Cover

Ulrike D. oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs

Roman (Neubearbeitung)

 

Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

Arolser Straße 21

31812 Bad Pyrmont

jschoenhals36@gmx.de

 

 

Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

 

Urheberrecht: Heinz-Jürgen Schönhals

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

 

 

Inhalt

Inhalt

Der verheiratete Elmar Redlich träumt ständig von einem Mädchen namens Ulrike Düsterwald, genannt Ulrike D. Das Merkwürdige ist, er hat Ulrike in seiner Jugend eigentlich nur flüchtig gekannt. Da außer Ulrike auch seine frühere Verlobte Julia in den Träumen auftaucht, glaubt er, ein Schuldkomplex, der sich auf das einstige Zerwürfnis zwischen Julia und ihm bezieht, sei die Ursache seiner Träumerei. Während einer Reise in seine alte Heimat erfährt er, seine frühere Verlobte weile zur gleichen Zeit dort. Eine erneute Begegnung mit der immer noch attraktiven Julia könnte das endgültige Aus für seine Ehe bedeuten, befürchtet er, zumal er das Gefühl hat, Julia wolle zu ihm zurückkehren.

Zunächst wandert er zu einem See, an dessen Ufer einst das Wochenendhaus seiner Eltern gestanden hat. Konfrontiert mit den Zeugnissen seiner Vergangenheit, denkt er über das Beziehungsgeflecht zwischen ihm, Ulrike D. und Julia nach. Sein Wunsch, von seinen Alpträumen befreit zu werden, ist immens. Da er glaubt, man könnte frühere traumatische Erlebnisse durch gezieltes Erinnern verarbeiten, taucht er in seine Vergangenheit ein und aktiviert seine Erinnerungen an Erlebnisse, die für ihn traumatisch verlaufen waren. Zunächst denkt er an sein einstiges Engagement bei einer christlichen Pfadfinderschaft. Alle seine künftigen Konflikte, meint er, hingen auch mit seiner Mitgliedschaft in der Pfadfindersippe zusammen. Hier wurde sein Charakter früh geprägt. Vor allem sein Denken in den Kategorien Schuld und Vergeltung führt er auf sein pfadfinderisches Engagement zurück. Er meint, dass eine Vergeltungsinstanz alles schuldhafte Verhalten auf Erden rächt. So untersucht er verschiedene Ereigniskomplexe, die diese Auffassung zu bestätigen scheinen. Zuerst sein eigenes Unglück, das seit der Trennung von Julia sich immer katastrophaler aufgeladen hatte. Auch andere Ereignisse, wo zwischen Schuld und Schicksal eine enge Korrelation zu bestehen scheint, z.B. das Verhalten seines Cousins im Krieg oder das (angeblich schuldhafte) Verhalten eines Onkels seines Freundes gegenüber seiner treulosen Frau, untersucht Elmar akribisch. Als er mit Julia Lambertz eine Beziehung begann, blieb er studienhalber oft lange in der Universitätsstadt  M. Seine lange Trennung von Julia und einige Ereignisse in M. hat er dann später auch in seine Vorstellung von Schuld und Schicksal eingebracht.

Nachdem er genügend angebliche oder wirkliche traumatische Erlebnisse durchdacht hatte, meint er, er müsste seine Alpträume jetzt doch wohl zum Schweigen gebracht haben. Als er am Ende zusammen mit Julias Mutter auf die Ankunft von Julia in Waldstädten wartet, denkt er zugleich daran, dass in Bezug auf Julia und ihm etwas Neues ins Leben treten könnte.

 

 

(Wichtige) Personen

Elmar Redlich - Protagonist, Gymnasiallehrer

Lisi Redlich - seine Frau

Professor Eberhard Wengenroth-

Hausenstein - Psychologe

Holger Retzlaff - ehemaliger Klassen-

kamerad von Elmar, Kunstlehrer

Joachim Schaller- Jugendfreund von Elmar

Julia Lambertz- Jugendfreundin von Elmar

Gottfried Laubenthal - Oberförster

Alexander Höhne - Joachim Schallers zweiter

Onkel

Frau Adele Lambertz - Julias Mutter

Hermann Beyer- Elmars Cousin

Ulrike D(üsterwald) - Joachim Schallers

Freundin

Außerdem Nebenfiguren wie: Verwandte von

Elmar, Pfadfinderführer, Kommilitonen / innen, Schüler

und Lehrer, ein Pfarrer, Gäste auf einer Party u.a.

Inhaltsverzeichnis

Alpträume, Schuldgefühle, psycholo-

gische Konsultation

Elmar Redlichs Lebenssituation

Eine Reise in die alte Heimat (mit der Aussicht,

die Jugendfreundin wiederzutreffen)

Beim Vetter Klaus (wieder im Banne Julias)

Besuch bei einem alten Klassenkameraden

Aufgebrochenen Empfindungen

Wanderung zum Runenweiher

Wieder in der Jugend (Suche nach den Ursachen

der quälenden Alpträume)

Die Sternbaldpfadfinder (übergroße moralische

Empfindsamkeit?)

Begeisternde Erzählungen

Heile Welt, Abenteuer I

Eine sich ankündigende Gegenwelt: die Realität

Die edlen Taten Joachims und Elmars und

das Lob des Erstführers

Die Warnung des ehemaligen Pfadfinders (vor überzo-

genem Christenglauben)

Heile Welt, Abenteuer II

Der brutale Erdkundelehrer (ein Repräsentant des

realen Lebens)

Abschied von den Pfadfindern

Der Zeitgeist der Fünfziger Jahre

Julia (und ein Tanzfest)

Die gelbe Wildtulpe

a) Das glückliche Leben des Oberförsters

b) Das qualvolle Dasein des „Nazi-Onkels“

In den Fängen des Liebesgottes

Die Kriegserzählungen des Cousins:

a) Ausbruch aus dem Tscherkassy-Kessel

b) Gespräch über das Schicksal

c) Das Motiv der schuldlosen Schuld

Und wieder Julia:

Die Freundin

Auf der Universität in M.

a) Arbeitsgemeinschaft mit zwei Studentinnen

b) Der Studienfreund Rudi Kaup

Das Misstrauen (in Bezug auf Julia)

Eine Party bei dem Jugendfreund

Gerüchte und unheimliche Orte

Ein Ende

Im Labyrinth der Schuldvorwürfe

Die Eumeniden ziehn …

Wieder in der Gegenwart

Der fortwirkende Bann der Vergangenheit

Das göttliche Licht

Noch einmal Julia Lambertz

Die Liebe der Ulrike D.

Alpträume, Schuldgefühle und psychologische Konsultation

Nah ist

Und schwer zu fassen der Gott.

Wo aber Gefahr ist, wächst

Das Rettende auch.

(Hölderlin)

 

Alpträume, Schuldgefühle und psychologische Konsultation

Manchmal werden wir von Träumen behelligt, die uns seltsam abergläubisch berühren. Sie kommen uns wie Projektionen aus der dunklen Zukunft vor, als ob jemand das Buch unseres Lebens aufblättert und die noch unbekannten, längst schon beschriebenen Seiten unserem träumenden Ich entgegenhält. Andere solcher lästigen Träume wiederum lassen fatale Ereignisse unserer Vergangenheit vor unserem träumenden Auge erscheinen, nicht selten in lebhaften, scharf gezeichneten Bildern, und falls es öfter geschieht, spekulieren wir, ob nicht  unbewältigte Konflikte, die sich als Störquelle dauerhaft festgesetzt haben, in unserer Seele rumoren und fortwährend Signale aussenden, in Form von wiederkehrenden Träumen?

