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„Wahrheit ist etwas Verzweifeltes“ – Tennessee Williams

Kapitel eins



Aurile richtete ihre Haare und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Während sie mit ihren langen, schlanken Beinen in das dunkelblaue, enge Kleid schlüpfte, lächelte sie dem Elfen namens Namor verschmitzt zu.
„Das war wohl nicht deine erste Nacht mit einem fremden Mädchen in einem fremden Bett, oder?“, fragte die Halbelfe.
Namor stützte sich auf die Ellenbogen und blickte Aurile mit funkelnden Augen an.
„Etwas ähnliches kann ich wohl von dir annehmen, eh?“
Anstelle einer Antwort klimperte die Halbelfe nur mit den Wimpern über den tiefen, violetten Augen. Sie zog das Kleid mit beiden Händen vor den Brüsten nach oben und wandte Namor den Rücken zu.
„Hilfst du mir, ja?“, fragte sie ihn mit süßer Stimme.
Namor lächelte, wühlte sich hastig aus den verschiedenen, verschwitzten Decken und stand auf. Betont langsam half er ihr, den Verschluss des Kleides zuzuknöpfen. Wie zufällig streifte sein Gesicht das feuchte, brünette Haar Auriles. Tief sog er den warmen, milden und aufregenden Geruch der Halbelfe in seine Brust.
„Fertig“, sagte er und löste sich von ihr.
Aurile drehte den Kopf und schaute Namor tief in die Augen.
„Und wann wollen wir uns wiedersehen?“, hauchte sie ihm fragend ins Gesicht.
Namor kniff die Lippen zusammen und ging etwas zurück.
„Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird“, sagte er, indem er die Hände vor der nackten Hüfte verknotete. „Es war sehr schön, so wie du, aber …“
„Aber was?“, fragte Aurile und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen blitzten. „Ich kenne ein Argument, dass für weitere Abenteuer spricht“, fuhr Sie fort und griff ihm ungeniert in den Schritt. „Ein … sehr großes Argument.“
Namor verfluchte die männliche Anatomie und kam ins Schwitzen. Er durfte nicht zurückweichen, musste stark bleiben. Fieberhaft suchte er nach einem gelungenen Ausweg. Er suchte einige Momente zu lang. Aurile verstärkte den Druck ihrer Hand. Sanft zwar, aber bestimmt. Namor stöhnte auf.
Die Halbelfe kam näher zu ihm heran und legte ihm die freie Hand an die Wange. Sie blickte ihm erneut tief in die Augen. Sie öffnete gerade ihre schmalen, roten Lippen, doch bevor sie etwas sagen konnte riss Namor sich mit einer unfassbaren Willensanstrengung los. Schmerzhaft prallte er mit den Schenkeln an den Bettrahmen.
„Nein! Nein, ich kann nicht. Entschuldige, Aurile, aber ich …“, begann Namor, prallte aber vor dem plötzlichen Ausdruck in den Augen der Halbelfe zurück. Zorn stand darin, und Hass, purer Hass. Doch so plötzlich, wie er erschienen war, verschwand er wieder. Tränen lösten ihn ab. Liefen über die weiße Wange Auriles, die reglos vor ihm stand.
„Ich …“, wollte Namor erklären, doch Aurile unterbrach ihn. Schluchzend, mit zitternden Lippen. „Nein, sag nichts. Geh. Geh einfach“, sagte sie und drehte sich um. Ihre Schultern bebten.
Namor blieb einige Momente ratlos im plötzlich kalten Raum stehen. Dann holte er wortlos Luft und ging. Aurile wartete, bis sich die Tür mit einem leisen Seufzen geschlossen hatte, dann drehte sie sich zum Fenster und blickte dem mit gesenktem Kopf wegtrottendem Namor hinterher. In ihren tiefen, violetten Augen funkelte kalter Hass.
„Du wirst deine Worte bereuen“, flüsterte sie. „Bald schon wirst du mich lieben, und dann wirst du deine Worte bereuen.“

