Roman
Von Heinz-Jürgen Schönhals
Erscheinungsjahr: 2024
Alle Rechte vorbehalten
Heinz-Jürgen Schönhals
hschoenhals@yahoo.de
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Inhalt
Ralph Liebmann, von seiner Freundin Gudrun verlassen (die sich obendrein seinem besten Freund zuwendet), ist am Boden zerstört. Er bricht in Panik sein Studium der Germanistik und Philosophie ab und versucht an einer anderen Universität einen Neuanfang im Studium der Rechte. Bald kommen ihm Bedenken, ob er dem schwierigen Jura-Studium überhaupt gewachsen ist. Ralphs Mutter schlägt vor, ihr Sohn solle zwei Probesemester einlegen, um seine Eignung für das Rechtsstudium zu testen. So beginnt Ralph das Studium der Jurisprudenz in M. Dort freundet er sich mit dem Jura-Studenten Rico Weselka an. Ralph, der eigentlich zügig studieren müsste, denkt immer wieder mal gerne an die Zeit seines Studiums in F. zurück, als er noch Romane von Hermann Hesse las oder in Kunstausstellungen ging, wo ihm die Malerei eines Vincent van Gogh erklärt wurde. Hier machte er sich oft Gedanken, wie man das Wesen des Menschen definieren sollte. Was er aus den Erzählungen seines neuen Freundes Rico über dessen Onkel, des Rechtsprofessors Dr. Heiner Weselka, das heißt über dessen Welt- und Menschenbild erfuhr, hat ihn zutiefst erschreckt. Sind die Züge, die er bei dem Professor zu seiner Bestürzung entdeckte, bei den Menschen, das heißt in der Gesellschaft allgemein verbreitet?
Während der Geburtstagsfeier von Alfred (Fred) Arrasch, einem alten Freund von Rico, lernt Ralph Alfreds hübsche Cousine, die Anglistikstudentin Claudia van der Brink, kennen. Rico Weselka lässt immer öfter merkwürdig pathologische Züge erkennen. Ein Kommilitone hatte Ralph schon einmal vor der extremen Eifersucht Ricos gewarnt. Wie sich die Freundschaft Ralphs mit Rico weiter entwickelt und ob Ralph die Schwierigkeiten des Rechtsstudiums bewältigt, wird im zweiten Teil des Romans erzählt.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Der neue Freund
Kapitel 2: Professor Dr. Heiner Weselka und sein
Assistent Bellermann
Kapitel 3: Boxerphilosophie
Kapitel 4: Der Onkel des Freundes
Kapitel 5: Die Moral nicht in der Theorie, sondern
als praktisches Beispiel
Kapitel 6: Das Privatleben eines „gebeutelten“
Jurastudenten
Kapitel 7: Ein anstrengender Freund
Kapitel 8: Erste Unterredung mit Professor
Dr. Heiner Weselka
Kapitel 9: Eine Geburtstagsfeier
Kapitel 10: Die Anglistikstudentin
Kapitel 11: Ablenkungen
Kapitel 12: Boxkämpfe
Kapitel 13: Zweite Unterredung mit Professor
Dr. Heiner Weselka
Kapitel 14: Weitere verstörende Blicke auf den Boxfan
Kapitel 15: Eine Examensfeier
Kapitel 16: Ein Totschlagsprozess
Hauptpersonen:
Ralph Liebmann - Jurastudent, vormals Philologie-
student
Rico Weselka - Jurastudent, Ralphs Freund
Professor Dr. Heiner Weselka - Juraprofessor
Dr. Arndt Bellermann - Professor Weselkas Assistent
Theodor (Theo) Offel - Student
Alfred (Fred) Arrasch - alter Freund von Rico
Dr. Volker Arrasch - Staatssekretär, Vater von Fred
Konrad Arrasch - zweiter Sohn von Dr. Arrasch,
ein Pfadfinder
Professor Dr. Hölscher – Gratulationsredner
Dr. Burkhard Müller-Amberg - Rechtsanwalt
Claudia van der Brink - Cousine von Fred Arrasch
Ljudmila Tarasova - Freundin von Fred Arrasch
Miriam Hennighausen - Freundin von Rico Weselka
Außerdem: Gäste auf Fred Arraschs Geburtstags-
Party
(Meine Mutter tat noch ein Übriges: Sie schrieb einige Tage später sogar einen Brief an Rico, von dem sie mir allerdings nichts sagte)
Ich hatte ihn einige Zeit vor dem Staatsexamen kennen gelernt, den Boxfan, und wir waren ganz gute Freunde geworden, auf jeden Fall gute Kameraden. Er hieß Rico Weselka, studierte wie ich Jura, allerdings war er mir schon zwei Semester voraus. Ich hatte gerade mein juristisches Studium als Zweitstudium begonnen, das erste, der Germanistik und der Philosophie, hatte ich „sausen“ lassen, aus Gründen, die ich gleich erzählen werde. Rico war ein äußerst lebhafter, burschikoser, manchmal auch etwas anstrengender Mensch, was meiner damaligen Lebenssituation, die man nicht gerade als glücklich bezeichnen kann, sehr entgegenkam. Wir saßen längere Zeit nebeneinander in der Vorlesung Schuldrecht Eins und waren immer öfter ins Gespräch gekommen, bis sich allmählich eine solide Freundschaft zwischen uns entwickelte. Täglich kämpften wir fortan gemeinsam im Dschungel der Rechtsmaterie, schlugen, wenn nötig, kräftige Schneisen ins sperrige Paragraphendickicht, meistens zu zweit auf unseren Studentenbuden, manchmal auch jeder für sich alleine. ’Fälle lösen’ nannten wir dieses schwierige Geschäft. Aber wir waren trotz aller ’Büffelei’ noch in der Lage, innezuhalten und uns durch mancherlei Kurzweil zu zerstreuen und zu entspannen, vornehmlich abends. Auch an Sonntagen ließen wir BGB und STGB, Rechtsfälle und Gesetzeskommentare liegen, fuhren mit den Fahrrädern in die schöne Umgebung von M. oder wanderten in den nahe gelegenen hügeligen Wäldern, wo wir unsere vom nüchternen Juristengeschäft strapazierten Gedanken auf angenehmere, lieblichere Themen zu lenken versuchten.
Rico war entschlossen, das Staatsexamen am Ende des achten, spätestens im neunten Semester abzulegen. Er riet mir, gleich bei einem Repetitor anzuheuern, dann würden sich in meinen Arbeiten sogleich gute Ergebnisse einstellen. Er selbst sei schon von Anfang an bei einem guten Repetitor gewesen, und die Ergebnisse seiner Übungs-Testklausuren seien dementsprechend allesamt gut, zumindest zufriedenstellend. Doch im Gegensatz zu ihm wollte ich mir den Repetitor nicht leisten, aus Rücksicht auf meine Eltern, insbesondere meinen Vater, der schon die Zusatzkosten meines neubegonnenen Zweitstudiums zu tragen hatte. So schlug Rico vor, wir beide sollten eine private Arbeitsgemeinschaft bilden, ich könnte dann ja von seinen vom Repetitor herstammenden Kenntnissen profitieren. Natürlich war ich einverstanden. Ich versprach mir von Ricos Repetitor-Wissen einen kräftigen Schub für mein Jurastudium, vor allem versprach ich mir Erfolge bei den Klausuren und Hausarbeiten in den juristischen Übungen.