Von diesen Letzteren wurde Elmar Redlich seit einiger Zeit in Unruhe versetzt, und zwar umso stärker, je mehr sich diese Träume auf unheimliche Weise ähnelten. Wiederholt träumte er, er forsche nach der Adresse seiner früheren Verlobten Julia Lambertz. Irgendwo im Norden, bei Hamburg, soll sich ihre Lebensspur verlieren, hatte er herausgefunden, im Traum. Dabei wusste er genau, wo Julia heute wohnt: in einer Stadt in Bayern, und sie ist dort verheiratet und hat eine Tochter mit Namen Jana. Manchmal erschien Julia auch selbst in diesen Träumen, aber mit eigenartig verändertem Aussehen: Zuerst glaubte er immer, er träume von seiner Verlobten, doch plötzlich glichen ihre Züge einer ganz anderen Person, die er aus früheren Zeiten ebenfalls kannte, allerdings nur flüchtig, denn nur hin und wieder war sie am Rande seines jugendlichen Bekanntenkreises aufgetaucht. Sie hieß Ulrike Düsterwald. Meistens wurde sie Ulrike D. genannt, wegen des langen und düsteren Nachnamens.

Noch eine andere Variante gab es bei dieser Träumerei, seltener allerdings, bisher eigentlich nur zwei- oder dreimal: Die Person, die ihm im Traum erschien, war dann nicht Julia oder Ulrike, sondern ein junger Mann. Elmar glaubte, das könnte sein einstiger Jugendfreund sein, doch sicher war er sich nicht. Der junge Mann wie auch Ulrike warfen Elmars träumendem Ich zuweilen kalte, drohende Blicke zu, und sofort wachte er danach immer auf, tief erschrocken, ja durch den kalten Strahl dieser Augen geradezu erschauert.

Da er immer wieder in dieser alptraumhaften Weise träumte und stets von den gleichen unnützen Grübeleien hinterher belästigt wurde, überlegte er, ob er nicht einen Psychologen oder Therapeuten zu Rate ziehen sollte, der ihm diese Träumerei erklärte und möglichst davon befreite. Doch dass da jemand in seiner Vergangenheit emsig herumspäht und ihn nicht nur über allerlei Vorkommnisse seiner Jugend und frühen Mannesjahre ausfragt, sondern außerdem noch forschend bis ins Innerste seiner Seele vordringt – mit dieser Aussicht konnte er sich zunächst nur schwer anfreunden.

Schließlich aber überwand er seine Vorbehalte gegen die neugierige Befragung durch einen Psychologen und ließ sich vom Sekretariat eines Professors für Psychologische Psychotherapie an der Universitäts-Nervenklinik in M., Dr. Eberhard Wengenroth-Hausenstein, einen Termin geben. Er sollte, teilte man ihm mit, einige Tage später in die Privatpraxis des Psychologen kommen, die sich ebenfalls in der genannten Klinik befand, und sich dem Professor vorstellen.

An dem besagten Tage erschien er pünktlich im Wartezimmer des Therapeuten und wurde schon nach kurzer Zeit von einer Assistentin des Professors in dessen Behandlungszimmer gebeten.

„Bitte, Herr Redlich!“ hatte die junge Frau ihn vorher namentlich aufgerufen und ihn mit einer flüchtigen Handbewegung in das Arbeitszimmer des Psychologen gewiesen. Dieses war an sich ein ganz normaler Wohnraum, ließ nur durch eine weiße Behandlungsliege an der linken Wand und einigen Plakaten mit seltsamen Abbildungen menschlicher Extremitäten – zum Beispiel zwei gespreizten Händen und zwei schräg gegeneinander gestellten Füßen – erkennen, dass man sich in dem Arbeitszimmer eines Psychologen befand. Im Hintergrund stand neben einer weißen Kommode und zwei ebenfalls weißen, mit Büchern voll besetzten Regalen ein großer brauner, weit ausladender Schreibtisch mit einer Rollkommode darunter sowie einem schwarzer Ledersessel dahinter. Vor dem Schreibtisch war ein voluminöser roter Teppich mit schwarzen ornamentalen Figuren ausgerollt, der dem etwas nüchtern wirkenden Zimmer einen Hauch von Wärme und Gemütlichkeit verlieh. Der ganze Raum war durch ein großes Fenster auf der rechten Seite sowie durch eine ebenfalls große Terrassentür, durch welche das Tageslicht prall hereinfiel, hell erleuchtet. Von dem Ledersessel hatte sich gerade ein kleiner Mann mit schütteren grauen Haaren und einer großen Hornbrille auf der Nase erhoben, war um den Schreibtisch herumgegangen und trat nun Elmar Redlich gegenüber.

„Wengenroth-Hausenstein!“, sagte der Mann, der in einen weißen Arztkittel gekleidet war. Er gab dem Patienten freundlich lächelnd die Hand, dabei schaute er diesem mit wachem Blick scharf und durchdringend in die Augen. Gleichzeitig bat er ihn mit leiser Stimme, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Elmar, der den Professor flüchtig gemustert hatte, fielen bei diesem noch eine hohe Stirn mit allerlei Quer- und Senkrechtfalten auf sowie ziemlich ausgeprägte Rundfalten um den schmalen, zusammengepressten Mund und darunter ein energisches, leicht vorspringendes Kinn. Nachdem Elmar sich gesetzt hatte, nahm der Psychologe seinerseits auf dem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch Platz und vertiefte sich sogleich in ein Schriftstück, das vermutlich von Elmar und seinen knapp skizzierten Beschwerden handelte, die er der Assistentin des Professors telefonisch mitgeteilt hatte.

Kurz darauf forderte der Psychologe den Patienten auf, ihm zunächst seine Personalien, sein familiäres Umfeld, seine berufliche Situation und seine Beschwerden mitzuteilen.

„Bitte etwas ausführlicher als in dem Telefonat, das Sie mit meiner Mitarbeiterin geführt haben“, fügte er noch ironisch lächelnd hinzu.

Nachdem Elmar dem Therapeuten die gewünschten Formalitäten mitgeteilt hatte, holte er also mit seiner Geschichte aus, das heißt, er beschrieb in aller Ausführlichkeit seine Alpträume, welche ihn seit einigen Monaten nachts plagten, und vergaß auch nicht hinzuzufügen, dass er hinterher, sobald er aufwachte, immer lange und geradezu zwanghaft über diese schrecklichen Träume grübeln und meditieren müsste. Dass er unter diesen Umständen oft nicht genügend Schlaf gefunden habe, könne er, der Psychologe, sich ganz gewiss vorstellen, sagte Elmar noch abschließend, wobei er seiner Stimme einen beinah seufzenden Klang verlieh und auch mit leidvollen Blicken nicht sparte. Anschließend wollte der Therapeut noch einige Details über das Verhalten der Personen wissen, die Elmar in seinen Träumen regelmäßig erscheinen, dabei blickte ihn Professor Wengenroth-Hausenstein, wie es offenbar seine Gewohnheit war, erneut durchdringend an, fast hatte Elmar das Gefühl, er fixierte ihn mit Röntgenaugen. Unmittelbar darauf richtete er seine grauen Augen schräg nach oben, ohne dabei den Kopf mitzubewegen. Da er gleichzeitig sein Gesicht verzog und die Augen zu einem Spalt verengte, kam dem Patienten dieses Mienenspiel ziemlich komisch vor, wie das listige Grimassieren eines Satirikers. Diese Attitüde des Professors ließ nur den einen Schluss zu: Wengenroth- Hausenstein dachte angestrengt nach, was einige Zeit in Anspruch nahm, Elmar kam es beinah vor, die Phase des professoralen Reflektierens hätte mehrere Minuten gedauert. Schließlich wandte sich der Therapeut wieder dem Patienten zu und legte unvermittelt mit einer intensiven psychologischen Befragung los:

„Herr Redlich, in Ihren Träumen, sagten Sie gerade, erscheinen meistens zwei Personen, ein Frau, die Sie Ulrike nennen, und ein junger Mann…“

„Nein, es ist komplizierter, Herr Professor! Zuerst erscheint immer meine frühere Verlobte; die verwandelt sich dann nach und nach in eine junge Frau mit Namen Ulrike.“

„Ach so! Aber der jungen Mann ist immer derselbe, das heißt, der verwandelt sich nicht.“

„Nein.“

„Tja, seltsam!“

Wengenroth-Hausenstein blickte wieder schräg nach oben, dann, nach einer kurzen Pause, fuhr er mit seinen Fragen fort:

„In welcher Beziehung standen Sie zu diesen beiden Personen, Pardon, zu den drei Personen, Herr Redlich? Und – eine zweite Frage: Können Sie mir sagen, warum diese Ulrike und der jungen Mann Sie immer so drohend anblicken? Haben Sie eine Erklärung dafür?“

„Die eine, Julia, wie gesagt: war mal eine Jugendfreundin von mir. Und der junge Mann könnte mein Jugendfreund sein.“

„Und die dritte Person, diese Ulrike?“

„Das war die Jugendfreundin meines Freundes.“

„Aha!“

Der Psychologe machte sich einige Notizen.

