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Ein Auftrag mit mehr Anspruch würde es diesmal werden, hatte er zu ihr gesagt. Ein Auftrag, in dem sie ganz aufgehen, in dem sie all ihr Wissen würde einsetzen müssen.
Ohne Zweifel hatte er Recht behalten. Larona nahm für gewöhnlich jeden Auftrag an, den sie von der Gilde erhielt. Beschwert hatte sie sich noch nie. Ihr Meister formulierte jedes einzelnes Wort durchaus deutlich. Nachfragen waren nicht gewünscht, und auch nicht nötig. Nicht so dieses Mal.
Erneut nahm die hochgewachsene, drahtige Frau den Brief in die Hand und entfaltete das Papier. Würde ein normaler Bürger Aygens diesen Zettel finden, er würde damit nichts anzufangen wissen; verschlungene Runen wechselten sich mit anscheinend sinnlos auf das Papier gesetzten Zahlen ab.
Es war die Geheimsprache der Gilde. Nur so konnte sichergestellt werden, dass niemand außer den beteiligten Personen das Ziel vor einem bestimmten Augenblick kannte. Dieser Augenblick bedeutete in neun von zehn Fällen den Tod des Ziels.
Auch in diesem Auftrag war von dem letzten aller Ziele die Rede. Doch weder die Art, noch die Tatsache des Tötens bereitete Larona Schwierigkeiten oder Kopfzerbrechen.
Es war das Ziel selbst. Es war ein Elf. Und dazu nicht irgendeiner, nein. Es war Eldanar, der regierende König des Elfenreiches im Norden.
Larona wischte sich eine Strähne ihres tiefschwarzen Haares aus dem Gesicht, und griff nach der flackernden Öllampe neben sich. Schatten breiteten sich in dem kargen Raum aus, als der eiserne Ständer der Lampe über den Holztisch gezogen wurde. Ein lautes Schaben zerstörte die bis dahin in dem Raum herrschende Stille.
Doch die Assassine schaute nicht einmal auf. Sie betrachtete das von dem spärlichen Licht nun stärker beleuchtete Stück Papier und fluchte. Nicht, dass der Tod des Regierenden schon genug wäre. Es wurde ihr auch noch ein Zeitlimit gesetzt. Ein Ultimatum.
Ihr Auftraggeber musste ein sehr reicher Mann oder eine sehr reiche Frau sein, wenn er solche Ansprüche stellen konnte. Die Dienste der Auftragsmörder waren ohnehin nicht günstig, und mit solch einer Forderung stiegen die Preise beinahe ins Grenzenlose.
Larona war sich sicher, warum ihr Meister gerade sie für diesen Auftrag ausgewählt hatte. Sie war die Beste. Sie übertrumpfte selbst die Männer aus ihrer Gilde mit Leichtigkeit. Und das sowohl in Geschicklichkeit und Waffenkunde als auch in der Kunst des verborgenen Handelns.
Der Stuhl schleifte knirschend über den Boden und zerriss die Stille ein zweites Mal. Mit einer schwungvollen Bewegung stand Larona auf. Den Brief knüllte sie zusammen und hielt ihn über die Flamme der Lampe.
Mit nachdenklichem Blick aus ihren schwarzen Augen verfolgte sie, wie die Flamme langsam an dem trockenen Papier entlangzüngelte. Sie würde diesem Auftrag nachgehen, bis entweder sie oder dieser Eldanar tot war. So verlangten es die Gesetze der Gilde, und so würde sie ihnen folgen.
Sie wischte die Asche, die zurückgeblieben war vom Tisch und prüfte ein letztes Mal ihre Waffen.
Sowohl ihr Langschwert, das sie auf dem Rücken trug, als auch die zwei Dolche unter ihrer schwarzen Lederrüstung waren auf Hochglanz poliert und scharf genug, um ein Haar längs durchtrennen zu können.
Zufrieden nickte sie, löschte das Licht und verließ den Raum.
Sicheren Schrittes betrat Larona den zehn Schritt langen und fünf Schritt breiten Nebenraum. Hinter einer Theke stand der Wachhabende dieser Niederlassung und nickte ihr kurz zu.
Sie nickte zurück und durchquerte den Raum, bis sie an der massiven Holztür anlangte. Lautlos glitt die Tür nach innen. Ein Schwall frischer Abendluft wehte ihr entgegen, als sie die Niederlassung der Gilde verließ.
