Cover

David saß in der Bibliothek. Vor ihm stapelten sich Bücher. Hätte eine Person nur einen Augenblick angehalten und die Umschläge betrachtet, hätte sie erkannt, dass die Bücher nicht zu einem einheitlichen Thema passten. Die Blicke des schwarzhaarigen Jungen ruhten seit zehn Minuten auf der aufgeschlagenen Seite des Wälzers vor ihm. Seine Gedanken jedoch waren an einem vollkommen anderen Ort.
Er war hier, um seine Hausarbeit weiter zu schreiben, die in fünf Wochen fällig wäre. Jedenfalls redete er sich das ein. Die Arbeit war das einzige Seil, an das er sich noch klammern konnte, ohne vollkommen den Verstand zu verlieren. Gerade dieser Verstand wusste nicht, dass er sich anhaltend selbst zerstörte und David schaffte es nicht, ihm das klar zu machen. Er schaffte nicht, es sich selbst klar zu machen. Er schob die Schuld auf sein Unterbewusstsein, obwohl er es besser wusste. Besser wissen müsste.
Er sah doch nicht schlecht aus. Nun gut, vielleicht war seine Nase etwas zu kurz, sein Kinn ein bisschen zu spitz, seine Augenbrauen zu dicht. Aber war das ein Grund, nicht geliebt werden zu dürfen? Er wusste es nicht. Nicht mehr. Früher einmal hatte er eine Vorstellung besessen, hatte er Hoffnung besessen. Heute schon lange nicht mehr.
Er stützte seinen Kopf auf die Hände, studierte die Schrift in dem Buch vor ihm. Hatte jeder solche Probleme? David glaubte nicht daran. Die anderen waren immer so fröhlich, gut gelaunt und optimistisch. Die meisten hatten Freundinnen. Er hatte nur dieses Gefühl in seinem Magen. Jedes Mal, wenn er ein Mädchen sah, das ihm gefiel.
Ein Reißen der Begierde, das nur noch schlimmer wurde, wenn David die Freunde der hübschen Mädchen sah. Warum bekamen die so eine Schönheit ab, er aber nicht? Jeder musste doch sehen, was für grobe, eingebildete und dumme Klötze das waren! Jeder! Oder sah das nur er allein? Nein. Es musste an den Mädchen liegen. Sie waren blind für die guten Eigenschaften eines Menschen.
Wie oft hörte man in den Nachrichten, dass wieder eine Frau von ihrem Mann ermordet worden war? So etwas würde schlicht nicht passieren können, wenn Frauen nur ein bisschen Gefühl für das wirklich Gute im Menschen aufbringen würden.
David glaubte nicht, dass jede Frau so dumm und weltfremd wäre, nein, sicherlich gab es die ein oder andere, deren Wahl klüger ausfiel. Die Freundinnen seiner besten Freunde waren solche Exemplare. Allerdings besaßen sie bei weitem nicht Davids Intellekt, er wäre schlicht unterfordert mit ihnen. Aber ihre Wahl war gut, schließlich hatte er die gleiche getroffen. Auf rein freundschaftlicher Ebene natürlich.
Schwul war er nicht. Diesen erschreckenden Gedanken hatte er schon zu oft gehabt, als dass er ihn erneut durchspielen wollte. Dennoch wurde er ihn nicht los, er vergiftete sein Inneres wie Säure; brannte sich durch seine Eingeweide und hinterließ eine Spur zerfressener Gedärme und Gedanken. Er fühlte sich nicht zu Männern hingezogen, hatte es noch nie getan! Würde es niemals tun! Diese Schande würde er nicht über sich selbst bringen. Würde sie nicht ertragen können. Er war nicht anders!
Er versuchte sich auf das Buch vor ihm zu vertiefen, doch plötzlich sprangen ihm Worte ins Auge, die er vorher nicht gelesen hatte; die überhaupt nicht dort gewesen waren. Liebe, Herz, Mädchen, Gemeinsamkeit, sanft, Gefühle, Körper, Haare, Leidenschaft, Augen, Fingernägel, Sonne, Kind, Wiese, Luft. Jedes dieser Worte verband er sofort mit dem reißenden Gefühl in seinem Inneren. Jedes Wort mit der Vorstellung wehender Haare, weicher Brüste, sanfter Hände, wiegender Schritte und zügelloser körperlicher Liebe.
Er begehrte kein bestimmtes Mädchen. Verliebtheit kannte er nur aus seiner Zeit als Teenager. Sie hatte sich als trügerisch herausgestellt. Als falsch und zerstörend. Er verliebte sich nicht mehr ‚einfach so‘. Man musste ihm schon etwas bieten, um Zuneigung erfahren zu können. Natürlich fing das Feilschen immer mit der Optik an. Er sah nicht schlecht aus, warum sollte er sich also unter Wert verkaufen?
Gefiel ihm eine, signalisierte er das deutlich genug durch Blicke. Weiter kam er nie. Wie auch, wenn sein Interesse nicht erwidert wurde? Meistens schaute er sich dann nach einer neuen um, oder eine lief ihm über den Weg. Alte, uninteressierte Mädchen waren schnell vergessen. Was brachte es auch, sich an sie zu erinnern? David richtete sein Denken stets nach vorne.
Vor ihm lag das aufgeschlagene Buch mit den frivolen Wörtern, die auf ihn einstürmten. Sie ließen ihn nicht in Ruhe, er konnte weder seine Arbeit machen, wegen der er hier her gekommen war, noch war er in der Lage, auf andere Gedanken zu kommen. Er schlug das Buch zu. Der plötzliche Knall kam selbst für ihn unerwartet. Er stürzte ihn zurück in die Realität.
Blinzelnd blickte David auf. Langsam nahm er seine Umgebung wieder wahr. Er war noch immer in der Bibliothek. Natürlich war er das. Bücher standen überall um ihn herum. Verstaubte, alte und abgenutzte Bücher. Niemand las sie, weil ihr Wissen für die meisten Arbeiten zu speziell war. Sie verwelkten langsam, unbeachtet. Selbst wenn die Bibliothek nicht leer war, so wie jetzt, nahm sie niemand wahr.
Plötzlich schwebte eins der alten Bücher aus dem Regal. David starrte, blinzelte und schimpfte sich selbst einen Narren. Nein, selbstverständlich schwebte das Buch nicht. Jemand hatte es herausgenommen. Ein Mädchen in seinem Alter mit langen blonden Haaren, großen blauen Augen und einer etwas zu kleinen Nase kam einen Moment später um die Ecke des Bücherregals. Sie sah David und lächelte ihn kurz an. Sie hatte blendend weiße, gerade Zähne.
David stand auf. Plötzlich merkte er, wie sehr sein Hintern schmerzte. Er roch den bezaubernden Duft des Mädchens, nahm ihre Wärme war. Sein Rücken war während der letzten Stunden komplett steif geworden. Sie hatte wunderschöne, schlanke Beine in schwarzen Strümpfen. Die Themen der Bücher in ihren Händen passten nicht zu dem des alten Schmökers, den sie als letztes genommen hatte.
Davids Hände waren schweißnass, als er die Tür der Bibliothek hinter sich schloss. Er spürte ein unerträgliches Reißen in seinen Eingeweiden. Hätte eine Person nur einen Augenblick angehalten und das blonde, traurig blickende Mädchen in der Bibliothek gesehen, hätte sie erkannt, was dieses Reißen verursachte.

Impressum

Texte: Alles meins.
Bildmaterialien: Auch alles meins.
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte allen zögerlichen Menschen auf der Welt.

Nächste Seite
Seite 1 /