Ricos Freundschaft war für mich ein Glücksfall. Ich musste damals einen gewaltigen Liebeskummer verarbeiten, den ich meiner treulosen Freundin Gudrun Schäper verdankte; sie hatte sich einem anderen zugewandt, allerdings nicht irgendeinem anderen, sondern – meinem besten Freund Frank Brockhage. Dieses feindselige, schmutzige Betragen, das ich mir von zwei Menschen bieten lassen musste, die ich für meine Freunde hielt, warf mich zu Boden, ich versank in eine tiefe Depression. Rico nun brachte es nach einer Weile fertig, meine Gedanken, die immer wieder mal zu den äußerst schmerzlichen Vorkommnissen meiner gescheiterten Liebe und meiner zerrütteten Freundschaft zurückeilen und dort schwermütig verweilen wollten, anzuhalten und zur Umkehr zu zwingen. Das gelang ihm mit seiner burschikosen, witzigen, oft auch anstrengenden Art, durch die er mich auf Trab hielt und mein grübelndes, von Trauer und Herzweh umfangenes Wesen in lichtere Bahnen lenkte. Ich konnte darauf bald besser mit meiner Verzweiflung umgehen, da ich nur noch wenig Zeit fand, mich ständig diesem wahnsinnigen, liebeskummergesättigten Reflektieren hinzugeben. Nach einiger Zeit des Zusammenseins mit Rico spürte ich sogar, dass die unseligen Gestalten meines Liebesdramas zwar nicht aus meinem Gedächtnis verschwanden, jedoch allmählich zu Nebenfiguren schrumpften. Gewiss, sie waren weiterhin in einem abseitigen Winkel meines Bewusstseins geisterhaft präsent und konnten von dort immer noch ihre ätzenden Angriffe auf mein mühevoll hergestelltes seelisches Gleichgewicht starten, aber die Attacken dieser lauernden Kobolde wurden allmählich seltener und von Mal zu Mal schwächer, sodass meine Befindlichkeit bald keinen ernsten Schaden mehr nehmen konnte.
Ich hatte vor meinem Jurastudium vier Semester Philosophie und Germanistik in F. studiert, war dann aber, als das Unglück mit meiner Liebe und meiner Freundschaft sich ereignete, zur Jurisprudenz übergewechselt. Außerdem wechselte ich die Universität. Mein neues Studienfach wollte ich fortan in einer anderen Stadt studieren. F. erinnerte mich zu sehr an die früheren Zeiten. Meine Freundin hatte mich dort an den Wochenenden sehr oft besucht, öfter, als es meinem Arbeitseifer und meiner Konzentration auf die Erfordernisse des alten Studiums gut tat. Dennoch war es eine glückliche Zeit für mich gewesen, wenn Gudrun regemäßig am Samstag in F. auftauchte und mit mir zwei wunderschöne Tage verbrachte. Zu ihnen, den überaus freudevollen, hochgestimmten Stunden, wollte ich nun auch eine räumliche Distanz herstellen, fern von den Orten meiner ‘Mesalliancen‘“, wie mein Vater, Rechtsanwalt Dr. Liebmann, die über mich hereingebrochenen Schiffbrüche meiner privaten Beziehungen nannte. Er hatte mir zu dem Doppelwechsel dringend geraten, zumal - wie er sich außerdem noch ausdrückte - die Jurisprudenz einen entschieden stärkeren Bezug zur Realität habe als die Literaturwissenschaft mit all ihren empfindsamen Romanen, ihrer tränenreichen Lyrik und ihrer klassisch-romantischen Weltbetrachtung. Mit solchen Worten hatte mein Vater mich durchaus überzeugt.
Bestärkt in meiner Entscheidung, auf das rechtswissenschaftliche Studium umzusatteln, hatte mich der Besuch eines juristischen Kollegs, noch während meines germanistischen Studiums. Ich war einmal zufällig aus einer Laune heraus in die Vorlesung eines renommierten, unter Jurastudenten als besonders brillant geltenden Professors für bürgerliches Recht gegangen. Die geschliffene Klarheit und die Systematik seines Vortrages bedeuteten für mich, der ich nach meinem Liebesdesaster damals nach Haltepunkten, nach einer neuen Orientierung suchte, eine Wohltat und eine innere Besänftigung. Meine Gedanken, bisher fahrig in abseitigem, unsicherem Gelände umherirrend, wurden auf einmal in gerade, sinnvolle Bahnen gelenkt, die Dinge begannen sich wie von selbst zu ordnen und zu entwirren, als ob meine unstet durcheinanderlaufenden Lebensspuren, meine Lebensschlingpfade sozusagen, in eine breite, gangbare Straße einmündeten. Je öfter ich nun diese Vorlesungen besuchte und den klar strukturierten und eingängig systematisierten Ausführungen des Juraprofessors zuhörte, desto stärker empfand ich den Wandel in meiner Denkweise und meiner Einstellung zu den Dingen; ja, ich konnte kaum noch den Wunsch in mir zügeln, ebenfalls der Fakultät dieses Rechtsgelehrten anzugehören, der so geschliffen und leicht fasslich die Welt der Rechtsgeschäfte und der Rechtsbeziehungen seinen Zuhörern erklärte. Doch sollte ich wirklich auf das Jurastudium umsatteln und mich mit Lebensvorgängen befassen, die, aller sinnlichen Anschaulichkeit und glutvollen Lebendigkeit entkleidet, nur noch in der nüchternen Form der Rechtsfälle erscheinen, die außerdem im hochabstrakten Ausdruck juristischer Regelungen und ihrer oft schwerverständlichen Paragraphensprache umschrieben werden? Zwar hatten mich die verblüffend übersichtlichen und ohne weiteres verstehbaren Rechtserläuterungen des genannten Professors beeindruckt, oft fasziniert, daneben lernte ich aber auch zahlreiche juristischen Begriffe und Formulierungen kennen, die sich, weil allzu theoretisch-abstrakt, meinem mehr an bildhafter, anschaulicher Darstellung orientierten Fassungsvermögen leicht entzogen, vor allem irritierte mich das für Laien so schwer zugängliche, verwirrende Paragraphensammelsurium, welches zu entwirren und im Verlaufe eines gewiss nicht leichten Studiums einzuüben ich nun doch nicht ohne weiteres Lust verspürte.