Kapitel zwei



Trockenes Papier raschelte und alte Gelenke ächzten, als der Elf mit den schütteren schwarzen Haaren eine Seite des dicken, staubigen Wälzers umblätterte. Alles an dem Elfen sah alt und zerbrechlich aus, eingenommen seiner Gestalt. Er stand gebeugt über dem Folianten, beide Arme auf die Seiten des Ständers aufgestützt. Er wirkte seltsam gestaucht, als ob er seit unermesslichen Zeiten ein Gewicht tragen müsste, das ihn langsam aber sicher zu Boden drückte.
Eine Zeit lang war in der von flirrenden Partikeln durchsetzten Luft des kleinen Raumes nichts weiter zu hören als die langsamen und unregelmäßigen Atemzüge des Alten. Als der Archivar Dontios sich schließlich vom Ständer aufrichtete, knackte sein Rücken als würde er in hundert Stücke zerbrechen. Dontios verzog sein in vielen Falten liegendes Gesicht und drückte die Hand in das schmerzende Kreuz.
Er schlurfte zum einzigen Fenster des Raums, durch das einige Strahlen der Mittagssonne fielen und den spielenden Staubpartikeln eine schwebende Bühne schufen. Mit einem flachen, reißenden Seufzen blickte er nach draußen. In einigen Minuten würde der Unterricht mit den einzigen beiden Schülern beginnen, die er zurzeit hatte. Aurile, die Halbelfe und Namor. Dontios seufzte erneut. Tiefer dieses Mal, schürfend.
Aurile war, und das war die Wahrheit, ein Miststück. Die Halbelfe war manipulativ, gerissen und hinterhältig. Sicher war das auf ihre Vergangenheit zurückzuführen, doch Dontios wusste, dass der Großteil der Falschheit im Charakter des Mädchens festsaß. Sie hatte sich im überaus hübschen Körper der zierlichen Gestalt eingefressen und sich fest mit dem Herz verbunden. Wollte man die Verderbtheit aus Aurile holen, würde man unweigerlich etwas von ihrem Inneren mit hinaus reißen.
Die Falschheit war zum eigentlichen Wesen der Halbelfe geworden. Untrennbar vom hübschen Äußeren, wie es leider so oft der Fall war. Dontios hatte sich damit abgefunden, Aurile nicht retten zu können. Er musste also versuchen, andere vor ihr zu schützen.
Dem Alten entrang sich der nächste Seufzer. Namor war alles andere als aufnahmefähig, wenn es um die Wahrheit ging. Der Junge war im Grunde kein schlechter Mensch, pragmatisch und einfach gestrickt zwar, dabei aber grundsätzlich hilfsbereit und ehrlich.
Doch wo bei Aurile die Falschheit ein Bollwerk um ihre Gefühle aufgebaut hatte, war bei Namor ein luftleerer Raum, der sich mit allem füllte, was sich ihm anbot. Namor zog Lügen, Intrigen und falsche Versprechungen an und nahm sie auf, wie Ameisen es mit vergifteten Honig taten, ohne jemals zu verstehen, woran sie zugrunde gingen.
Dontios tat alles, was in seiner Macht stand, um diesen Platz mit Wahrheiten und nützlichem Wissen zu füllen. Doch allzu selten nur ist die Wahrheit angenehmer als Lügen, und seien sie noch so durchschaubar. Doch noch hatte Dontios den Kampf nicht aufgegeben. Heute stand eine weitere Schlacht bevor, der Archivar spürte das.
Ein Seufzen und Ächzen füllte die Stille, als Dontios sich vom Fenster abwandte und zur Tür schlich. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Das Holz hob sich aus der Umgebung hervor, machte auf sich aufmerksam. Doch die Klinke und die Angeln der Tür, obwohl niemals ausgetauscht, waren wie neu, unbenutzt.

Die Wortfetzen des plötzlich verstummten Gesprächs hingen in der Luft und verbreiteten eine seltsam anklagende Atmosphäre. Namor wich dem Blick seines Lehrers aus und schaute betreten zu Boden. Aurile wickelte eine Strähne ihres Haares um den Finger und grinste abartig, wobei sie Namor aus den Augenwinkeln anschaute. Dontios seufzte innerlich. Er verlor immer mehr an Boden.