Solche Geschäftsstellen waren in ganz Aygen verteilt, obwohl ihre Dichte in Tangard deutlich größer war als in den Elfenlanden. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass es tatsächlich Mitglieder in der Gilde gab, die sich gegen eine Versetzung in die Elfenlande sträubten und somit strenge und schmerzhafte Strafen auf sich nahmen. Meist waren die Niederlassungen als Gasthäuser getarnt, die so schmutzig und schäbig waren, dass nicht einmal der niederste Pöbel dort abstieg.
‚Und das, obwohl sie bis über die Sperrstunde hinaus offen haben‘, dachte sich Larona grinsend.
Mit einer raschen Bewegung zog sie sich die Kapuze so weit in das Gesicht, dass ihre Augen in dunklen Schatten lagen. Danach ging sie zu dem Baum, an dem sie ihr Pferd Nachtmähne festgezurrt hatte. Die Satteltaschen waren prall gefüllt mit dem Proviant, den sie auf ihrer weiten Reise in die Mitte des Elfenlandes sicherlich erneuern werden müsste.
Sie band den stolzen, schwarz schimmernden Hengst los und schwang sich in den Sattel. Ein letztes Mal blickte Larona zurück auf die unscheinbare Holzhütte der Gilde, bis sie dem Pferd leicht die Zügel gab. Es war nicht weit von diesem einsamen Stützpunkt bis zur nächsten Stadt, Deriem, der Hauptstadt des Mittleren Reiches von Tangard. Dorthin würde sie in dieser Nacht reiten, um dort tagsüber zu schlafen.
"Auf zu den Spitzohren, Nachtmähne", flüsterte sie dem Tier in das zuckende Ohr. Etwas nachdenklicher setzte sie hinzu: "Und hoffentlich auch wieder zurück."

Der Stadtvogt Deriems fluchte deftig, während er sich in die unbequemen Kleider quetschte, die man zu solch einer Gelegenheit anziehen musste. Aller Samt und Pelz der Welt nutzte nichts, wenn man hohen Besuch bekam, und sich in Kleider zwängen musste, die unter der eigenen Würde waren. Nur um Unterwürfigkeit zu demonstrieren.
„Verflucht seien alle Elfen!“, stöhnte Polder, als er die Kordel um seine Mitte kräftig anzog, um seinen ansehnlichen Bauch etwas weniger ansehnlich scheinen zu lassen.
„Genau genommen ist es eine Halbelfe, Herr“, sagte eine teils unterwürfige, doch größtenteils tadelnd klingende Stimme.
„Ach, halt den Mund, Horlt, und bring mir lieber meinen Mantel“, herrschte Polder den seltsam disproportioniert wirkenden Mann an, der hinter ihm erschienen war. Er war klein, hatte aber ungewöhnlich lange Arme und eine sehr hohe Stirn. Die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf wirkten aufwendig gepflegt.
Er machte einen wenig ergeben wirkenden Kratzfuß und holte einen riesigen Mantel aus braun-schwarzem Hasenfell aus einem Schrank, der die Hälfte des riesigen Zimmers einnahm. Als er ihn um die mächtigen Schulter des Stadtvogts legte, hellte sich der Gesichtsausdruck des dicken Mannes etwas auf.
„Wenigstens frieren muss ich nicht. Das ist wenigstens etwas, nicht wahr?“, fragte er.
„Natürlich, Herr“, antwortete Horlt. „Sicherlich wird die Botschafterin Verständnis für Eure gesundheitliche Beeinträchtigung haben.“
Der Stadtvogt sah seinen Diener mit einem undefinierbaren Blick an, dann drehte er sich um und marschierte zu einer hölzernen Kommode. Er begann etwas zu suchen. Es klirrte und klackte laut, als er sich durch den gesamten, innerhalb von Jahren angesammelten Schmuck wühlte.
Horlt verschränkte die Arme hinter dem schmächtigen Rücken und wartete auf das Ergebnis, das er doch schon kannte. Hinter dem Fleischberg, den der Stadtvogt darstellte, drangen immer wieder ziellose Laute und Worte hervor, wie „Ah“, „Hm-ja“ und „Nein, zu klunkrig“. Als er sich schließlich umdrehte, staunte Horlt ein wenig. Der Stadtvogt hatte sich für seine Verhältnisse und Angewohnheiten tatsächlich zurückgehalten. Nur jeder zweite Finger wurde von mehreren goldenen Ringen mit Diamanten, Rubinen, Saphiren oder Bergachaten verdeckt. Man konnte tatsächlich davon ausgehen, dass Polder die einzelnen Finger noch teilweise bewegen konnte. Etwas, das nicht selbstverständlich war.