Mein Vater - wie gesagt - begrüßte das Vorhaben seines Sohnes. Er, der Rechtsanwalt, hatte mir von Anfang an zum Jurastudium geraten, musste dann aber verärgert die in eine ganz andere Richtung zielende Entscheidung seines Sohnes zur Kenntnis nehmen, eine Entscheidung, die er respektiert hatte. Jetzt empfand er beinah unverhohlen Genugtuung, dass der Sohn sich nun doch entschlossen hatte, in seine, des Vaters, Fußstapfen zu treten, und er redete mir ohne Wenn und Aber zu. Meine Mutter indes betrachtete meinen Wunsch nach einem Neubeginn skeptischer, zumal sie sich - wie ja auch ich selbst - gewisse Sorgen machte, ob ihr Sohn für das juristische Studium überhaupt Talente besitze. Außerdem kannte sie meinen sensiblen Charakter. Dass mich das Unglück wegen des rücksichtslosen Verhaltens meiner Freundin Gudrun derart aus der Bahn geworfen hatte, musste ihre Sorgen um ihren Sohn erheblich steigern und sie brachte ihre Bedenken auch öfter zum Ausdruck.
Nun da sich inzwischen meine weiteren Obliegenheiten mit geradezu strenger Folgerichtigkeit auf das Studium der Rechtswissenschaften zubewegten, stellten sich auch bei mir zuweilen gewisse Existenzängste ein, mulmige Vorstellungen, dass ich, den für mich noch halbwegs sicheren Hafen des Germanistikstudiums hinter mir lassend, mein Lebensschiff alsbald in unsichere Gewässer steuerte, wo eventuell heftige Stürme tobten, sodass mein Schiff in verzweifelte Seenot geraten könnte, um am Ende sogar in die Tiefe eines Ozeans hinabgerissen zu werden. Später dann könnte eventuell das folgen, was mein Lieblingsdichter Eichendorff einmal so beschrieb: ‘Und wie er auftaucht‘ vom Schlunde, da war er müde und alt, sein Schifflein das lag im Grunde, so still war’s rings in die Runde, und über die Wasser weht‘s kalt.‘
Doch nur am Rande, kaum umrisshaft und gerade mal hingetupft, tauchten solche Vorstellungen bei mir auf. Da sie auch noch von dem einstigen Literaturliebhaber formuliert waren, von dem ich mich ja vehement verabschieden wollte, schob ich solche kurzlebigen Gemütszustände rasch beiseite.
In dieser Zeit des Umbruchs hatte ich einmal während eines Besuchs bei meinen Eltern in meinem Heimatort Waldstädten meinen neuen Freund mitgenommen; ich wollte, dass meine Eltern Rico Weselka, von dem ich ihnen schon einiges erzählt hatte, kennenlernten. Meiner Mutter war Rico auf Anhieb sympathisch, erst recht, als sie erfuhr, er habe schon zwei Semester Jura hinter sich und sei mit einem Professor für bürgerliches Recht und Prozessrecht an der Universität in M. verwandt. Der sei ein entfernt verwandter Onkel von ihm und heiße Dr. Heiner Weselka. Da mir Rico von diesem berühmten Verwandten bisher nichts erzählt hatte, tat ich nichts anderes, als meinen Freund erstaunt, um nicht zu sagen: verblüfft anzuschauen. Ansonsten hielt ich mich mit irgendeiner Äußerung, ich weiß nicht warum, zurück. Vielleicht hatte mir diese Neuigkeit die Sprache verschlagen. Meine Mutter indes sah in dieser Verwandtschaft meines Freundes eine Chance, die sie zu meinem Vorteil auszunutzen gedachte. Vermutlich sagte sie sich, wenn Rico mit einer derartigen Koryphäe verwandt ist, dann hat der Neffe garantiert auch von den juristischen Fähigkeiten der Koryphäe etwas abbekommen. So fragte sie den Neffen ganz spontan, ob er ihrem Sohn nicht dabei helfen könnte, sich schneller in die schwierige Materie der Jurisprudenz einzuarbeiten, zumal er, Rico, doch schon über einige Erfahrung in dem Jus-Studium verfüge. Mein Freund antwortete ebenfalls spontan, genau das habe er sich vorgenommen. Dabei verschwieg er allerdings unser bereits im Gange befindliches gemeinsames Repetitorium, sondern sprach nur allgemein von Tipps und Hilfsmaßnahmen, die er, der erfahrenere Studiosus der Jurisprudenz, mir gerne zukommen lassen werde. Meine Mutter war darüber äußerst glücklich, ja einmal während unserer Unterhaltung umfasste sie Rico sogar herzlich und sagte zu ihm, was sie gerade, einige Minuten vorher, schon einmal gesagte hatte: „Gell, sie werden doch Ralph ein bisschen unter die Arme greifen, dass er sich in dem juristischen Studium auch gut zurechtfindet!“ Rico antwortete wieder spontan und ohne lange zu überlegen: „Klar werde ich das, Frau Liebmann! Sie können sich darauf verlassen.“ Dabei verzog er das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln, denn dass ihm die Mutter des Freundes so unvermittelt körperlich nahe gekommen war, schien er offenbar nicht zu schätzen.
Meine Mutter tat noch ein Übriges: Sie schrieb einige Tage später sogar einen Brief an Rico, von dem sie mir allerdings nichts sagte, denn hätte ich davon irgendetwas gewusst, wäre ich mit aller Macht dagegen eingeschritten. Erst viel später erfuhr ich von diesem Brief, als Rico ihn mir eines Tages zeigte. Ich erinnerte mich nur, dass sich meine Mutter einmal nach Ricos Adresse erkundigte, was mir aber völlig unverdächtig vorkam. Der Brief, der von einem schnellen, geradezu überstürzten Vertrauen in einen ihr doch eigentlich fremden Menschen zeugte, lautete wie folgt:
„Lieber Herr Weselka, oder darf ich Sie Rico nennen?
Entschuldige bitte, dass ich mich in der Angelegenheit, die unseren Sohn Ralph betrifft, noch einmal persönlich mit einer Bitte an dich wende. Zunächst herzlichen Dank, dass du dem Ralph bei seinem Einstand als Student der Rechte behilflich sein willst. Es wäre außerdem ganz gut, wenn du Ralph auch noch in anderer Hinsicht zur Seite stehen könntest. Du kennst Ralph noch nicht richtig. Er ist, um es ganz offen auszusprechen, noch etwas naiv und weltfremd, er sieht in den Menschen in erster Linie das Gute. Diese Weltfremdheit hat wahrscheinlich auch seine Freundschaft mit Gudrun, seiner einstigen Freundin, beeinträchtigt. Vielleicht solltest du auch darauf achten, dass Ralph in erster Linie den Erfordernissen seines neuen Studiums gerecht wird und nicht schon wieder in allerlei Ablenkungen seine Kräfte verzettelt oder auch - was ihm in seiner jetzigen Situation überhaupt nicht bekommen wird - in eine neue Liebesaffäre hineinstolpert. Denn dass so eine Affäre für ihn sehr gefährlich werden kann, brauche ich eigentlich nicht besonders zu betonen.