Kapitel drei



„Namor bleib‘, ich will mir dir reden“, sagte Dontios leise. Namor zuckte beinahe unmerklich zusammen. Aurile warf ihre Haare zurück und schenkte Namor im Gehen ein Lächeln. Es war bezaubernd. Es kam von Herzen. Es war grauenhaft. Langsam, ruckartig, als ob es ihn schmerzen würde, löste sich Namor von ihrem Anblick.
„Ich muss mit dir reden, Namor“, wiederholte Dontios und näherte sich Namor bis auf Armlänge. „Hm“, machte Namor und blickte auf seine Hände.
„Du kennst doch die Vergangenheit der Halbelfe, die versucht, dich zu umgarnen, oder nicht?“, fragte Dontios.
Namor nickte. „Du nickst“, sagte Dontios etwas verärgert. „Aber ich glaube, du verstehst nicht, willst nicht verstehen!“ Er holte Luft. „Aurile hat den langsamen Verfall und schließlich den Tod ihres eigenen Vaters miterlebt, als sie noch viel zu klein gewesen war, um die Zusammenhänge richtig zu verstehen. Zusammenhänge, die übrigens auch von weisen Greisen noch schwierig zu durchblicken gewesen wären. Ihre Mutter hat mehrmals versucht, die ungeborene Frucht ihres Leibes zu töten, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, von einem Elfen geschwängert worden zu sein, mit dem sie doch nur Spaß haben wollte! Auriles Vater aber hat ihre menschliche Mutter aufrichtig geliebt. Er hätte ihr die Abtreibung wahrscheinlich sogar zugestanden, hätte er die ungeborene Aurile nicht noch mehr geliebt als die Mutter. Nach der Geburt verschwand Auriles Mutter fast augenblicklich, ohne sich auch nur einen Gedanken lang um das Kind zu kümmern.“
Dontios beobachtete Namor, der nach wie vor damit beschäftigt war, seine Finger zu betrachten. Er beschloss, deutlicher zu werden.
„Namor, Aurile ist eine falsche Schlange! Jedes zweite Wort, das aus ihrem schmallippigen Mund kommt, ist eine Lüge!“
Der junge Elf blickte auf. Er hatte seinen Mund zusammengekniffen und ein beunruhigendes Feuer brannte in seine Augen. „Aurile hat keine schmalen Lippen“, sagte er mit ruhiger Stimme.
Dontios stutzte. Hatte Namor ihm überhaupt richtig zugehört? „Aurile liebt dich nicht, Namor! Sie spielt nur mit dir! Sie wird dich benutzen und dich dann fallen lassen, wie verfaultes Obst!“
„Nein!“, schrie Namor und ballte die Hände zu Fäusten. Dontios erschrak über die Heftigkeit der Reaktion. „Nein!“, wiederholte Namor. „Ich habe Aurile verletzt, als ich … sie einfach so verlassen habe. Ich will das wieder gut machen! Ihr hättet sie sehen können, ihr versteht gar nichts! Gar nichts!“
Dontios geriet in Panik. „Namor! Namor, nein! Siehst du denn nicht, was Aurile für ein Spiel mit dir treibt!“ Auch Dontios wurde nun lauter. „Sie will es dir heimzahlen! Sie ist nicht traurig, ich weiß nicht einmal, ob sie zu Gefühlen wie diesen fähig ist!“
Namor wurde rot. Er schrie. „Haltet den Mund! Haltet den Mund, alter Mann!“ Einen Moment lang hatte es den Anschein, als ob der Junge seinem Lehrer an den Hals gehen wollte. Doch im Augenblick der höchsten Spannung, als man beide schon am Boden liegen sah, wandte er sich ab und lief davon.