Horlt hatte es ohnehin aufgegeben, sich darüber zu wundern, dass der Stadtvogt nicht aus seinen Erfahrungen lernte. Schon mehrmals hatte ihm ein Händedruck schwer zu schaffen gemacht. Das Ganze war von zwei gebrochenen Fingern gekrönt worden, als er dem letztjährigen Gewinner der Ringer-Meisterschaften gratuliert hatte.
Und doch hatte der Stadtvogt auch nach dieser schmerzhaften Erfahrung nicht darauf verzichtet, möglich viel Haut hinter edlem Metall zu verstecken. Nicht dass Horlt das bei Polders Aussehen verwunderte. Der Herrscher von Deriem hatte schwammige, gelbliche Haut, auf der man jede Pore einzeln erkennen konnte. Für gewöhnlich nutzte der Stadtvogt auch jede davon ausgiebig und oft. Obwohl er sich häufig über die Kälte beschwerte, wenn andere Menschen in leichten, ärmellosen Kleidern herumliefen, schwitzte der massige Mann beständig. Selbst jetzt, da sogar Horlt sich eine zweite Lage Unterwäsche angezogen hatte, überzog die Haut des Stadtvogts ein ölig glänzender Film frischen Schweißes.
Seine Haare waren davon natürlich nicht ausgenommen. Schwarz und fettig klebten sie an seinem Schädel und machten viel der hoheitlichen Kleidung zunichte. Polder war sich dessen offensichtlich bewusst, denn er setzte sich gerade eine aus feinstem Fell gearbeitete Kapuze auf, die auch seine Ohren bedeckte. Hierauf stellte er sich vor den hohen Silberspiegel, der den Prunk des Raumes ins Unermessliche erhöhte.
Polder hatte schon immer darauf bestanden, sich entgegen dem Kodex fast gänzlich selbst anzukleiden. Theoretisch wäre dies die Aufgabe seines Leibdieners, Horlt, gewesen. Dieses Privileg seiner Stellung vermisste Horlt jedoch ganz und gar nicht.
Skeptisch betrachtete sich der Vogt im Spiegel. Wie immer drehte er sich auch dieses Mal ins Profil, und wie jedes Mal verstand Horlt diese selbstverachtende Bewegung nicht. Die gesamten Ausmaße seines Bauches sprangen ihm geradezu aus dem Spiegel entgegen.
Als der Vogt seine Hände hob, um seinen Fingerschmuck zu begutachten, brachte er sie genau in das durch die mannshohen Fenster scheinende Sonnenlicht. Durch die doppelten Spiegelungen auf den Edelsteinen und im Spiegel brach eine Lichtkaskade los, die Horlt dazu brachte, die Augen mit den Händen abzuschirmen. Langsam wurde er ungeduldig.
„Herr, wir müssen gehen. Ich hoffe, Ihr seid zufrieden mit Eurem Aussehen?“, fragte Horlt mit einer Spur Ungeduld in der Stimme.
Polder drehte sich zu ihm um und beendete damit die grelle Helligkeit, die der von den riesigen Freudefeuern bei den Lichtfesten gleich kam. Er nickte zwar nur kurz, doch sein Dreifach-Kinn folgte der Bewegung und wiederholte sie der Schwerkraft folgend noch einige weitere Male. Horlt wünschte sich auf einmal, wieder geblendet zu sein und nichts sehen zu können. Er verkniff sich eine Bemerkung und wandte sich zur Tür.
„Dann folgt mir, Herr“, sagte er.