Ich wäre dir sehr dankbar, lieber Rico, wenn du die Angelegenheit und vor allem diesen Brief vertraulich behandelst. Am besten verbrenne ihn gleich und sage bitte ja nichts davon zu Ralph.
Mit herzlichen Grüßen
Ingrid Liebmann
Schöne Aussichten! - dachte ich, nachdem wir nach dem Besuch bei meinen Eltern wieder nach M. zurückgefahren waren. Die inständige Bitte meiner Mutter an meinen Freund, wobei sie abermals von der in Aussicht genommenen zweisemestrigen Testphase sprach, war mir ziemlich peinlich vorgekommen. Und prompt zogen wieder die kürzlich aufgekommenen Vorstellungen von Scheitern, Misserfolg und Abtauchen in die Tiefe des Ozeans, diesmal konkreter durch mein Gemüt. Wenn ich nun aufgrund meiner denkbaren Misserfolge in den künftigen juristischen Klausuren und Hausarbeiten meine Nicht-Eignung feststellen müsste, wäre ich dann nicht gezwungen, schon wieder eine Total-Blamage in meiner frühen Lebensbilanz zu verbuchen, und müsste ich dann nicht zugleich - wieder gezwungenermaßen - alles tun, um mein neuerliches Desaster – koste es, was es wolle – zu kaschieren oder wenigstens zu verniedlichen? Bei der Sache mit Gudrun Schäper und Frank Brockhage war Letzteres nicht möglich gewesen, mein Mega-Reinfall in der Liebe hatte derart in voller Klarheit, das heißt: für alle aus meinem Bekanntenkreis klar einsehbar zu Tage gelegen, dass ich den festen Willen hatte, eine neuerliche Entzauberung meiner selbst mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden oder zumindest jedem Neugierigen den betrüblichen Anblick, dass ich meinen Lebenskarren schon wieder in einen Schlamassel gefahren hatte, zu ersparen.
Zu Hause, das heißt in meiner Studentenbude, angekommen, ging mein Blick wieder einmal zurück zu der Zeit, als meine Entscheidung, ein neues Studium zu beginnen, allmählich konkrete Umrisse annahm.
Ehe ich damals überstürzt, sozusagen aus einer Laune heraus, diese Entscheidung zum Wechsel des Studiums traf, beriet ich mich erst einmal mit meinen Eltern. Meine Mutter war damals sofort auf die Idee mit dem Probesemester gekommen. Ihr Schwager, inzwischen Rechtsanwalt, hätte ihr einmal gesagt, er wäre ganz und gar unsicher gewesen, ob die Jurisprudenz überhaupt das richtige Studium für ihn war. Also hätte er erst einmal ein Probesemester absolviert, dann noch ein zweites drangehängt, dabei hätten sich dann die Noten in den juristischen Klausuren und Hausarbeiten zunehmend verbessert, bis er dann – am Ende des zweiten Semesters - zu der sicheren Überzeugung gelangt sei, dass er mit der Wahl seines Jurastudiums durchaus richtig lag. Wäre er auch nach dem 2. Semester unsicher gewesen, hätte er umgesattelt, das heißt, er hätte ein anderes Studium begonnen. Diesen Vorschlag fand auch mein Vater ausgezeichnet.
„Du kannst es doch genauso machen“, sprach er zu mir, „solltest du am Ende des ersten oder zweiten Semesters das Gefühl haben, du bringst bei den Juristen kein Bein auf die Erde, dann kannst du ja immer noch zu deinem alten Studium zurückkehren und dann forciert dein Germanistik- und Philosophiestudium zu Ende bringen, so mit Anlauf und hopphopp, nicht?“
Und so geschah es auch. Ich beschloss, zuerst nur zwei Probesemester in der juristischen Fakultät zu studieren. Umgehend meldete ich mich von der Universität F*** ab, kündigte mein Zimmer in F. und fuhr anschließend nach M***, wo ich mich in der dortigen Universität bzw. in die juristische Fakultät immatrikulierte. Am selben Tag noch begab ich mich auf Zimmersuche, was gerade in der Großstadt M*** nicht einfach war, aber ich hatte Glück. Schon am nächsten Tag - ich übernachtete in einem Hotel - las ich am Mitteilungsbrett des Studentenwerks, dass ein Zimmer in einem äußeren Stadtteil von M*** frei geworden sei. Schnell fuhr ich zu dem Stadtteil hin, besichtigte das Zimmer und schloss umgehend den Untermietvertrag mit der Wirtin. Das Weitere war Routine. Ich fuhr wieder nach Hause, meine Mutter packte meine Sachen in einen großen Reisekoffer, ich meine speziellen Sachen, die ich für mein neues Studium brauchte, in eine Reisetasche, als da waren: mehrere Schreibblocks samt Schreibutensilien, ein allgemeines Lexikon und ein Lexikon der juristischen Begriffe, die ich neben zwei Gesetzestexten, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Strafgesetzbuch, in einer Buchhandlung gekauft hatte. Außerdem gab mir mein Vater noch einen alten Palandt mit, den Standardkommentar des BGB.
Den Abend vor der endgültigen Abreise nach M. verbrachte ich mit meinen Eltern im großen Wohnzimmer. Mein Vater hatte einen vortrefflichen Burgunderwein entkorkt, man prostete sich zu und hatte sich den ganzen Abend lang - wegen des ungewöhnlichen Vorhabens des Sohnes - manches zu erzählen, zu erörtern, zu diskutieren. Die Mutter ließ sich dem scheinbar frohgemuten Sohn gegenüber ihre Sorgen nicht mehr anmerken. Jetzt, am Abend, verbreiteten beide Eltern mir gegenüber nur Optimismus und den festen Glauben, dass mein Unternehmen in M. erfolgreich verlaufen werde.
„Im Leben läuft es nicht immer gerade, mein Junge“, sagte der Vater, nachdem er sich eine Zigarette angezündet und einen tiefen Schluck von dem Rotwein genommen hatte, „wenn ich an den Werdegang meines Bruders denke: der war mit Leib und Seele Verwaltungsjurist, hatte es einmal sogar zum stellvertretenden Oberbürgermeister in O. gebracht, damals war er noch parteilos, deshalb konnte er den Oberbürgermeisterjob nicht voll übernehmen. Er trat also in die Partei ein und wurde bald Landrat. Doch nach dem Krieg musste er den Eintritt in die Partei bitter bereuen; es kamen deswegen nur Schwierigkeiten auf ihn zu, denn vorbei war es mit dem Verwaltungsjuristen. Mehrmals hatte er sich beworben, doch alle seine Eingaben wurden abgeschmettert…“
„Du musst hinzufügen: obwohl er als Mitläufer eingestuft war“, warf meine Mutter ein.
Elmar kannte die Geschichten schon, doch sein Vater hatte das nicht zu bezwingende Bedürfnis, immer wieder auf die Missgeschicke seines Bruders zurückzukommen.