„Und wie erklären Sie sich’s, dass die Blicke Ihres Jugendfreundes so drohend auf Sie gerichtet sind? Hat Ihr ehemaliger Freund Ihnen etwas angetan oder umgekehrt, haben Sie sich ihm gegenüber einmal unfair oder irgendwie - sagen wir - schofel benommen?“

„Ich weiß ja gar nicht, ob das überhaupt mein ehemaliger Freund ist.“

„Gehen wir einmal davon aus, es ist Ihr Freund. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen? War es so eine, wie sagt man? - landläufige Freundschaft?“

„Es war..., wir waren... ziemlich dicke Freunde.’“

„Ah ja!“

„Richtiger gesagt - es war eine große Freundschaft, eine echte, wahre Freundschaft.“

„Sehn Sie, wir kommen der Sache schon näher, Herr Redlich! Könnte es sein, dass Sie oder auch ihr Freund in Anbetracht dieses hohen Anspruchs enttäuscht wurden?“

„Tja..., das könnte sein, aber immer unter der Voraussetzung, es handelt sich überhaupt um meinen ehemaligen Freund...“

„Ja, ja, natürlich!“

Der Professor machte sich wieder einige Notizen und blickte abermals schräg nach oben, was wohl wieder ein Zeichen intensiven Nachdenkens war.

„Aber Sie können mir nicht sagen, warum dieser Mann in Ihren Träumen Sie so drohend anschaut.“

„Nein, eigentlich nicht!“

Wieder schrieb Wengenroth-Hausenstein einiges auf ein Blatt Papier.

„Nun erlauben Sie mir eine zweite Frage, Herr Redlich. Glauben Sie an Gott?“

Elmar hatte mit so einer Frage überhaupt nicht gerechnet. „... an Gott?“, fragte er verdattert, „dazu möchte ich sagen... - ja, ich glaube an ihn.... Ich  bin eigentlich früh schon…, wie sagt man? - geprägt worden, ich meine: geprägt durch eine christliche Pfadfinderschaft, in der ich... lange aktiv war.“

‚Aha!“, rief der Psychologe aus, beinah schon im Jubelton, „da haben wir’s! Ich konstatiere: früh hatten Sie sich an das Religiöse gebunden. Und Sie sagten, diese Bindung hat Sie geprägt, nicht wahr? Eine solche Art von Prägung – das kann man sicher sagen - hat bei Ihnen ein starkes moralisches Bewusstsein herausgebildet, und dieses Bewusstsein hat wohl dazu geführt, dass Sie alles und jedes, was Sie tun oder auch was Sie nicht tun, anhand einer ziemlich hochgelegten moralischen Messlatte prüfen und beurteilen. Habe ich Recht?“

Elmar Redlich hob nur die Schultern und machte mit den Händen eine Geste, als wollte er sagen: diese Frage kann ich weder mit nein noch mit ja beantworten.

„So haben Sie auch Ihre edle, große Freundschaft“, fuhr der Therapeut mit seiner Diagnose fort, „von diesem hochangelegten Maßstab aus gesehen und beurteilt, nicht wahr? Irgendwann sind Sie dann von Ihrem Freund enttäuscht worden. Und diese allmähliche Zerstörung oder sagen wir vorsichtiger: die Beschädigung dieser Freundschaft hat sie veranlasst - in Ihrem Unterbewusstsein natürlich nur - ihren Freund des Verrats zu beschuldigten, ihm also moralische Vorwürfe zu machen. Dieser Verrat erschien Ihnen derart gravierend, fast möchte ich sagen: monströs, da er Ihrem hochangelegten moralischen Anspruch völlig zuwiderlief, dass Sie das unverhüllt gesinnungslose Handeln Ihres Freundes als traumatisch empfunden haben. Und aus diesem Trauma hat sich dann - vermute ich zunächst einmal - ein Komplex entwickelt…“ Der Psychologe machte mit der Rechten, die er halb in die Höhe reckte, eine Drehbewegung, „ein Komplex, der unaufhörlich Störsignale aus Ihrem Unterbewusstsein in Form von Alpträumen sendet.“

Elmar nickte stumm. Er wunderte sich, was der Therapeut so alles aus seinem Unterbewusstsein zutage förderte, an in mancherlei Hinsicht durchaus Zutreffendem; doch ob es sich tatsächlich so abgespielt hatte, wie der Psychologe es darstellte, wusste er nicht mehr genau, er hatte vieles vergessen oder auch verdrängt, vor allem viele Details.

„Nun müssen wir natürlich noch klären, warum der jungen Mann Sie in Ihren Träumen so drohend anblickt. Das könnte ja eigentlich bedeuten, dass er derjenige war, der über ihr Verhalten empört war und immer noch empört ist und nicht dass Sie allen Anlass hatten, sich über ein charakterloses, verräterisches Verhalten Ihres Freundes aufzuregen, nicht wahr? War dieser Freund auch in dieser… dieser christlichen Pfadfinderschaft?“

„Ja!“

„Aha!“ Wengenroth-Hausenstein sagte das mit erhobener Stimme, so als hätte dieses Faktum, die Zugehörigkeit auch des Freundes zu der christlichen Pfadfindertruppe, für Elmar und für des Therapeuten Deutungsmethode eine überragende Bedeutung.

„Dann könnte auch auf Seiten des Freundes“, fuhr er mit seiner Analyse fort, „ein enormes Empörungspotential vorliegen, weil Sie sich, Herr Redlich, dem Freund gegenüber schofel und gemein verhalten haben.“

„Nicht dass ich wüsste, Herr Professor!“

„Nun gut! Dann müssen wir das zunächst einmal zurückstellen, und auch meine Diagnose von eben müsste ich ebenfalls erst einmal relativieren oder vielleicht auch auf sich beruhen lassen. Doch so ganz daneben lag meine Diagnose wahrscheinlich nicht, vermute ich jedenfalls einmal. – Doch ein Vermuten nützt uns ja nicht weiter, nicht wahr, Herr Redlich, aus den Vermutungen müssen Tatsachen werden!“

Der Professor lachte leise; ihm schien das Mutmaßen, das er sich ohne beweiskräftige Grundlage erlaubt hatte, ziemlich komisch vorzukommen.

„So, Herr Redlich“, Dr. Wengenroth-Hausenstein, der sich wieder Notizen gemacht hatte, wandte sich erneut dem Patienten zu, dieses Mal in anderer Haltung: Indem er sich nämlich mit beiden Händen auf der Schreibischplatte abstützte und, sich leicht erhebend, weit vorlehnte, sprach er plötzlich mit lauter Stimme zu dem Patienten:

„Erschrecken Sie jetzt bitte nicht, aber ich muss Ihnen nun noch einige andere indiskrete Fragen stellen, aber das gehört ja zu unserem Geschäft. So ein Insistieren ist nötig, um der Wahrheit und damit einer von Ihnen gewünschten Therapie beziehungsweise einer Heilung näher zu kommen. Wie war es eigentlich mit ihren Beziehungen zu Mädchen, zu Frauen, Herr Redlich ..., zunächst meine ich, in Ihrer Jugend. Hatten Sie eine Freundin?“

„Ja! Wie ich schon sagte.“

„Ach so! Ja richtig, Sie erwähnten es ja schon. Und, was ist daraus geworden?“

„Tja..., ich glaube, wir waren einige Jahre befreundet..., eigentlich sogar verlobt.“

„Wie lange?“

„Ich glaube drei oder vier Jahre!“

„Hm, ziemlich lange! Und dann?“

Elmar zögerte, ehe er weitersprach; wie gesagt, er hatte vieles verdrängt: „…haben wir... die Freundschaft... beendet.“