Die Szene von Deriems Marktplatz war atemberaubend wie immer. Mit dem prunkvollen Regierungsgebäude im Hintergrund versuchten sich dutzende Händler im Anpreisen ihrer Waren zu übertönen. Stände standen dermaßen dicht gedrängt nebeneinander, dass nicht einmal eine gierige Ratte einen Weg hindurch gefunden hätte. Die Luft war stickig und erfüllt von allerlei bekannten aber auch fremden Gerüchen. Einfache Düfte, wie die nach alternden Fäkalien, mischten sich mit exotischen Noten, wie sie zum Beispiel die stinkenden Kadaver toter Krehl-Gänse ausstießen. Die waren zwar eine Delikatesse in den östlicheren Ländern, in der bodenständigen, konservativen Mitte Tangards jedoch hielt man die gefleckten Vögel meist für ansteckenden Abfall, dem man nur mit großen Feuern beikommen konnte. Die Tatsache, dass sie auf dem Markt Deriems trotz kaum vorhandenem Absatz angeboten und am Ende des Tages meistens weg geschmissen wurden, sagte alles über die Lebensweise in der Hauptstadt der mittleren Reiche aus.
Nachdem sich zwei Wachen zu ihnen gesellt hatten, führte Horlt den Vogt über den Marktplatz. Die Soldaten bereiteten ihnen den Weg, wobei sie nicht gerade zimperlich vorgingen. Fast alle Proteste erstickten im Keim, als man Polder erkannte. Ein schmächtiger Handelsmann jedoch, der offensichtlich das erste Mal auf Deriems Markt war, wurde von den Wachen derart heftig zur Seite gestoßen, dass er kopfüber in eine Auslage überreifer Melonen fiel. Wutentbrannt warf er Polder, der samt Gefolge schon einige Meter weiter gegangen war, eine der matschigen Früchte an den Kopf. ‚Eigenartig‘, dachte sich Horlt einige Momente später. ‚Man kann das hellrote Fleisch der aufgeplatzten Melonen kaum vom dunkel-roten Blut des Kaufmanns unterscheiden‘. Stille begleitete sie den weiteren Weg durch die verängstigte Menge.
Schließlich kamen sie am Ende des Marktes zum Eingang des Platzes der Zusammenkunft, das Ziel der kleinen Gesellschaft. Horlt wusste, was sie hinter den mit glänzendem Eisen beschlagenen Toren erwarten würde. Ein fünfzig mal fünfzig Schritt großer, gepflasterter Fleck inmitten Deriems. Eingerahmt wurde der Platz von Mauern aus blütenweißem Marmor mit goldenen Zinnen. An jeder der vier Mauern stand eine eherne Statue, die jeweils eins der Mitglieder des Rates zeigte. Selbstverständlich war auch der Vogt mit einem materiellen Abbild vertreten. Er beherrschte mit einer Figur aus purem Gold die Mitte des Platzes. Gebieterisch, aber auf seltsame Weise auch wohlwollend, breitete sein Abbild die Arme aus, so dass es schien, als wolle er ganz Deriem an seinen respektablen Bauch drücken.
Als die Tore sich öffneten, stockte der Berater des Vogts und fiel vor Erstaunen fast über seine eigenen Füße. Er hörte die Soldaten hinter sich überrascht die Luft anhalten, und sogar der Vogt gab ein Grunzen der Überraschung von sich.
Inmitten des Platzes, direkt vor der goldenen Statue Polders, stand das Wesen, das sie zwar erwartet hatten, auf das sie, wie sich jetzt zeigte, aber nicht vorbereitet gewesen waren. Die schmale, kleine Frau stellte einen so krassen Gegensatz nicht nur zur Statue hinter sich, sondern zu ganz Deriem dar, dass man sich wundern musste, wie dieses Wesen hier eigentlich überleben konnte. Viel wahrscheinlicher schien es da doch, dass die zierliche Gestalt sofort in Flammen aufging, anstatt hier auf diesem pompösen Platz mit einer Selbstverständlichkeit zu stehen, die nicht einmal ein Fisch im Wasser aufbringen konnte.
Polder fasste sich, seiner unerschütterlichen Natur folgend, als erster wieder. Er räusperte sich und ging so ehrwürdig, wie er es schaffte, zu der zierlichen Gestalt. Er reichte ihr die fette, schmierige Hand.
„Willkommen in Deriem, der Hauptstadt der mittleren Reiche, Botschafterin“, sagte er in perfektem Elfisch.
Die Botschafterin gab ein kristallklares Lachen von sich, das einige Verwirrung in Horlt hervorrief. Man hörte in Deriem nicht oft Leute lachen. Wenn, dann lag ihm oft Grausamkeit zugrunde. Doch, es klang selbst in Gedanken einfach unfassbar, eine Grausamkeit war das, was Horlt momentan am letzten erwartete. Die bloße Anwesenheit der Gestalt dort vorne schien so etwas zu verhindern. Genau, wie starker, säubernder Regen ein großes Feuer schon im Keim erstickte.