„Ja, ja, es half leider überhaupt nichts. Die Parteizugehörigkeit klebte ihm wie ein schwarzer Fleck an allen seinen Kleidungsstücken. Tja, was blieb ihm anderes übrig? Er musste wieder die Schulbank drücken, mit 49 Jahren! Und musste eine schwierige Prüfung ablegen, als Steuerberater. Die hat er dann geschafft. Kurze Zeit später wurde er auch als Rechtsanwalt zugelassen, und es hat einige Zeit gebraucht, bis er sich in der ihm eigentlich unvertrauten Materie zurechtfand. Was ich damit sagen will, Ralph: Im Leben wird nur den wenigsten der rote Teppich ausgerollt, die meisten müssen hart arbeiten und ohne Ende kämpfen. Das, Ralph, steht dir jetzt auch bevor. Nur eins darfst du nicht: aufgeben! Niemals darfst du, wenn du mal am Boden liegst, einfach liegen bleiben. Versprich‘ mir das: dass du immer wieder aufstehst und weiter ackerst, weiter schuftest!“
„Ja, ja, ich verspreche es!“
„Also“, schaltete sich die Mutter ein, „wollen wir doch nicht jetzt schon die Sturmglocke läuten und Ralphs Zukunft gleich derart dramatisieren!“ – Und sich ihrem Sohn zuwendend, fuhr sie fort: „Was ich dich noch fragen wollte, Ralph: haben sich eigentlich mal deine Freunde bei dir gemeldet?“
„Ja, einer; ich dachte schon, die hätten mich vergessen.
Und ich erzählte ihnen von der Begegnung mit meinem ehemaligen Pfadfinderfreund, der den Pfadfindernamen OKH trug. Der hatte mich einmal einen ganzen Nachmittag besucht und mir guten Mut zugesprochen.
Darauf sagte mein Vater in etwas aufbrausendem Tone: „Ab jetzt muss aber Schluss sein mit der Pfadfinderei, auch mit Nietzsche und der ganzen Philosophie! Vor allem mit deiner ach so geliebten Lyrik und romantischen Dichtkunst. Ab jetzt muss es bei dir nur noch heißen: mit scharfem Auge den Realitäten ins Auge blicken. Das Studium der Rechte wird dir dabei ganz sicher - davon bin ich überzeugt - das nötige Rüstzeug zur Verfügung stellen.“
Meine Mutter versuchte diese scharfen Töne des Vaters etwas zu mildern:
„Jetzt lasst uns doch bitte den letzten Abend etwas gemütlicher gestalten, nichts mehr von deinen Freunden, die eigentlich keine waren! Nichts mehr von den Realitäten des Lebens! Sondern lasst uns endlich einmal optimistisch in die Zukunft blicken!“
Sie erhob ihr Glas und sprach in beinah feierlichem Tone: „Auf dass dir in Zukunft bessere Freunde begegnen, Ralph! Darauf wollen wir trinken und vor allem auf eine erfolgreiche Zeit in M.!“
Auch mein Vater und ich erhoben das Glas, und wir tranken auf meine Zukunft.
Am nächsten Tag, früh morgens, hieß es Abschied nehmen. Meine Mutter umarmte mich, drückte mich ganz fest an sich, dabei konnte sie diesmal die Tränen nicht unterdrücken.
„Mach’s gut, mein lieber Junge!“, sagte sie, „wir wünschen dir alles, alles Gute!“
Auch mein Vater schien gerührt, wenngleich er seine Gefühle nicht so deutlich zeigte wie die Mutter. Er drückte mir nur die Hand, blickte mir fest in die Augen und schlug mir dann aufmunternd auf die Schulter.
„Alles Gute, mein Junge!“, sagte er, „ich wünsche dir ein gutes Gelingen und vor allem viel Erfolg!“
Beide hatten Recht mit ihrem gefühlvollen Abschiednehmen, ging ich doch als Gescheiterter einer ungewissen Zukunft, sozusagen einem zweiten Versuch entgegen, in dieser Welt Fuß zu fassen, einem eigentlich waghalsigen Unternehmen, denn es war ja nicht ausgemacht, dass ich für mein neues Studium und für den Beruf eines Juristen, sei es als künftiger Rechtsanwalt, Staatsanwalt oder Richter, auch die nötige Begabung mitbringen würde. Nicht nur meine Eltern, auch ich selbst verspürte nicht wenig Angst vor dieser Ungewissheit; zumal, falls ich noch einmal mein Ziel verfehlte - was hätte ich dann endgültig in Kauf zu nehmen? Die Blicke derer, die mich kannten, Blicke mit immer der gleichen Aussage: 'Habt Erbarmen mit dem Verlierer, dieser tragischen Null! Sie braucht dringend unseren Beistand!'
Doch mir schlotterten nicht vor Angst die Knie, ich sprach mir entschlossen guten Mut zu, wenngleich dieser Zuspruch, im Nachhinein betrachtet, eher dem Pfeifen im dunklen Walde glich.
Dann also fuhr ich, nochmals begleitet von den besten Wünschen der Eltern, zurück nach M*** und bezog dort erst einmal mein neues Zimmer. Nun also konnte ich ein neues Kapitel in meiner Universitätsausbildung aufschlagen. Ob es ein endgültiges und vor allem ein erfolgreiches sein würde, musste sich erst noch herausstellen - bis Ende des Semesters oder vielleicht auch bis Ende des zweiten Semesters. Aber ich wollte den Test auf jeden Fall bestehen; ein nochmaliges „Umsatteln“ - nein! Zwar wäre das auch keine Katastrophe, doch einen solchen Reinfall müsste ich dann vor meinen Bekannten - koste es, was es wolle - verheimlichen, schon um den erwähnten Blicken zu entgehen.
(„…dass man mit seinem Jus-Studium auf der falschen Schaluppe unterwegs ist, sozusagen in einem Einbaum auf hoher See, mitten im Stillen Ozean, nicht wahr, ha, ha, ha, ha!“)
Einen Tag später besuchte ich gleich eine Vorlesung mit dem Titel ’Schuldrecht Eins’, gehalten von einem Professor für bürgerliches Recht und Prozessrecht. Es war jener von Rico bereits genannte Dr. Heiner Weselka, übrigens ein äußerst befähigter Dozent, geradezu ein begnadeter Rhetoriker. Vor allem faszinierte mich der klare Vortrag Weselkas, die Art, wie er die Paragraphen des bürgerlichen Rechts nicht einfach unanschaulich und theoretisch erklärte, sondern sie auf praktische Rechtsfälle übertrug, von denen er eine Überfülle vor seiner Zuhörerschaft ausbreitete. Diese Fälle wurden den gebannt zuhörenden Studenten auch nicht in dürrer, langweiliger Rede, sozusagen als Schlafpille, dargeboten, sondern höchst einfallsreich und differenziert, beinah in kurzweiligem, unterhaltsamem Erzählton, sodass ich nicht anders konnte, als für diesen Professor, der obendrein noch sehr gut aussah, Sympathie, ja sogar eine gewisse Zuneigung zu empfinden.