„Sie zögern, Herr Redlich  “

„Die Einzelheiten kenne ich nicht mehr.“

„Haben Sie die Freundschaft einvernehmlich beendet?“

„Eigentlich... nicht“, antwortete Elmar, wieder zögernd, „um es genau zu sagen: meine Freundin hat mit mir Schluss gemacht; ich glaube, ich habe mich ihr gegenüber falsch verhalten.“

„Falsch verhalten! Das ist es, Herr Redlich, falsch verhalten!“ rief der Psychologe aus und zeigte gleichzeitig mit dem Finger auf den Patienten. Er hatte dabei einen Ton an den Tag gelegt, als hätte er nun die wahre Ursache der Alpträume seines Patienten gründlich und klar erkannt, „in der Jugend, Herr Redlich“, fuhr er im gleichen selbstsicheren und ziemlich lauten Tone fort, „reagiert man oft falsch, man ist naiv, weltunerfahren, bar jeder Menschenkenntnis und als junger Mann selbstverständlich auch bar jeder Kenntnis der Mädchen-und Frauenseele. So haben auch Sie sich Ihrer Freundin gegenüber falsch verhalten, und sie haben vermutlich hieraus ein Schuldgefühl entwickelt.“

„Wieso Schuldgefühl  ?“

„Nicht im moralischen Sinne, meine ich das, Herr Redlich, sondern eine Schuld oder - besser gesagt: ein Gefühl der Schuld im existentiellen Sinne; man könnte auch von dem Gefühl einer metaphysischen Schuld sprechen. Und dieses Schuldgefühl haben Sie aufgrund Ihrer ausgeprägten christlich-moralischen Empfindsamkeit deutlich gespürt, ja diese empfundene Schuld - man könnte eventuell auch sagen: diese eingebildete Schuld - behelligt sie bis auf den heutigen Tag. Dazu kommt wahrscheinlich noch der bereits genannte Komplex, den Ihr Freund bei Ihnen ausgelöst hat, schon quillt dieses ganze Gefühlsgemenge, dieses Konglomerat aus Emotionen, verletzter Eitelkeit, enttäuschter Zukunftshoffnungen, noch stärker in Form von Alpträumen aus Ihrem Unterbewusstsein hervor. Ihre Seele, Herr Redlich, ist dieser komplexen Melange auf Dauer nicht gewachsen!“

O Je! Elmar hatte eigentlich schon genug von diesem Therapeutengespräch. Vermutlich interessieren den Mann noch weitere Details seiner früheren Beziehungen zu Mädchen und Frauen und auch solche zu seinem Jugendfreund. Auch das 'Existentielle oder Metaphysische', wie er es nannte, würde er ganz sicher mit Akribie aus den entlegensten Abstellkammern seiner Seele hervorzerren, um es zu inspizieren!

„Herr Redlich“, hörte er den Psychologen noch sagen, er hatte offenbar Elmars angestrengte, bestürzte Miene bemerkt, „ich möchte Sie zunächst nicht weiter mit solchen Fragen belästigen, Fragen allerdings, die wichtig waren, und auch Ihre Antworten waren das: wichtig für mich, beinah schon außerordentlich … äh…, sagen wir einmal: aufschlussreich. In unserer nächsten Sitzung, Herr Redlich, möchte ich Ihnen noch weitere Fragen stellen, und zwar solche zur … äh… sagen wir: Sexualität. Hier ist es wichtig, dass ich mir von Ihrem…äh… Ihrem Sexualleben – möchte ich es einmal nennen - ein Bild machen kann, um den Gesamtkomplex Ihrer psychischen Verfassung…“ wieder machte der Psychologe mit der rechten Hand eine Drehbewegung… „besser abrunden zu können. Schließlich möchte ich nach einer gründlichen Analyse Ihres Traumgeschehens zu einem wirksamen Therapievorschlag kommen. Denn Ihr Wunsch zielt ja offensichtlich dahin, von Ihren Alpträumen befreit zu werden, nicht wahr? Auch eine medikamentöse Behandlung wird dabei begleitend von Bedeutung sein.“

Nach dieser Erklärung war Professor Wengenroth-Hausenstein aufgestanden und um seinen Schreibtisch herumgegangen. Mit den Worten "Fürs Erste soll uns dieses Gespräch erst einmal genügen!" verabschiedete er sich von seinem Patienten und fügte noch folgendes hinzu: „Wir sind mit unserer Anamnese noch nicht am Ende, Herr Redlich, wird stehen erst am Anfang!“

Indem er Elmar gleichzeitig bat, sich von seiner Assistentin vorne am Tresen einen Termin für eine weitere Sitzung geben zu lassen, eilte er zum Ausgang, seinem etwas verdatterten Patienten, der mit einer längeren Sitzung gerechnet hatte, noch ein „Tschüss und bye-bye!“ zurufend.

Nachdem Elmar das Klinikgebäude verlassen hatte, galt es für ihn schon als beschlossene Sache, dass er den nächsten Termin bei Professor Wengenroth- Hausenstein auf keinen Fall mehr wahrnehmen würde. Fragen zu seinem Sexualleben! Das fehlte noch, dass er dem Psychologen auch nur ein Sterbenswörtchen über sein Sexualleben mitteilte, ihm sozusagen eine Möglichkeit eröffnete, sein Voyeursbedürfnis zufriedenzustellen. Seine, Elmars, Sexualität sollte allein seine höchst private Sache sein und auch bleiben!

Doch eine andere Bemerkung des Professors fand er sehr nachdenkenswert, seine Rede von einer möglichen metaphysischen Schuld. Elmar hatte einmal irgendwo etwas von einer metaphysischen Schuld gelesen und Gefallen an dem Begriff gefunden, obwohl er sich darunter gar nichts vorstellen konnte. Das schien ihm andererseits wieder verständlich, denn wenn etwas metaphysisch ist - sagte er sich - entzieht es sich unserem logischen Vorstellungsvermögen. Gerade seine seltsame Träumerei kam ihm derart ’metaphysisch’ vor, dass ihm der Schluss des Psy- chotherapeuten logisch zwingend erschien, nicht eine Schuld im hergebrachten, moralischen Sinne stecke hinter seinen Alpträumen, sondern irgendeine geheimnisvolle, unergründbare Schuld, die ihn mit diesen nächtlichen Gaukelspielen plagte. Und er unterstellte nun dem Professor Wengenroth-Hausenstein, dass er ihn genau mit diesem unheimlichen Schuldbegriff gnadenlos behelligen, um nicht zu sagen: schurigeln würde.

„Nein, dieser unangenehmen Prozedur, dieser wahrscheinlich teuren Rosskur werde ich mich auf keinen Fall unterziehen“, sagte Elmar jetzt mit lauter, aufbrausender Stimme, denn die Art des Argumentierens dieses Psychologen hatte ihn wütend gemacht. „Ich mach’ es anders“, setzte er sein zorniges Resümee fort, „ich forsche selbst nach den Ursachen dieser ständig wiederkehrenden Horrorträumerei!“

Er wusste, dass es in der Trauma-Psychologie eine bestimmte Verhaltenstherapie gibt, die man das ‘Konfrontationsverfahren‘ nennt. Der Patient wird hier schrittweise an die traumatische Situation, die ihn in der Gegenwart fortwährend bedrückt und zermürbt, herangeführt; entweder konfrontiert man ihn räumlich, das heißt, man führt ihn direkt an den Ort, wo die Katastrophe sich ereignet hat, oder man lässt ihn zeitlich auf das ihn dauererregende Ereignis zugehen; die Konfrontation geschieht in diesem Falle mit Hilfe seiner Vorstellungen, seiner Erinnerungen, durch die er die traumatischen Vorfälle immer wieder intensiv ‘umkreist‘. Dieses Verfahren wird so lange durchgeführt, bis sich der Patient an das Trauma ‘gewöhnt‘ hat und seine Angst und seine unterschwelligen Erregungen infolgedessen abnehmen.

So wollte nun auch Elmar Redlich vorgehen: Indem er die wichtigsten Vorkommnisse seiner Vergangenheit untersuchte, würde er automatisch auf die genannte, ihn ständig beunruhigende, ja ängstigende Quelle aller Belästigungen stoßen, und durch eine akribische Betrachtung und Analyse des Umfelds der ’Quelle’ und der ‘Quelle‘ selbst würde er sich ganz gewiss, sozusagen in Eigenregie, von seinen Alpträumen befreien können.