Kapitel vier



„Was wollte der alte Mann von dir, Namor?“, fragte Aurile beiläufig.
„Ach“, antwortete Namor „Er hält dich für böse. Für falsch, hinterrücks und verzweifelt. Und er hat behauptet, du hättest schmale Lippen.“
Aurile zog die wunderschönen Augenbrauen sanft in die Höhe.
„Und was hast du gesagt?“, fragte sie.
„Dass du keine schmalen Lippen hast“, antwortete Namor verschmitzt lächelnd.
Die Spannung in Auriles Gesicht löste sich. Sie lachte leise.
„Wie recht du hast. Ich habe nun wirklich keine schmalen Lippen.“ Aurile schmiegte sich während des Gehens an Namor. „Und was war dann noch?“, säuselte sie ihm ins Ohr.
„Nun“, sagte Namor. Er zitterte ein wenig. „Nicht viel. Ich habe ihn stehen gelassen, ich brauche sein Geschwätz ja nicht.“
„Dann hat Dontios nichts gemacht, außer über meine Lippen zu schimpfen?“
„Ach, nichts, was der Rede wert war“, versuchte Namor auszuweichen.
Aurile gab ihm einen leichten Stoß. „Erzähl schon, ich will alles wissen!“
Namor konnte sich der Mischung aus ihrem Geruch, der aufgeflammten Liebe und ihrem sanften, aber bestimmten Drängen nicht verschließen.
„Er hat von deiner Familie erzählt …“, begann Namor. Doch Aurile unterbrach ihn sofort.
„Was hat er?!“Aurile rückte von Namor ab. Plötzlich fühlte sich der Elf, als ob man ihm ein Bein abgerissen hätte. Um ein Haar wäre er gestürzt.
Er versuchte unbewusst wieder näher zu der Halbelfe zu kommen, doch Aurile wich noch weiter zurück.
"Was hat er dir erzählt?", hakte sie nach. "Sag' es mir!"
"Nicht viel! Eigentlich gar nichts!" Namor schrie beinahe. Er sah, dass Aurile ihm nicht glaubte. Er sah, dass er kurz davor war, sie zu verlieren.
"Er hat mir von deinem Vater erzählt, davon, dass du mit angesehen hast, wie er starb, davon, dass du das niemals verkraftet hast. Er hat gesagt, dass deine Mutter dich nicht haben wollte und dass du die Zusammenhänge nicht durchschau ...", sprudelte es aus Namor heraus. Aurile unterbrach ihn mit einer plötzlichen Handbewegung.
"Genug!", zischte sie. "Ich hatte nie eine Mutter. Mein Vater ist irgendwann aufgrund einer nie entdeckten Krankheit gestorben."
"Aber -", setzte Namor an.
"Still!", unterbrach ihn Aurile erneut. "Ich hatte nie eine Mutter und mein Vater ist an einer Krankheit gestorben. Hast du das verstanden?" Aurile funkelte Namor an. Abwartend, still, gefährlich.
Namor biss sich auf die Lippen. "Natürlich", sagte er kleinlaut. "Du hattest nie eine Mutter und dein Vater war erkrankt."
"Genau so war es", sagte Aurile. Etwas von dem Funkeln verschwand aus ihren Augen. Etwas. "Dontios lügt, um uns auseinander zu bringen. Nein, frage nicht, warum er das tun sollte, glaube mir einfach. Tust du das?"
"Ja!", beeilte Namor sich zu versichern. "Ja! Natürlich, ich liebe dich, Aurile!"
Ein Lächeln erschien aus dem Nichts auf Auriles zartem Gesicht. "Das weiß ich doch, Namor, das weiß ich doch." Sie hakte sich bei ihm unter. Ein Großteil der Spannung wich aus dem Körper des Elfen. Nur ein kleiner Rest blieb im Hinterkopf Namors zurück. Zu klein, um beachtet werden zu müssen.

Dontios stand am Fenster im kleinen, staubigen Raum und schaute nach draußen. Er sah, wie Aurile und Namor sich unterhielten, wie Aurile plötzlich von Namor wich. Er seufzte. So ist es nicht richtig, Namor hätte sich von der Halbelfe entfernen müssen. So wird es nicht funktionieren. So kann es nicht funktionieren.
Dontios war nicht sehr überrascht, als sich Aurile dem Elfen wieder näherte und seinen Arm nahm. Dennoch seufzte er erneut. Der alte Elf verließ seinen Platz und verschwand im Halbdunkel des Raums.

Draußen war es Abend. Ein Sonnenstrahl kämpfte sich durch das dreckige Fenster, wurde tausendfach gebrochen und versickerte schnell in der staubflirrenden Luft des Zimmers.


Impressum

Texte: Der Text gehört mir, das Bild ist Eigentum von "yumedust" http://smogpaster.deviantart.com/favourites/#/d304n92
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle unglücklich Verliebten und die, die wenigstens das gerne wären.

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