„Ihr hättet meine Sprache nicht unbedingt lernen müssen, Meister Polder“, sagte die Botschafterin mit derselben kristallenen Stimme, in der sie auch gelacht hatte. „Noch weniger, bedenkt man, dass sie eigentlich nur meine halbe Muttersprache ist.“ Noch während sie das letzte Wort sprach, schob sie ihre kinnlangen, blonden Haare ein Stück beiseite und entblößte ihr linkes Ohr.
Horlt blinzelte zweimal, Polders Haltung versteifte sich etwas. Ihr Ohr war zwar schmal und lief etwas spitzer zu, als bei normalen Menschen, doch es war bei weitem kein spitzes Elfenohr.
„Oh“, stammelte Polder. „Wir wussten nicht, dass …“
„Ich eine Halbelfe bin?“, fiel ihm die Botschafterin schmunzelnd ins Wort.
Polder räusperte sich.
„Exakt“, antwortete er. Der Stadtvogt entzog der Botschafterin seine Hand und wischte sie, wenig höflich und noch weniger herrschaftlich, an seinen weiten Gewändern ab. Die Botschafterin beobachtete diese Geste, doch der einzige Ausdruck, den ihr zierliches Gesicht sehen ließ, war ein kaum wahrnehmbares Heben der schmalen und aufs wundervollste geschwungenen linken Augenbraue. Der Stadtvogt zog indes, als er die Reaktion der Frau bemerkte, die gesamte Stirn in Falten. Nur einen Moment später, als ihm die mögliche (und naheliegende) Fehlinterpretation seiner Handlung klar wurde, riss er abwehrend beide Hände nach oben.
„Meine Hände waren voller Schweiß. Ich hoffe nicht, dass Ihr dachtet, ich würde mir Euretwegen … - also, wegen Eurer Herkunft, die ganz ohne Zweifel so weit über der meinigen steht, dass ich sie nicht einmal erkennen könnte, wenn ich wollte, die Hände an meinem Gewand, das von so niederer Qualität ist, dass solch eine Tat es nur edler machen könnte, säubern“, beendete Polder die Wortkette.
Horlt blies den angehaltenen Atem aus. Sein Herr hatte es noch einmal geschafft, den Fauxpas zu umschiffen. Etwas holprig zwar, doch nichtsdestotrotz sicher.
Die Botschafterin hatte ihre schmalen, blassen Lippen zu einem Lächeln geformt.
„Mein Name lautet übrigens Aurile“, sagte sie, indem sie die Hände in Höhe ihres Schoßes faltete. Polder musterte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Misstrauen. Es schien so, als ob er nicht wusste, ob sie ihn verhöhnen wollte oder ob dieses so ungewohnte Lächeln eine diplomatische Maßnahme sein sollte.
„Stadtvogt Polder“, antwortete er vorsichtig.
Auriles Lächeln wurde eine Spur breiter. „Ja, ich weiß. Wollen wir?“, fragte sie und machte eine einladende und zugleich fragende Geste.

In leichten Trab verfallen glitt Nachtmähne durch die grünende Landschaft. Der Mond ergoss sein silbernes Licht auf die verlassenen Äcker und Weiden, die wie Schleier an Larona vorüberzogen, und gab der ganzen Szene etwas unwirkliches. Larona liebte diese Stimmung. Nur das leise Knirschen der Steine unter den Pferdehufen, gelegentliche Rufe von Eulen oder sonstigen nachtaktiven Vögeln. Ansonsten beherrschte eine wunderbare Stille die Umgebung um die Assassine. Eine Stille, die Larona bei ihren Aufträgen mit Freude begrüßte. Nachts waren die Menschen unachtsam. Sie fühlten sich in ihren Hütten, am warmen Herdfeuer und mit ihrer Familie um sich, geborgen und sicher. Ein Umstand, den die dunkelgewandete Frau nur allzu gern ausnutzte. Meistens merkte die Familie nichts von dem schleichenden Tod, der sich einem ihrer Mitglieder näherte, und auch das Feuer knisterte für gewöhnlich ohne Unterbrechung weiter. Nichts konnte ihr blutiges Handwerk unterbrechen. Am nächsten Tag gerufene Wachen kamen zu spät. Das einzige, was sie stets feststellen konnten, war der Tod der Opfer.