Allerdings, es gab da ein Hindernis: Elmar Redlich blickte nicht gerne zurück. Allenfalls tat er es unfreiwillig, bei einem Treffen mit alten Freunden, wenn sentimentale Erzählungen und der Zauberer Alkohol seine Seele übertölpelten. Im nüchternen Zustand kam ihm die Vergangenheit immer wie eine verstaubte Dachkammer vor, in die hineinzugehen er nicht die geringste Lust verspürte. Denn was erwartete ihn dort anderes als der trostlose Anblick eines Reichs der verrotteten Objekte, wo ihm fortwährend der kalte Hauch des Unwiederbringlichen entgegenweht oder irgendwelches Zeug, Sperrmüll, Plunder, herumliegt, was ihm früher einmal - unverbraucht und neu - etwas bedeutete, wo ihm am Ende noch sein einst pralles, buntes Leben im Rückblick als konturloses Schattenspiel vorüberzieht und er das längst Erledigte, das, womit er sich seit langem hat abfinden müssen, nur in vergilbten Fotos, altfränkischen Gemälden oder ausrangiertem Spielzeug betrachten oder rückschauend in Selbstgesprächen erörtern kann. Wie in einem riesigen Eisblock auf ewig eingeschlossen kommt ihm sein früheres Leben immer vor, wenn er in jener Dachkammer steht und ins Grübeln gerät. Nichts an dem Abgelebten kann man mehr verändern, nicht mehr den einen oder anderen fatalen Verlauf noch einmal auf ein glücklicheres Ziel hin neu entwerfen und frohgemut großen, aussichtsreichen Taten entgegenblicken.

Nein, die Vergangenheit stimmte ihn von jeher trübsinnig und mutlos. - So dachte Elmar nun einmal über seine Vergangenheit, so negativ, so verbittert, und es war deshalb nur zu begreiflich, dass er zögerte, sich dieser Vergangenheit in der genannten Dachkammer zu stellen.

Elmar Redlichs Lebenssituation

Elmar Redlich ist Lehrer und unterrichtet am L - Gymnasium in D*** die Fächer Deutsch und Philosophie. In den Ferien unternimmt er gern weite Fahrten mit seinem Wagen, meistens alleine. Seine Frau Lisi, ein häuslicher Typ, bleibt lieber zu Hause bei Elena und Ingeborg, ihren beiden Kindern. Vor allem lehnt sie es ab, ihre Schwiegermutter zu besuchen, die weit weg in Walldorf im Taunus wohnt, wohin Elmar aber nicht selten hinfährt, da er sich verpflichtet fühlt, hin und wieder nach seiner verwitweten alten Mutter zu sehen.

„Aha, wieder einmal geht es zu Muttern!“, hörte er Lisi hinter sich lästern, als er gerade seine Koffer für die Reise packte, „der Herr Sohn kann ja ohne seine Mutti nicht auskommen! Das wievielte Mal packst du denn in diesem Jahr deine Koffer, Elmar? Das fünfte oder, warte mal, ich glaube: es ist schon das sechste Mal!“

„Quatsch!“, erwiderte er mit lauter Stimme, da ihn der höhnische Ton seiner Frau provozierte, „es ist höchstens das dritte Mal.“

„Das dritte Mal? Dass ich nicht lache!“

Lisi, ihre dunkelblonden Haare mit hochmütiger Gebärde nach hinten streichend und den Kopf in den Nacken werfend, blickte ihn mit böse funkelnden Augen an.

„Das fünfte Mal ist es“, präzisierte sie mit schriller Stimme, „garantiert das fünfte Mal!“ Er schaute ihr in die blitzenden Augen, dann erfasste sein Blick ihre schlanke Gestalt. Ihre Haare, sonst zu einem Zopf nach hinten gebunden, hatte sie jetzt aufgelöst, sodass sie in langen Wellen ihr Gesicht umrahmten. Dieses, ebenmäßig, mit leicht gewölbter, hoher Stirn, einer geraden Nase und einem vollen Mund, wirkte reizvoll und sympathisch. Seine Frau war immer noch hübsch, auch wenn sie ihren schönen Mund gerade zu einer hässlichen Schnute verzog und ihre graugrünen, weit geöffneten Augen das Weiße zum Vorschein brachten. Doch ihr adrettes Aussehen täuschte Elmar nicht darüber hinweg, dass er seit einiger Zeit gar nicht glücklich mit ihr war.

„Und mich lässt du hier wieder einmal alleine, mit den Kindern und all den Problemen“, hörte er sie weiter mit schriller Stimme sprechen, „es interessiert dich wohl gar nicht, dass wir auch gesellschaftliche Verpflichtungen haben.“

„Du meinst die Heberers und die Reitmeiers!?“

„Und die Bergs! – Ja, die müssen wieder eingeladen werden!“

„Ach, das kann doch bis nächste Woche warten!“

„Das sagst du jedes Mal! Die Frau Heberer hat mich letzte Woche in der Stadt nicht gegrüßt.“

„Und du meinst, das hängt mit unseren... gesellschaftlichen Verpflichtungen zusammen!?

„Klar! Ich würde das auch als Affront auffassen, wenn ich Freunde gerade fürstlich bewirtet habe, und die lassen dann eine Ewigkeit nichts von sich hören.“

„Na, dann nimm du das doch in die Hand. Ein Telefonanruf bei den Heberers, den Bergs und den Reitmeiers, sie sollen zu unserer Soiree kommen, sagen wir: übernächste Woche, schon wird dich Frau Heberer wieder grüßen!“

„Mach’ keine Witze! - Du hast dich ständig vor den Einladungen gedrückt. Und jetzt drückst du dich vor den Vorbereitungen. Ich muss das alles alleine organisieren, das ganze Drum und Dran, während du dir wieder eine Reise zu Mutti gönnst.“

„Ach, ich bleibe doch nicht lange weg.“

„Außerdem vergisst du, was gerade die Einladung an die Bergs für dich bedeutet – bei dem Einfluss, den Berg in deinem Kollegium hat!“

„Nein, nein, ich vergesse das nicht!“

Es hatte keinen Zweck, Lisi weiter zu widersprechen, sie wird immer nach neuen Anlässen zum Nörgeln suchen und sie garantiert auch finden. Wenn Elmar ihr erklärte, warum er mit den Einladungen an die Heberers, die Bergs et cetera noch ein bisschen warten wollte, wird sie bestimmt den Lehrerball übernächste Woche zum Thema machen, und sie wird ihm vorjammern, sie wüsste nicht, was sie anziehen soll, er solle ihr beim Aussuchen eines Abendkleides doch bitte helfen, damit seine Kollegen sie nicht so kritisch mustern, und wenn er ihr sagte, das Aussuchen des Abendkleides hätte noch Zeit bis Ende nächster Woche, käme garantiert der Vorwurf, er würde sich seine Freunde zu sehr bei den Lehrerkollegen aussuchen, er solle doch auch einmal andere Ehepaare in ihren Bekanntenkreis ziehen. Ständig musste er in dieser Art ihr Spötteln und Mäkeln über sich ergehen lassen, bei den geringsten Anlässen, dazu kam noch seit einiger Zeit ihre Lieblosigkeit. All das und überhaupt Lisis nicht enden wollende Reizbarkeit zeigten ihm deutlich, seine Ehe war nicht mehr das, was er sich einst von ihr versprochen hatte und was über viele Jahre diesem Versprechen, diesem Entwurf einer glücklichen Zweisamkeit durchaus nahe gekommen war. Nein - stellte er nüchtern und zugleich erschrocken fest - seine Ehe steckte in einer Krise, sie war vielleicht schon derart zerrüttet, dass sie gar nicht mehr zu retten war.