Weselka war ein Mann in den mittleren Jahren, circa 45 Jahre alt und Junggeselle. Er war hochgewachsen, sah durch seine schlanke Gestalt und den völlig fehlenden Bauchansatz ziemlich drahtig aus. Seinen Kopf zierten, akkurat zur Seite gekämmt, volle dunkelblonde, leicht gewellte Haare, sein Gesicht war wohlgebildet, die einzelnen Gesichtszüge standen in einem angenehmen, harmonischen Verhältnis zueinander, was die Sympathie und das Wohlwollen, das ihm nicht nur von mir entgegengebracht wurde, erklärlich machte. Die Nase ragte leicht gebogen hervor, jedoch war hierdurch die harmonische Ganzheit des Gesichtes keineswegs gestört; auch nicht durch das feste Kinn, obwohl es etwas vorsprang und manchen vielleicht an einige Physionomien in der Habsburger Ahnengalerie erinnerte, jedoch verlieh es dem Mann ein energisches, beinah kühnes Aussehen. Das Auffälligste an dem Professor waren seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen. Herausfordernd, zupackend, angreifend blitzten sie unter markanten Augenbrauen die Reihen der Zuhörer an, vor allem dann, wenn Heiner Weselka, im Vollgefühl seiner akrobatischen Formulierungskunst, sturzbachartig Sätze von phänomenaler Präzision und Wucht ausstieß. Alles in allem konnte ich nicht umhin, den Mann und seinen ganzen Habitus, insbesondere das Antlitz mit den leuchtenden Augen, als schön zu empfinden.
Wieder hatte ich, gerade in den Vorlesungen Weselkas, zu meiner Genugtuung das Gefühl, ich bewegte mich bei den Juristen, sei es in der Anfängerübung oder in einem Kolloquium, auf Feldern, wo man sich ausschließlich mit den „Realien“ dieser Welt auseinandersetzte. Man fragte hier nicht lange nach den metaphysischen und philosophischen Ursprüngen der Phänomene, man fragte auch nicht lange nach den menschlichen und schicksalhaften Verwicklungen, die sich hinter den „Fällen“ verbargen, das heißt, man fragte überhaupt nicht nach einem derartigen psychologischen und philosophischen „Krimskrams“ - wie ein Assistent Professor Weselkas mit Namen Arndt Bellermann einmal in einer Übung, die er anstelle des Professors leitete, herablassend bemerkte - sondern man interessierte sich nur für das Formal-Juristische.
Dieser Assistent, ein kleiner Mann mit schütteren Haaren und näselnder Stimme, dazu einem teigigen, blassen Gesicht und wässrigen grauen Augen, hielt auch ein einführendes Kolloquium für Studienanfänger, ein sogenanntes Propädeutikum. Darin erläuterte er seinen Zuhörern einiges über den Aufbau des juristischen Studiums, über die Steigerung der Schwierigkeitsgrade vom kleinen BGB-Schein zum großen BGB-Schein, vom Anfänger-Strafrechtsschein zur Strafrechtsübung für Fortgeschrittene, in welcher der große Strafrechtsschein erworben werde. Auch von kleinen und großen Öffentlichen hörte ich einiges. Schließlich wurden die juristische Hausarbeit und die zwei Klausuren thematisiert, das heißt ihre Bedeutung für das Gesamtergebnis im kleinen und im großen BGB-Schein, dann teilte Bellermann noch mit, wann die erste Klausur geschrieben werde, wir alle hätten also in der Anfängerübung noch genügend Zeit, um uns vorzubereiten, wir müssten aber regelmäßig die Vorlesung ’Schuldrecht Eins’ besuchen und möglichst auch nachbereiten.
Zuletzt kam der kleine Assistent noch auf allgemeine Probleme des juristischen Studiums zu sprechen. Zu meinem Erstaunen hatte ich das Empfinden, Arndt Bellermann wollte die juristischen Anfänger, zumindest eine bestimmte Gruppe von ihnen, vor dem rechtswissenschaftlichen Studium warnen.
„Sie wissen es vielleicht schon, weil es Ihnen bereits einige, denen das Jurastudium…, sagen wir einmal: misslungen ist, gesagt haben: nicht jeder eignet sich für die Jurisprudenz. Ich habe da, als Zuhörer bei einer Staatsprüfung, Kandidaten erlebt, also, es ist..., wie soll ich sagen? – beinah würde ich sagen: eine Unverschämtheit! Wie können sich solche Vollhorste überhaupt so weit vorwagen! Die sitzen den Prüfern dann in der mündlichen Prüfung gegenüber und stümpern ihr Nichtwissen aus sich heraus, dass man nicht mehr weiß, wo man hingucken soll. Deshalb, meine Damen und Herren, glauben Sie mir, es ist wichtig, dass man vorher, bevor die Weichen gestellt werden, wissen Sie..., man muss so manchem Eleven mal früh auf den Zahn fühlen und ihm die richtigen Tipps geben, ich meine, nicht Tipps fürs richtige Lernen, sondern für eine Introspektion, eine Selbstcharakteristik. Diese Ratschläge können geradezu lebenswichtig sein für einen, der in der juristischen Fakultät fehl am Platze ist. Also..., wo war ich gleich stehen geblieben?“
„Bei der ersten BGB-Klausur, Herr Doktor“, half einer von hinten.
„Ah ja..., richtig! - Also, der Könner findet sich bereits in den ersten Klausuren einer Anfänger-Übung zurecht; es muss ja nicht gleich eine Eins sein, aber eine Drei sollte es mindestens sein, besser noch eine Drei plus. Der für das Juristische nicht so Geeignete dagegen - was schreibt er gleich? Eine Fünf oder eine Sechs, in der ersten Klausur schon!“
Bellermann sprach den letzten Satz mit erhobener Stimme, der man äußerstes Missvergnügen, ja Empörung anmerken konnte; dann fuhr er, wieder im ruhigen Tone, fort: „Ich meine, auch eine Vier minus ist schon ein bedenkliches Warnsignal. Spätestens wenn sich das in der zweiten oder dritten Klausur nicht ändert, sollte man dringend vom Weiterstudieren abraten. Man tut den Leuten ja wirklich keinen Gefallen, wenn man sie später ins offene Messer laufen lässt.“
Ich vermutete, die juristische Fakultät, die vor studierwilligen Eleven nur so überquoll, hatte sich entschlossen, auf den gewaltigen Zustrom von neuen Interessenten am Jurastudium mit solchen Hinweisen dämpfend einzuwirken. Die Dozenten sollten hier und da einige Warnungen vor dem Jurastudium einfließen lassen – hatte ich mal von einigen Kommilitonen gehört -, allerdings - wie ich glaubte - eher dezent, nicht so plump und direkt, wie es Dr. Arndt Bellermann tat.
