auseinanderzusetzen. Ich will keinen dieser Abnormalen bei der Hauptstreitmacht sehen. Verstanden?"
"Is'n hässlicher Krieg, 's stimmt schon", antwortete der untersetzte, unrasierte Mann namens Rodrich in schloddrigem Tonfall. "Aber müsst Ihr deswegen Soldaten meiner Einheit b'leidigen?"
"Wie bitte?", fragte der Hauptbefehlshaber und richtete sich zu seiner ganzen, beeindruckenden Größe auf. Rodrich zog etwas Undefinierbares in seiner Nase nach oben und beförderte es dann in hohem Bogen auf das zertrampelte Gras.
"Na, Louise. 's kein Kerl, möcht' ich meinen. Hat zwar einige Köpfe wie einer zertrümmert, stimmt schon, setzt sich zum Pissen aber auf'n Boden, wie einer zum Scheißen. Wärs' 'n Kerl, würd' se steh'n bleim, oder lieg' ich falsch?"
Der Hauptbefehlshaber ignorierte den Klumpen grünen Etwas' auf dem Boden und verschränkte die Arme vor der Brust. "Erinnert Ihr Euch auch daran, dass ich gesagt habe, ich wolle keinen dieser Abnormalen bei der Hauptstreitmacht sehen?"
Rodrich zuckte mit den Schultern. "Nja, kla'."
Der Hauptbefehlshaber warf Rodrich einen abwertenden Blick zu. "Damit meinte ich nicht nur diese Kreaturen, gegen die wir kämpfen." Dann wandte er sich um und stolzierte hoch erhobenen Hauptes zu seiner Leibgarde, die in einigen Schritt Entfernung auf ihn wartete.
Der Soldat Rodrich wartete, bis sein Vorgesetzter außer Sichtweite war. Dann verließ er seine Vorstellung der Hab-Acht-Haltung, die bei neuen Offizieren in regelmäßigen Abständen Tobsuchtsanfälle hervorrief. Wie eigentlich so gut wie jede Handlung Rodrichs.
Jetzt allerdings wirkte der Mann mit den ungleich langen, ungewaschenen Haaren leicht verkrampft, was nicht ganz zu seiner kräftigen Statur und der momentanen Situation passen wollte. Er war auf dem Weg zurück zu seiner Spezialeinheit. Spezial daher, weil sie von allen übrigen Zügen, Soldaten und Völkern nur die "Andere Einheit" genannt wurde. Das traf es im Großen und Ganzen schon ziemlich gut.
Das vor Rodrich liegende Zeltlager der Einheit wurde von Fraad Dreiauge bewacht. Fraad war ein kleiner, schmächtiger Mann mit kohlrabenschwarzem Haar und kleinen, misstrauisch blickenden Augen. Dreiauge hatte seinen Namen allerdings nicht wegen der Anzahl seiner Gucklöcher bekommen, von denen er soviel hatte, wie jeder halbwegs normale Mensch, Elf und Zwerg - nämlich zwei. Vielmehr war seine Fähigkeit, Menschen an der kleinsten Gesichtsregung abzulesen, ob sie logen oder die Wahrheit sagten. Diese Fähigkeit hatte ihm schnell einen Posten als Berater des Königs eingebracht und vielen, vielen Diplomaten anderer Länder dafür schwere Schweißausbrüche.
Der Grund dafür, dass er nach nichtmal einem Jahr in der anderen Einheit gelandet war, verdankte er einem anderen Wesenszug von sich: Er wusste nicht, wann es Zeit zu Schweigen war.
Nicht gegenüber Königen und auch nicht gegenüber Rodrich.
"Rodrich!", rief er, als der in Sichtweite kam. "Hat der Stock mit einem Menschen drumherum wieder Louise verleugnet, oder warum hast du so'n Schiss?"
"Halt's Maul, Fraad, oder ich stanz' dir 'n viertes Auge in den Schädel! 'n rotes!", brüllte Rodrich zurück.
Tatsächlich konnte Rodrich nichts aus der Ruhe bringen. Außer der Kommandantin der Einheit. Louise.
"Ha! Der Schiss läuft dir grad aus der Nase raus", frotzelte Fraad, als Rodrich an ihm vorbeistapfte.
Ein dunkles Knurren und ein bedrohliches Augenfunkeln waren die Antwort, die Fraad schließlich doch verstummen ließ.
Rodrich betrat das Lager der Einheit in langsamen Tempo. Das Lager war, wie auch die Einheit, nicht sehr groß. Man zählte zehn Zelte und zehn Pferde. Außer Fraad Dreiauge und Rodrich wurden die Zelte außerdem bewohnt von Sickard dem Unauffälligen, Einbein-Reck, Will dem Letzten, Druud dem Fanatiker, Stigalt dem Gesprächigen, Stigart dem Schweigsamen und natürlich von Louis der Knochenfresserin, der einzigen Frau in der Einheit.
Jeder dieser Menschen wäre, oder ist, aufgrund seiner Andersartigkeit in einer regulären Armee schon rausgeschmissen, gelyncht oder als Kanonenfutter benutzt worden. Allerdings hatte ein Agent des Königs früh genug das Talent jedes Einzelnen dieser Menschen erkannt, und die "Andere Einheit" ins Leben gerufen.
Sie waren nicht viele, aber ein jeder war absoluter Spezialist in seinem Gebiet. Außer vielleicht Rodrich, der als Nachrichtenbote zum Oberkommando fungieren musste.
In dieser Funktion hatte er ebenfalls die Aufgabe, jeden Befehl zur Kommandantin zu bringen. Um sie zu finden, musste er nicht mehr machen, als dem größten Lärm im Lager nachzugehen. Nur in den allerseltensten Fällen war Louise in ihrem eigenen Zelt anzutreffen. Das hatte stets andere Gründe - den aktuellen würde Rodrich wohl gleich erfahren.
Texte: Alles meins.
Bildmaterialien: Thomas Schaal / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2012
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