Ihn hatten deshalb schon seit einiger Zeit seltsame Gefühle und Sehnsüchte erfasst; zuallererst die Sehnsucht nach mehr Liebe und Verständnis, doch da er beides bei seiner Frau nicht mehr zu finden meinte, dachte er immer öfter über eine Erfüllung außerhalb seiner Ehe nach; auch empfand er nicht geringe Sehnsucht nach Befreiung von all diesen bürgerlichen Einengungen und lästigen Gepflogenheiten, diesen gesellschaftlichen Verpflichtungen, wie Lisi sie nannte, Verpflichtungen, die schon eher Zwängen glichen, zum Beispiel dem Zwang, da und dorthin, meistens an Kollegen, Einladungen auszusprechen und mit Spannung darauf zu warten, wer wann sich liebenswürdigerweise revanchierte und ihnen die Ehre der Einladung zu dieser oder jenen Soiree zuteil werden ließe.

Eine andere Einladung allerdings kam ihm letzte Woche sehr gelegen, nicht die von den Heberers oder den Bergs, sondern von seinem Cousin, dem Architekten Klaus Kerner. Er solle ihn und seine Familie doch bald wieder einmal besuchen, hatte Klaus am Telefon gesagt, und Elmars Interesse an diesem Besuch war umso mehr gestiegen, je geheimnisvoller sein Cousin sich am Telefon zunächst in Andeutungen über einen zweiten Besuch bei ihnen erging, der mit dem seinen zusammenfallen könnte, falls er zu einem bestimmten Zeitpunkt bei ihnen eintreffe. Sofort nahm Elmar an, Klaus meinte mit diesem zweiten Besuch seine Schwägerin, jene bereits erwähnte Julia, geborene Lambertz. Klaus gab seine Geheimnistuerei schließlich auf und nannte die Person, die ihren Besuch bei ihnen angekündigt habe: es war tatsächlich Julia, seine Schwägerin, Julia, geborene Lambertz, Elmars einstige Verlobte. Julia würde sich freuen, ihn, Elmar, wiederzusehen, hatte Klaus noch hinzugefügt, worauf Elmar nicht umhin konnte, auch seinerseits seiner Freude auf ein Wiedersehen mit seiner Jugendfreundin Ausdruck zu verleihen. Dieses Wiedersehen würde also in Fernwald bei G. stattfinden, wo sein Cousin mit seiner Familie in einem komfortablen, sehr geräumigen Haus wohnte.

Elmar dachte kurz zurück an die Zeit mit Julia Lambertz. Viel war es nicht, was ihm im Augenblick dazu einfiel. Nur dass sich zwischen ihnen einstmals eine Riesenwand aufgerichtet hatte, die zwischen ihnen zu einer unüberwindlichen Trennung und Abspaltung geführt hatte – das fiel ihm auf die Schnelle ein. Allerdings, auch daran erinnerte er sich: er hatte Julia einmal sehr geliebt. So versetzte ihn die Aussicht, mit seiner Ex-Verlobten wieder zusammenzutreffen, in eine freudig erregte Stimmung, und diese Erregung wuchs um so mehr, je nachdrücklicher er sich bewusst machte, dass ihm die Streitlust seiner Frau das Zusammenleben mit ihr doch gehörig verleidete. Außerdem dachte er, ein solches Zusammentreffen mit seiner alten Liebe könnte eventuell auch seine Alpträume zum Verschwinden bringen. Zum Beispiel könnte er mit Julia einmal über all das, was sich einst zwischen ihnen an Trennendem und Unüberwindlichem wie ein gähnender Abgrund aufgetan, gründlich reden, woraufhin seinen Alpträumen - gemäß seiner Theorie, durch Analysieren und Durchdenken könnte man psychische Komplexe auflösen - vielleicht ein für allemal die Energie entzogen würde, vorausgesetzt natürlich, die Trennung von Julia habe damals wie ein Trauma auf ihn gewirkt, welches bis auf den heutigen Tag anhaltend und störend seine Psyche beeinflusste. Doch ob eine solche andauernde Fernwirkung überhaupt möglich sei, hielt er im selben Moment wieder für zweifelhaft; auch ob er den Nerv und den Mut hätte, über so etwas mit Julia überhaupt zu sprechen, kam ihm fast schon utopisch vor, zumal, wenn er an das etwas einfach gestrickte Gemüt seiner Exfreundin zurückdachte. Die Gespräche mit Julia - daran erinnerte sich Elmar jetzt wieder deutlich - waren meistens von alltäglicher, banaler Natur gewesen. Mit ihr konnte er sich schon damals nicht über schwierige Probleme, wie zum Beispiel komplizierte psychologische Prozesse, austauschen. Vermutlich war die mangelnde Gesprächsbasis zwischen ihnen damals, die nur einfaches Reden über alltägliche Dinge des Lebens zuließ, auch einer der Gründe gewesen, weshalb ihre Beziehung zunehmend instabil wurde und am Ende dann scheiterte. -

Elmar wandte sich wieder seiner Frau zu. Ihr Nörgeln und unfreundlich verzogenes Gesicht machten ihm jetzt nichts mehr aus, seine Gedanken richteten sich sofort wieder ganz auf den Besuch bei seinem Cousin und auf das Wiedersehen mit Julia, auf das er sich bereits richtig freute. Da er einige Tage von zu Hause wegblieb, wollte er seine Frau nicht zusätzlich verärgern, und um ihre erregte Stimmung zu besänftigen, sprach er jetzt in beruhigendem Ton zu ihr, indem er den Kofferdeckel sanft nach unten drückte und sich anschickte, ihn abzuschließen.

„Ich fahre dieses Jahr garantiert das letzte Mal nach Walldorf, Lisi, ich verspreche es dir, Ehrenwort! Allerdings dauert es diesmal etwas länger. Ich besuche noch meinen Cousin; bei meiner Mutter bleibe ich nur einen Tag!“

Lisi machte ein Gesicht, als wittere sie in diesem beschwichtigenden Ton und in den an sich akzeptablen Ankündigungen eine neuerliche Provokation. Doch das Funkeln ihrer Augen schwächte sich mit einem Male ab, ging in ein undefinierbares Glitzern über, was vielleicht besagen sollte, dass sie die Erklärungen ihres Mannes zwar nicht als annehmbar, aber doch als deeskalierend empfand. Schließlich bequemte sie sich zu einer Reaktion, welche die zwischen den Eheleuten aufgekommene Spannung tatsächlich milderte:

„Na, dann wünsche ich dir gute Fahrt!“, sagte sie in nicht mehr so schrillem Ton, „und ... fahr’ vorsichtig, vor allem auf der Autobahn!“

„Werde ich tun!“, erwiderte er, und indem er den Koffer wieder öffnete, packte er weiter seine Sachen hinein.

Eine Reise in die alte Heimat

Da die Herbstferien an diesem Tag begannen, wollte Elmar unmittelbar nach der Schule losfahren. Nachdem er alle seine Sachen in seinen Koffer gepackt und diesen im Kofferraum des Wagens verstaut hatte, verabschiedete er sich von Lisi und den Kindern, von der Ersteren zwar nicht besonders gefühlsbetont, aber auch nicht übermäßig kühl, von den Kindern allerdings herzlich.

Dann stieg er in den Wagen und fuhr Richtung Schule. Sein Unterricht begann an diesem letzten Tag erst in der vierten Stunde, nach der sechsten könnte er dann endlich in die Ferien starten, was also wieder einmal bedeutete - nach Lisis Rechnung das fünfte oder sechste Mal - , dass er in den Taunus nach Walldorf fuhr, zu seiner Mutter, um die er sich kümmern musste, schon aus moralischen Gründen. Und das sollte seine Frau eigentlich doch bitte einsehen!