Larona war nicht so überheblich, ein Erkennungszeichen bei den Toten zu lassen, wie es einige Stümper aus der Gilde taten. So unscheinbar diese Geste auch ist, anhand ihr wurden die meisten unglücklichen Mörder gefasst. Das Schicksal, das einem Assassinen danach blüht, ist grausam. Schlimmste Folter, die im besten Fall zum Tod führt. Es gab jedoch schon oft genug in der Geschichte der Gilde Mitglieder, die gefasst wurden und mit gebrochenen Knochen und Willen in den Kerkern der Stadt verrotteten.
Larona würde so etwas nicht passieren. Vorsichtig fühlte sie mit der linken über die winzige Tasche an ihrer Brust. Eine Kapsel aus einer dünnen Metalllegierung befand sich darin. Jedesmal, wenn sie einen Auftrag anging, steckte sie sich diese in eine Wangentsche.
Würde sie gefasst werden, reichte ein Biss und der Tod trat innerhalb von Sekunden ein.
Gib dein Leben für die Sache, deine Seele für die Gilde! Sie würde das erste Gesetz der Satzung stets beachten. Aber gab es auch Mitglieder, denen ihr eigenes Leben mehr zählte, als das Gesetz der Gilde. Verräter an der Sache waren sie. Zu viele Fälle des Verrats an der Gilde waren schon bekannt. Zu viele Feiglinge, die sich in die Reihen der Assassinen geschlichen hatten, hatten den Königen und Königinnen ihr Geheimnis offenbart.
Jedoch hatte anhand der Dezentralität und der Verstreutheit der Mitglieder bisher kein einziger Herrscher Erfolg damit gehabt, den Verband zu sprengen.
Larona lächelte düster. Ihr selbst war es einst auferlegt gewesen, einen der größten Verräter als Auftrag anzunehmen. Er verriet die Gilde aus freien Stücken und aus reiner Geldgier. Es war ihr ein unbeschreibliches Vergnügen gewesen, ihm mit ihrem Dolch den Wanst aufzuschlitzen und in seinem eigenen Blut verrecken zu sehen.
In Gedanken versunken hatte die Frau nicht bemerkt, wie schnell die Zeit und der Weg an ihr vorbeigegangen waren. Als sie das nächste Mal den Kopf hob, befand sie sich in einem lichten Wald und konnte am Horizont bereits die sanften Umrisse Deriems ausmachen. Sie wollte Nachtmähne gerade in sanften Galopp verfallen lassen, als sie zu ihrer Rechten ein Knacken hörte. Sie kannte die Geräusche des Waldes, und dieses war keines, das ein Tier verursachte. Blitzschnell schwang sie sich vom Pferd und zog in der gleichen Bewegung ihr Schwert. Zischend glitt es aus der Scheide.
"Oh, ein wehrhaftes Mädchen, das macht die Sache nur spannender", erklang eine raue, düstere Stimme. Larona gab dem Hengst einen kurzen Klaps auf die Flanke; Nachtmähne trottete daraufhin gemütlich aus der Gefahrenzone. Er hatte ähnliche Situationen schon oft genug mitgemacht.
"Zeigt euch, Lumpenpack, damit ich euch häuten kann!", provozierte Larona die unbekannten Wegelagerer mit ihrer dunklen Stimme. Drei bewaffnete Gestalten schälten sich daraufhin aus der Dunkelheit des kleinen Wäldchens neben ihr.
"Tapfer, Kleines, tapfer. Wirf doch das Schwert weg, wir wollen nur ein bisschen Spass. Du nicht etwa auch?" Der Sprecher, ein Mann im mittleren Alter, fuhr sich mit der rauen Zunge über die aufgerissenen Lippen. Seine viel zu kleinen Augen blickten aus einem geschundenen Gesicht. Selbst in den fünf Schritt Entfernung, die er noch zu Larona hatte, konnte sie den bestialischen Gestank wahrnehmen, den er ausströmte.
"Oh, natürlich. Spass ist gut" Vermeintlich naiv senkte sie die Waffe. Der Sprecher und seine zwei Kumpanen, die seiner Hässlichkeit in nichts nachstanden, lachten rau und näherten sich mit triumphierenden Schritten.