Eine forsche Studentin aus der dritten Reihe rief: „Mir hat man aber gesagt, man soll mindestens 4 Semester durchhalten. Wenn man dann immer noch auf wackligen Füßen steht und über eine Vier minus nicht hinauskommt, könnte man immer noch das Handtuch werfen und in eine andere Fakultät umsatteln.“
„Ja, ja, ist schon ok“, näselte es vom Pult vorne her, „ ich will ja nicht jedem hier gleich … äh… Unvermögen im Fach Jura unterstellen. Ich wollte nur auf gewisse Risiken aufmerksam machen, die auf solche Leute zukommen, die von ihrem Begabungspotential her in einer anderen Fakultät viel besser aufgehoben wären, nicht wahr! 4 Semester Probezeit…, na ja, dürfte ein bisschen lang sein, finde ich. Ob jemand sich für das juristische Studium eignet, darüber kann man schon nach zwei Semestern ziemlich zuverlässige, begründete Aussagen machen. Dabei ist der Notenspiegel nach meiner Ansicht ein geeignetes Orientierungsmittel, um sich nicht mehr ein X für ein U vorzumachen, sondern sich zu der vielleicht schmerzlichen Wahrheit zu bekennen, dass man mit seinem Jus-Studium auf der falschen Schaluppe unterwegs ist, sozusagen in einem Einbaum auf hoher See, mitten im Stillen Ozean, nicht wahr, ha, ha, ha, ha!“
Den mageren Scherz quittierten nur einige wenige mit einem dünnen Lachen, während manche bestürzt und ängstlich dreinschauten.
„Besser ist es dann“, fuhr Bellermann mit seinem Einführungskurs fort, „na, Sie kennen ja die Allerweltssprüche: man macht einen Schnitt, ein Ende mit Schrecken ist besser, als einem Schrecken ohne Ende entgegenzutaumeln, der – das kann ich ihnen flüstern – nicht nur schmerzlich, sondern geradezu qualvoll, extrem verletzend sein wird. Deshalb also: seien Sie selbstkritisch und lassen Sie sich nicht von gefühlsdurchtränkten Vorstellungen über die angeblich sagenhaften Aussichten des Juristenberufes in die Irre führen!“
Diese Warnungen des Assistenten riefen auch bei mir helle Angst hervor. Dass ich eine zweisemestrige Probezeit eingeplant hatte, mochte mich fürs Erste beruhigen, doch das Gerede Dr. Bellermanns vom 'Einbaum mitten auf dem Stillen Ozean' oder von der 'Qual des Schreckens ohne Ende' ließen bei mir mulmige Gefühle aufkommen. Einem Schrecken ohne Ende - das hatte ich mir schon bei dem letzten Gespräch mit meinen Eltern geschworen - wollte ich mich jedenfalls nicht aussetzen.
Ich belegte schon am nächsten Tag neben der genannten Vorlesung im bürgerlichen Recht noch eine weitere, von Dr. Arndt Bellermann empfohlene Vorlesung im Sachenrecht, genannt: Sachenrecht eins, und in den folgenden Wochen tat ich alles, um mich in der spröden, oft von umständlichen Formulierungen durchsetzten Materie des Bürgerlichen Rechts zurechtzufinden. Dieses war allerdings oft derart sperrig und komplex, dass es mir, dem beflissenen Studiosus der Rechte Ralph Liebmann, selbst in einer Anfängerübung, alle meine Energie und einen überdurchschnittlichen Aufwand an Fleiß abverlangte, um die Paragraphensprache und die abstrakten Beschreibungen komplizierter Rechtsverhältnisse zu verstehen. Erst recht musste ich mich ins Geschirr legen, als ich in einer häuslichen Arbeit einen Rechtsfall zu bearbeiten hatte. Der zu Hilfe genommene Gesetzeskommentar und mehrere Handbücher des Bürgerlichen Rechts enthielten auch wieder sehr abstrakte, schwer eingängige Formulierungen, die alle meine Konzentration erforderten, um diese komplizierte Juristensprache zu verstehen. Manchmal wurde ich dabei wieder von Gefühlen bedrängt, die angesichts solchen Widerwillens gegen das Juristendeutsch den Wunsch nach Rückkehr zu meinem alten Studium wenn nicht formulierten, so doch leise und zaghaft anklingen ließen.
(„Aber das Umgekehrte ist der Fall: ich weide mich an dem Gemetzel, ich frohlocke insgeheim, dass hier einer brutal seine Stärke ausspielt.)
Doch zurück zu Rico Weselka. Mein neuer Freund ging gerne zu Boxveranstaltungen, denn er war dem Boxsport herzlich, um nicht zu sagen: leidenschaftlich zugetan. Es war damals noch die Zeit, da Wettkämpfe der Box-Amateure öfter als heute ausgetragen wurden. Auch ich, der ich mir eigentlich aus Boxen nichts machte, hatte als Freund von Rico nun öfter Gelegenheit, an den Kämpfen der Boxamateure von M. als Zuschauer teilzunehmen. Dabei konnte ich beobachten, wie mein Freund sich manchmal derart zu einer hingebungsvollen, geradezu wilden Anteilnahme hinreißen ließ, dass ich oft meinte, die Boxer kämpften nicht nur für den eigenen Sieg, sondern sie entschieden stellvertretend auch über das Wohl oder Wehe meines Freundes Rico Weselka.
„Weißt du, ich habe zum Boxen eine besondere philosophische Einstellung“, sagte er mir einmal, als wir gerade die Stadthalle von M. verließen, wo ein Boxkampf der Amateure von M gegen die von G. ausgetragen worden war, „Boxen, auch das Zuschauen bei den Kämpfen, hat für mich eine ganz besondere Bedeutung: Es wirkt auf mich, wie soll ich sagen? wie ein reinigendes Gewitter; als ob bei mir Schleusen geöffnet werden! Es ist diese Prügelei im Ring, die mich so aufputscht, dieses Reinhauen, dieses kannibalische Reindreschen...!“
Er duckte sich, bewegte ruckartig den Kopf und fuchtelte mit den Fäusten. „Klatsch!! Bumm! Wumm!!“ rief er dabei aus, „hinein in die Flanke! Ans Kinn! Klatsch, Wumm Volltreffer!! Und: Woummm!! Da liegt der Arsch...!“
Rico beendete abrupt seine Box-Pantomime, denn einige Passanten hatten sich zu ihm umgedreht und verdutzt nach ihm hingesehen. „Wenn ich mir das so ansehe“, fuhr er, etwas leiser sprechend, fort, „dann habe ich ein seltsames Empfinden, eine Art, wie soll ich sagen? Jagdfieber! Eigentlich müsste ich ja Mitleid haben mit dem Geschundenen, müsste ihm helfen wollen oder wenigstens empört sein über dieses wilde Aufeinanderdreschen, dieses viehische Dreinschlagen, dieses gnadenlose Zusammenschlagen eines Schwächeren: bruch ... wumm... bumm...!"