Unterwegs musste Elmar an die Bemerkung Lisis über den Kollegen Berg denken. Sie hatte Recht, Studiendirektor Berg, der im Kollegium ziemlich den Ton angab – er war nicht nur Stellvertreter des Schulleiters Bredenbrink, sondern auch dessen Freund – war mit Vorsicht zu genießen. Immer musste Elmar aufpassen, dass er dem Kollegen nicht mit einer unbedachten Bemerkung auf die Füße trat, vor allem, wenn er mit ihm auf einer Soiree zusammentraf. Er stellte sich schon vor, was dann vielleicht passieren könnte, jetzt, wo er sich wie seine Kollegen Heberer und Reitmeier um eine A14-Stelle bewarb. Berg könnte den Direktor zum Beispiel veranlassen, einige ungünstige ’Schlenker’, sogenannte Signalwörter, in Elmars Lehrerbeurteilung unterzubringen, schon hätten Ludwig Heberer und Karl Friedrich Reitmeier im Bewerbungsverfahren die Nase vorn. Na ja, beruhigte er sich, die Lehrerprobe vor einer Klasse musste ja noch hinzukommen, im Beisein des Dezernenten Dr. Kuschmann, dem Leitenden Regierungsdirektor von der Schulaufsicht. Doch da fiel Elmar ein, dass Schulleiter Bredenbrink mit Kuschmann immer ein herzliches Einvernehmen an den Tag legte, wenn dieser mal im L- Gymnasium weilte; der Draht zwischen den beiden ’hohen Tieren’ schien also prächtig zu funktionieren. Auch wusste Elmar nicht, ob einer seiner Mitbewerber in der X-Partei war, die im Gemeindeparlament und im Lande das Sagen hatte. Es galt nicht nur am L-Gymnasium als ausgemacht, dass nur Parteibuchinhaber in die höheren Beförderungsstellen gehievt werden. Berg und Bredenbrink waren garantiert in der X-Partei, das stand fest. Unklar war nur, ob auch bei den A14-Stellen die Parteizugehörigkeit schon eine Rolle spielte. Wenn also Heberer oder Reitmeier oder gar beide das Parteibuch der X-Partei besaßen, dann Gute Nacht! Seine Träume von einer Beförderung wären schon jetzt wie Seifenblasen an einem gezackten Eisengitter zerplatzt. Wie ihn dieses ganze politische Geschacher um Posten und Pöstchen anwiderte, nicht nur am L-Gymnasium! Aber auch der vom Schulleiter gerne gesehene Brauch, sich gegenseitig einzuladen und bei den Soireen dann miteinander freundlichen Umgang zu pflegen, obwohl man sich als Konkurrenten gegenseitig belauerte - Elmar kam das nicht nur heuchlerisch und spießig vor, er fand das, gerade heraus gesagt, grauenvoll! So war es nur zu verständlich, dass er keine Eile an den Tag legte, die genannten Kollegen samt Ehefrauen wieder einmal zu einem Gesellschaftsabend zu bitten.

Elmar hatte inzwischen das L.-Gymnasium erreicht. Die Fünf-Minutenpause würde gleich zu Ende sein, er musste sich also sputen, um pünktlich zum Unterrichtsbeginn im Klassenraum der 9b zu sein. Rückgabe der Deutscharbeit plus Besprechung und Berichtigung standen auf dem Programm. Wie im Fluge würde die Stunde vorübergehen. Dann, in der 5. Stunde, folgte Philosophie im Grundkurs der 13 a. Das Thema lautete: Die unterschiedlichen Konzeptionen des „Willens“ bei Schopenhauer und Nietzsche, anhand von Auszügen aus „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und „Jenseits von Gut und Böse“. Doch die Schüler werden jetzt, unmittelbar vor Ferienbeginn, nicht recht bei der Sache sein. Elmar stellte sich vor, wie er die Schüler nur mühsam zur Mitarbeit motivieren könnte; dabei hätte er gerne mit den Schülern sein Herzensanliegen - und nicht zu knapp - diskutiert, ob Nietzsche mit seiner These Recht hat, der Mensch sei Wille zur Macht und nichts außerdem! - In der 6. Stunde musste er noch eine Deutschstunde in der 12c, mit dem Thema ’Sophokles: König Oedipus’, hinter sich bringen. Auch hier, zumal in der letzten Stunde vor Beginn der Ferien, wird die Mitarbeit der Klasse garantiert zu wünschen übrig lassen. Elmar malte sich schon aus, wie der Unterricht zäh und schleppend dem Ende entgegentaumelte. Dann endlich wird es schellen, und die Schüler, die schon ständig auf die Uhr geguckt haben, werden schnell ihre Sachen zusammenpacken und erleichtert und froher Stimmung die Klasse und die Schule verlassen, begleitet von den guten Wünschen ihres Lehrers, die sie aber wohl kaum oder nur nebenbei zu Kenntnis nehmen.

Und so geschah es auch, wie es sich Elmar vorgestellt: Auch er verließ erleichtert die Schule, nachdem er sich noch von einigen Kollegen, insbesondere von dem Schulleiter und dem Stellvertreter, auch von Heberer und Reitmeier, verabschiedet hatte. Rasch stieg er in seinen Wagen und fuhr zur Stadt hinaus, Richtung Bundesstraße B x, die zur Autobahn führte. Die Fahrt wird sich wie immer in die Länge ziehen, dachte er, zumal auf der vielbefahrenen B x. Allein bis er die Autobahn erreichte und das Gaspedal durchtreten konnte, wird fast eine Stunde vergehen, nicht nur weil er mehrere Dörfer durchqueren muss, auch wegen der zahlreichen Lastwagen, die sich gerade auf dieser Straße gerne tummeln.

Während der langweiligen Fahrt gingen Elmar alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vor allem musste er an Studiendirektor Bergs forschenden Blick denken, als er sich von ihm im Lehrerzimmer verabschiedete. ’Na, Herr Kollege, Sie sind aber mit einer Einladung wieder mal dran!’, schien dieser Blick zu sagen. Sogleich stand ihm auch wieder die letzte Soiree bei Ludwig Heberer vor Augen. Lisi hatte Recht, sie lag schon ziemlich lange zurück, die Heberers, eigentlich auch Berg hatten tatsächlich einigen Anlass, sich über Elmars Nachlässigkeit zu ärgern. Ludwig Heberer hatte damals nicht nur die Reitmeiers zu sich gebeten, auch Berg samt Ehefrau war zugegen. Dazu hatte Heberer sogar noch den Schulleiter mit dessen entschieden jüngerer Ehefrau Kerstin eingeladen. Es war ein Abend, den Elmar in seinem Tagebuch als „völlig überflüssig“ kennzeichnete, und das Benehmen der anwesenden Kollegen bezeichnete er als "wichtigtuerisch“, „dünkelhaft“ und „hochnäsig“.

Elmar erinnerte sich noch, wie er mit den beiden Kollegen, den Mitbewerbern um die A-14-Stelle, in einem Nebenzimmer zusammensaß und Reitmeier anfing, über die Schülerin Ilse Müller zu lästern. Der Schulleiter und der Studiendirektor hielten sich währenddessen im angrenzenden Speisezimmer auf, standen dort in einer Ecke und steckten die Köpfe zusammen. Die Ehefrauen saßen immer noch an dem Esstisch und plauderten miteinander.

Mathematiklehrer Reitmeier hielt die Ilse für strohdumm, wie er sich ausdrückte, andererseits aber für derart schön, dass er sich nur schwer überwinden könnte, ihr eine Fünf auf dem Zeugnis zu geben. Anschließend diskutierten die drei Herren darüber, ob die Ilse wirklich so schön sei. Elmar stellte das in Frage, wogegen Reitmeier und Heberer geradezu uneingeschränkt, mit entschiedenen Worten darauf bestanden, die Ilse Müller sei ein unwahrscheinlich schönes Mädchen. Elmar musste sich ärgern, dass er sich schon wieder - wie so oft - dem geballten Widerspruch  der beiden Kollegen gegenübersah.

„Sie will ja mit der Mittleren Reife abgehen“, sagte Reitmeier, „am Ende kriegt sie von mir sicher noch eine Vier Minus auf dem Zeugnis - weil sie so schön ist!“

Da Reitmeier das in so trockenem Ton gesagt hatte, wobei seine Augen strahlten, als wären sie vom Glanz der Schönheit Ilse Müllers geblendet, mussten die anderen beiden herzlich und laut lachen.

Gerade betraten Schulleiter Bredenbrink und sein Stellvertreter Berg das Zimmer.

„Na, hier herrscht aber eine aufgeräumte Stimmung!“, rief ihnen Bredenbrink zu, ein kleiner, dicklicher Mann mit Vollglatze und runden Augen.

„Die Herren haben wohl über einen unanständigen Witz gelacht?“

Studiendirektor Berg, der eine Neigung hatte, ein Thema gern ins Erotisch-Schlüpfrige zu ziehen, gab erneut diese seine Neigung zu erkennen.