Da griff Larona mit der Rechten über ihre linke Schulter und schnellte die Hand mit einer raschen Bewegung nach vorne. Gurgelnd brach der vorderste der Männer zusammen. Seine Hände hatte er um den Hals gekrampft.
Die Assassine gab den zwei anderen Halunken keine Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen, sondern setzte mit zwei großen Schritten über die Entfernung hinweg und bohrte dem zweiten der Männer das Schwert durch den Magen. Mit einem hässlichen Geräusch riss sie das Schwert nach oben. Blut spritzte aus der gerissenen Wunde und färbte Laronas Rüstung in ein metallisches Rot.
Mit irritiertem Blick fixierte der Wegelagerer Larona, bevor er ächzend zu Boden ging.
Obwohl sich der Tod des zweiten Mannes innerhalb von Augenblicken vollzog, hatte es der Überlebende geschafft, sein kurzes, schartiges Schwert zur Verteidigung nach oben zu reißen.
Es klirrte kurz, dann erfolgte ein dumpfer Aufschlag im Gras, als die Waffe des Räubers darin landete. Die Assassine hatte die Klinge am Hals des Gegners und ein diabolisches Grinsen aufgesetzt.
"Letzte Wünsche?", erkundigte sie sich mit amüsierter Stimme.
Der Mann schluckte und zitterte am ganzen Leib. Doch schließlich fand er seine Stimme wieder.
"J-ja. Ich habe einen Auftrag für dich. Du ... du bist doch eine der Schleichenden?"
Kein Auftrag darf abgelehnt werden. Bringe der Gilde Ehre, indem du jeden Auftraggeber respektierst. Das zweite Gesetz der Gilde kam Larona in den Sinn und bewahrte das Leben des Räubers.
"Sprich."
"Also bist du eine Schleichende?", fragte der Mann mit verängstigtem Blick. Als Larona nichts erwiderte, nur kurz nickte, fuhr er fort.
"Es gibt da so einen Säufer und Falschspieler. Der schuldet mir Geld. Und er -" "Gründe interessieren mich nicht. Nenn mir den Namen, gib mir das Geld und wir sehen uns nie wieder. Ebensowenig wie dein 'Freund' jemals wieder irgendjemanden sehen wird."
Der Mann schluckte erneut und nickte.
"Tandik. Tandik Rohhand", stammelte er. "Ein Zwerg?", wunderte sich die Assassine. Die kleinen Gräber hatten alle solche rohen Namen.
Der Mann nickte. "Dann brauche ich noch das Geld. Ein derart primitiver Auftrag kostet dich 200 Silberlinge", forderte die Frau.
"Er hat euer Geld dabei, ihr -" Er verstummte, als sich die Klinge des Schwertes etwas tiefer in seine Haut drückte. Ein kleines Rinnsal roten Blutes kroch über seine Kehle und tropfte auf seine Brust.
"Jetzt!" Der Mann nickte erschrocken und zerrte mit zitternden Händen einen kleinen Lederbeutel aus seiner Tasche.
"Da- das ist alles, was ich habe." Rasch entriss Larona ihm den Beutel, schlug dem Mann hart mit dem Knauf des Schwertes in den Nacken, so dass dieser bewusstlos zu Boden sank.
Sie warf den Beutel kurz in die Luft und fing ihn wieder auf. Es klimperte befriedigend.
"Das sollte reichen."
Ohne einen weiteren Blick auf ihr Werk zu verschwenden, steckte sie sich den Beutel ein, zog das Wurfmesser aus der Kehle des einen Räubers und lief zu Nachtmähne. Dieser wartete in zehn Schritt Entfernung und kaute ruhig an einigen Grashalmen.
Larona schwang sich in den Sattel.
"Wir haben noch eine kleine Zwischenaufgabe zu erledigen, mein vierbeiniger Freund. Hü! Aber vorher, zum Fluss."
Die Sonne schob sich gerade über die östlichen Berge, als Larona damit fertig war, ihre Kleidung vom Blut zu reinigen. Sie streifte einen Leinensack über ihr Schwert und band ihn an den Sattel.
Dann nahm sie den Hengst an den Zügeln und führte ihn auf das Stadttor zu.
‚Das wird ein leichter Auftrag werden, und eine kleine finanzielle Auffrischung ist auch nicht zu missachten‘, dachte sie sich noch, bevor sie in Sichtweite der Posten kam.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2011

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