Erneut hieb er Schwinger kreuz und quer durch die Luft, als stünde ein imaginärer Gegner vor ihm, den er zusammenhauen müsste.
„Aber das Umgekehrte ist der Fall: ich weide mich an dem Gemetzel, ich frohlocke insgeheim, dass hier einer brutal seine Stärke ausspielt; ich fiebere mit ihm, wenn er klatsch, bumm! seine Schläge landet, wenn er Widerstände bricht!"
"Ich glaube", Ricos Ausdrucksweise normalisierte sich wieder, "ich glaube, das ist das Tierische in uns, das sich da so heftig regt; es schafft sich ein Ventil. Hinterher habe ich das Gefühl, als wäre da etwas aus mir herausgeschleudert, etwas, das meine Seele zusammengeschnürt hat. - Was hältst du davon, Ralph?", wandte er sich an mich, der ich ihm geduldig zugehört hatte; "wie findest du das?"
"Ich? – Nun....", ich war etwas irritiert über diese seltsame Philosophie, denn von der Seite hatte ich ihn noch gar nicht kennen gelernt; irritiert war ich vor allem über seine noch seltsamere Ausdrucksweise, "nun, ich meine, Rico, du bist ein kleiner Sadist; einer, der mal ganz gerne....die Sau herauslässt!"
"Ja, das ist es!", frohlockte er, "die Sau! Ich lasse sie 'raus, und sie lässt mich fortan in Ruhe, die Sau, für längere Zeit, denn sie ist ja draußen! Vorübergehend wenigstens!"
Ich gab ihm Folgendes zu bedenken: "Hör' mal, alter Junge, hast du noch nie gehört, man soll seinen inneren Schweinehund an die Kette legen? Ihn möglichst unterdrücken...?"
"Ja, ja, ich weiß..., man soll ein anständiger, braver Mensch werden, ein gebildeter Mensch! Und deshalb sollen wir dieses Ferkel in uns am Halsband festhalten - wolltest du doch sagen, ja? Und die anderen, will sagen: die meisten, wie verhalten sich die, he? Sind die auch so grundanständig, so gut erzogen? Nein, lautet die Antwort! Nein! Und noch einmal: nein!“
Er schlug, während er das im scharfen Tone sagte, dreimal hart auf das Geländer einer Brücke, die wir gerade überquerten. Als ich meinen Freund verständnislos anblickte, schienen Rico Zweifel zu kommen. Er überlegte kurz und fuhr dann fort:
„Jedenfalls..., wenn es um die ganz dicken Kartoffeln geht, mein Lieber, nach denen ja jeder seine Kralle ausstreckt, nicht...? Jeder, der aus seinem Leben ’was machen will, du wirst sehen: man vergisst alles, was einen die gute Erziehung gelehrt hat: Anstand, Rücksicht, Empathie. Wenn zum Beispiel in der Liebe die Leidenschaft aufflammt, sofort vergisst man, was einem bisher lieb und wert war: einen Freund, einen Kameraden. Nehmen wir an, du hast eine Freundin und einen Sauhund von Freund. Zwischen den beiden flammt plötzlich die Liebe auf. Würden die eine Sekunde zögern, sich in die Arme zu fallen? Nein! Die würden, wenn ihre… Leidenschaft am Glühen ist, dir sofort einen Schwinger nach dem anderen ans Kinn setzen, im übertragenen Sinne, meine ich, oder anders gesagt: die lassen ganz schnell ihren inneren Lumpazi von der Leine."
"Ihren was?"
"Äh..., ich meine: ihren...inneren Lumpazius! Ein vornehmes Wort für... das Lumpige in uns, das Schweinische; die Sau’, wie du vorhin sagtest!“
Ich erwiderte zunächst nichts, denn ich war vorübergehend verdattert, geradezu geplättet. Hatte der Kerl Röntgenaugen? Der Spruch von der Freundin und dem Sauhund von Freund – traf ja genau mein Liebesdesaster mit Gudrun Schäper und Frank Brockhage. Nachdem ich mehrere Male geschluckt hatte, musste ich mir noch folgendes anhören:
„Also, mein lieber, guter Ralph: wenn ich dich recht verstehe, forderst du, dass man seinen Lumpazi an der Kette festhält, ja? Dass man ihn um jeden Preis ruhig stellt, weil es sich so gehört, weil es einem das Anstandsgefühl so gebietet... Und das Ergebnis?“
Rico machte eine Bewegung, als ob er an etwas heftig zöge.
„Er fängt fürchterlich an zu ziehen und zu zerren, er jault dir seine Klagelieder in die Ohren, dass du noch ganz taub wirst! Nein, mein Lieber, so was kommt für mich nicht in Frage! Das Leben ist keine friedliche Aue, sondern eine verdammt trostlose Steppenlandschaft! Da sind harte Leute mit Überlebenswillen gefragt, Leute, die ihren Lumpazi auch mal freilassen und ihn nicht ständig lieb und brav an der Leine führen.“
Jetzt raffte ich mich zu einer Entgegnung auf:
„Mit anderen Worten, man soll sein ‘inneres Ferkel’ wie du zu sagen beliebtest...“ Ich schaute Rico, der mit Nachdruck nickte, ziemlich ungehalten in dessen grimmig verzogenes Gesicht, „... man soll es frei aus sich herauslassen!? Meinst du das?“
„Nicht so radikal“, erwiderte er, „und auch nicht jeden Tag! Aber von Zeit zu Zeit sollte man das wilde Tierchen schon mal aus dem Zwinger lassen, übungshalber! Einen Vorteil hat das auf jeden Fall: man kann danach wieder klar denken. Klar denken! Verstehst du? Was ja in unserer Situation, wenn wir mal kurz vor dem Examen stehen, unerhört wichtig ist! Natürlich muss man die kleine Bestie hinterher wieder einfangen.“
Als Rico so zu mir sprach, schaute er mich mit flackernden Augen an, und es kam mir vor, als hätte ich gerade in einen Abgrund geblickt. War da etwas in seiner Vergangenheit, mit dem er nicht fertig geworden ist und das ihm die Maßstäbe verdreht hatte? Man müsste ihm, überlegte ich, seine verrutschten Maßstäbe wieder auf die Reihe bringen. Aber wie? Bei seiner Rechthaberei?
Noch einige Male pries mir der Freund seine grobe Lebensphilosophie an, mit immer stärkeren Worten, während ich ständig dafür plädierte, doch lieber das ‚Lumpige’ in uns zu bändigen, anstatt es ungehemmt, wenn auch nur vorübergehend, herauszulassen.
Was es auch sonst noch heißt, mit einem Liebhaber des Boxsports befreundet zu sein, merkte ich nicht nur daran, dass ich wie noch nie in meinem Leben Boxveranstaltungen besuchte (oder richtiger: auf Wunsch Ricos zu besuchen hatte), ich bekam
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2024
ISBN: 978-3-7554-7845-4
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