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B e g e g n u n g

Da läuft er vorbei . . .

das Fahrrad, von dem man unter einem Wulst von Plastiktüten, Decken, Töpfen und sonstigem Hausrat nicht einmal erkennen kann, ob es sich tatsächlich um ein solches oder vielleicht auch um ein Moped handelt, ist wirklich nur noch zum schieben zu gebrauchen.

Sein fettiges Haar hängt ihm in langen lockigen Strähnen bis über die Schultern. Er trägt - obwohl es doch ein warmer Frühlingstag ist - einen dicken Pullover und darüber sogar noch eine Weste. Der Bart - graublond und struppig - ist fast ebenso lang wie seine Haare und doch erkenne ich dahinter ein sympathisches Gesicht - nicht älter als meines. Eine unbändige Neugier die Geschichte dieses Mannes zu erfahren überfällt mich. . .

Ich hatte einer Freundin versprochen, während ihrer Abwesenheit ihren Hund auszuführen. Der Weg, den ich mit ihm ging, führte durch blühende Kleingärten hinunter zum Fluss. Es war noch früh an diesem Morgen. In der Nacht hatte es geregnet und die Blüten trugen schwer unter der Last des gesammelten Wassers. Die schon recht warme Sonne brach sich - in sämtlichen Regenbogenfarben schillernd - in den dicken Regentropfen. Verzaubert blieb ich stehen und nahm dieses Wunder der Natur ganz bewusst und intensiv in mir auf.

Der Hund, den Weg besser kennend als ich, war mir vorausgeeilt und als ich ihm folgen wollte, wurde mein linker Arm urplötzlich von starker Hand umklammert und mein Blick traf auf blaue, blitzende Augen, die mich unter buschigen Brauen anstarrten. Jetzt sehe ich auch, dass der Mann sein Geschlecht entblößt hat. Starr vor Angst und Schreck wage ich nicht zu schreien oder auch nur mich zu bewegen.

Erinnerungen überfallen mich und doch ist in meinem Kopf eine solche Leere, dass ich glaube er müsse jeden Augenblick zerspringen wie ein platzender Luftballon.

... das Messer ... das Messer ... das Messer ...?
Erlebnisfetzen einer Kindheitserinnerung nehmen mich in ihren Besitz. Fast unfähig zu atmen, wage ich nach einer Ewigkeit auf seine 2. Hand zu schauen: Er hält noch immer sein erigiertes Glied - kein Messer.

Ich sehe wieder zu ihm auf und erkenne in ihm erst jetzt diesen Mann mit dem Fahrrad. „Warum tun Sie das?“ höre ich mich unwirklich und weit entfernt fragen und spüre gleichzeitig seinen erschrockenen Blick.

Verzweifelt suche ich nach einer Möglichkeit mich zu befreien, doch der Hund ist weit fort und schreien scheint mir angesichts der Tageszeit und der abgeschiedenen Lage des Geschehens auch keine Lösung zu sein.

„Ja warum nur, warum?“ bricht es plötzlich aus ihm heraus.

Erschrocken starre ich ihn an, doch mein Schweigen scheint ihn zu verunsichern.

„Es hat nie jemand wirklich interessiert, w a r u m ich etwas tue oder nicht tue, ich hatte immer zu funktionieren, musste immer für alle da sein und habe dann irgendwann entdeckt, dass ich d a m i t Aufmerksamkeit auf mich lenken kann - mehr wollte ich doch auch gar nicht.“

Er hatte inzwischen meinen Arm losgelassen. Ich wollte weglaufen, doch irgendetwas hielt mich magisch fest.

„Bitte, erzählen Sie es mir.“ bat ich leise.

Erstaunt sah er mich an. Seine eben noch so fordernden Augen waren weich und klar geworden. Mir schien, als blickte er durch mich hindurch, um irgendwo am Ende einer großen Leere - Halt zu finden. Wir setzten uns auf eine unfertige Gartenmauer, die da ebenso zufällig neben uns war wie all die anderen Zufälle in den letzten Jahren meines Lebens, an die ich nicht mehr glauben mochte.

Stockend und immer wieder große Pausen einlegend, begann er zu erzählen:

Von seiner Kindheit und davon, dass ihn doch eigentlich von Anfang an niemand haben wollte. Sein Vater, den er sehr liebte, habe ihn oft geschlagen und obwohl er fast ständig auf seine jüngeren Brüder aufpassen musste, steckte er auch noch die Prügel für sie ein, wenn sie mal wieder etwas angestellt hatten.

Trotz allem erlernte er einen guten Beruf, in dem er sich sogar eine eigene Firma aufbaute. Wurde liebevoller Ehemann und Vater zweier Kinder.

Doch immer wieder brach es aus ihm heraus. Dann ging er einfach los, mal mit mal ohne Messer, produzierte sich vor Frauen und genoss ihre Panik und das Gefühl, Macht zu haben - beachtet worden zu sein.

Jetzt wurde er merkwürdig still und erst nach einer langen Pause berichtete er weiter. Irgendwann habe er dann auch die eine oder andere Frau vergewaltigt, doch habe er immer geglaubt, dass eine Frau, die sich dabei nicht wehrt, auch einverstanden sei. Erst als er - mittlerweile im Gefängnis - eine Brieffreundin kennen lernte, sei im klar geworden, was er angerichtet habe, denn diese Freundin war in vielen Situationen, in denen er Täter war - selbst Opfer gewesen.

Verzweifelt habe er versucht, seine Schuld an ihr gut zu machen. Wie gern hätte er sie in den Arm genommen, getröstet und gehalten. Doch sie fürchtete sich vor ihm und als er eine Frau kennen lernte, die ihn so annahm wie er eben war, bemühte er sich, diese kleine Brieffreundin zu vergessen.

Mit Hilfe dieser anderen Frau und aufgrund guter Führung konnte er das Gefängnis schon bald verlassen, doch ging diese Beziehung leider relativ schnell wieder zu Bruch und er war wieder da, wo er heute ist . . .

Warum er denn nie wieder Kontakt zu dieser Brieffreundin aufgenommen habe, möchte ich wissen, doch er schweigt und als ich ihn ansehe, erkenne ich die Tränen in seinen Augen.

Der Hund ist plötzlich wieder da. Ich nehme ihn an die Leine und laufe - wie von Geisterhand gelenkt - nach Hause, gehe in mein Büro, entnehme dem Aktenschrank einen dicken Ordner mit Briefen und ohne die Kraft, sie noch einmal zu lesen sehe ich - durch glasige Augen - Seite für Seite im Aktenvernichter verschwinden . . .

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Tag der Veröffentlichung: 21.01.2009

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