„Nein, wir haben die Leistungen der besonders schönen Schülerin Ilse Müller begutachtet“, sagte Ludwig Heberer.

„Schöne Schülerin? Also war doch etwas Unanständiges im Spiel, was!“ Berg fuhr auf der von ihm so gerne gewählten Schiene munter weiter, dabei lächelte er tückisch.

„Wieso das?“ Bredenbrink blickte seinen Freund erstaunt an.

„Na, wenn hier von einer schönen Schülerin die Rede ist, spricht das doch Bände. Bei einer Schülerin darf doch nur die Leistung zählen, alles andere ist Nebensache!“ Berg sprach das im ernsten Tone aus, indessen seine Augen, die hinter der Brille klein wirkten, ebenfalls ernst, beinah grimmig dreinschauten, als wollte der Studiendirektor sagen: Kinder, schaut ja nicht auf die Schönheit einer Schülerin, konzentriert euch lieber auf eueren Unterricht. Berg war groß gewachsen und von schlanker Gestalt. Sein Gesicht, obwohl länglich und schmal, wirkte wegen der großen, fast voluminösen Brille breit und flächig.

„Genau, das finde ich auch!“ Karl Friedrich Reitmeier bekannte sich beflissen zu dem Standpunkt Bergs.

„Sie haben vollkommen recht, Herr Berg!“, schloss sich auch Heberer der Meinung des einflussreichen Studiendirektors an. „Wir haben ja in erster Linie die etwas problematische Leistung der Schülerin besprochen; sie gibt einigen Anlass zur Sorge.“

„Wer ist das eigentlich, diese Ilse Müller?“, wollte der Schulleiter wissen.

„Das ist die in der 10 a“, beschrieb Berg das Mädchen, „wissen Sie, die Tochter vom Gardinen-Müller.“

„Ach die!“ Bredenbrink war jetzt vollkommen im Bilde, „na, so schön ist die auch wieder nicht!“

„Sie haben recht, Herr Direktor!“, Reitmeier hatte flugs seine Ansicht über Ilse Müllers angeblich unwahrscheinliche Schönheit geändert, „ich würde sie allenfalls ... äh... apart nennen.“

„So, so, apart!” Der Schulleiter war mit dieser Bewertung nicht ganz einverstanden, “sagen wir, sie ist hübsch, so im landläufigen Sinne, mehr nicht.“

„Ja, mehr auf keinen Fall!“, schloss sich Ludwig Heberer der Ansicht Bredenbrinks an, indessen Elmar zuerst Kollege Reitmeier, dann Ludwig Heberer irritiert anblickte. Es überraschte ihn, wie behände die beiden ihre Meinung über Ilse Müllers exorbitante Schönheit geändert hatten.

 

Die Wut über die letzte Soiree bei Ludwig Heberer stieg in Elmar hoch, vor allem über Reitmeier und Heberer. Was man in deren Beisein auch für Ansichten äußerte, immer wussten die beiden es besser oder behaupteten das Gegenteil, es sei denn, sie sprachen mit Berg oder Bredenbrink. Da war dann ihr Widerspruchgeist wie auf Kommando verflogen. Und nun sollte er diese beiden Nervtöter zu einem Gesellschaftsabend bitten! Vielleicht könnte er Lisi doch noch überreden, die Einladung an die beiden hinauszuzögern!? Außerdem verdoppelte sich sein Wunsch nach einem Neuanfang, nach einem Leben, wo er mit mehr Liebe und Verständnis rechnen könnte und ihm auch von Kollegen mehr Respekt und Anerkennung entgegengebracht würde. Natürlich müsste er sich dann von seiner Familie trennen, auch die Schule müsste er wechseln. Das Letztere würde ihm leicht fallen, aber das Erstere, die Trennung von Lisi, von den Kindern? Ob ihm das auch leicht fiele?

Ungefähr die Hälfte der Strecke bis zur Autobahn hatte Elmar Redlich zurückgelegt.

An einem Ortseingang tauchte rechts eine Tankstelle auf. Elmar fuhr an der Zapfsäule vor, tankte den Wagen voll, zahlte an der Kasse und fädelte ihn kurz darauf wieder in die Zubringerstraße ein. Doch an eine schnelle Fahrt war zunächst nicht zu denken, ständig brausten ihm Autos auf der Gegenfahrbahn entgegen, sodass er partout nicht an einem Sattelschlepper und einem Gastransporter vorbeikam. Also setzte er seine Fahrt erst einmal gemächlich fort, in einer Stimmung allerdings, die wegen des unablässigen Gegenverkehrs alles andere als gelassen, eher nervös, angespannt war.

 

Erinnerung an ein Gespräch über die wahre Liebe

Als er sich wegen der langsamen Fahrt abermals irgendwelchen Gedanken hingab, fielen ihm wieder einige Szenen aus dem Schulleben ein, und schon wieder drängten sich die Kollegen Heberer und Reitmeier in seine Gedanken. Die beiden saßen mit ihm an einem Tisch im Lehrerzimmer, so hatte er oft Gelegenheit, sich mit ihnen zu unterhalten.

Einmal, während einer Freistunde, in der außer ihnen kein anderer Kollege im Lehrerzimmer war, vertrieben sie sich die Zeit mit Klatschgeschichten. Eine verheiratete Kollegin, die eine Affäre mit einem ebenfalls verheirateten Kollegen haben soll, nahmen sie sich vor, dabei dämpften sie ihre Stimmen, denn Genaueres, Eindeutiges über ein solches Verhältnis waren nicht bekannt; niemand wollte deshalb die „Sache“ direkt beim Namen nennen, man könnte ja eventuell von der Kollegin oder dem Kollegen zur Rede gestellt werden.

„Was, wenn der Chef davon erfährt?“, fragte Elmar während des Gesprächs, wobei er, wie gesagt, die Stimme dämpfte, „ihr kennt doch seine hochmoralische Einstellung.“

„Die beiden werden doch nicht so dumm sein, irgend ’was nach außen dringen zu lassen!“, meinte Ludwig Heberer, gleichfalls die Stimme dämpfend „außerdem, wer will ihnen ’was nachweisen? Der Chef wird nichts erfahren, außer vielleicht Gerüchte.“

„Also ich könnte das nicht, so ’was Privates aufbauen, auch noch in der Schule“, meinte Karl-Friedrich Reitmeier, der Mathematiklehrer. Er war etwa Mitte vierzig, hatte dunkel-blonde, schon schüttere Haare, das Gesicht war leicht aufgedunsen und von bleicher Farbe. Über den schmalen, etwas gepressten Lippen prangte ein kleiner Schnauz. Die grauen Augen blickten unter buschigen Augenbrauen streng und herrisch. „Abgesehen von dem Riesenärger, den ich zu Hause bekäme“, fuhr er fort, „ich wäre auch viel zu abgelenkt, meine Arbeit würde darunter leiden.“

„Und wenn dir so eine attraktive Junglehrerin täglich über den Weg läuft, die obendrein noch hundertprozentig dein Typ ist, was dann?“

Heberer sagte das in einem Ton, als seien ihm solche reizvollen Begegnungen mit Junglehrerinnen schon öfter passiert; dabei grinste er vielsagend, „du bist schließlich auch nur Mensch und kannst nicht in jeder Phase deines Lebens die Vernunft walten lassen, oder?“

Heberer, der Biologie- und Erdkundelehrer, dessen Stimme einen auffallend hellen Klang hatte, war von schlanker Gestalt, im Gegensatz zum Kollegen Reitmeier, der nicht nur im Gesicht, sondern auch in seinem Körperumfang vergleichsweise dick wirkte. Ludwig strich sich über seine blonden, dichten Haare, seine braunen Augen, die ständig zu feixen schienen, als wollte sich der Kollege immer über etwas lustig machen, spähten zur Tür des Lehrerzimmers, wohl um sich zu vergewissern, ob die Kollegin, deren Privatleben sie gerade diskutierten, plötzlich auf der Bildfläche erschien. Er hätte sie, wie er betonte, vorhin schon auf dem Schulgang draußen gesehen.

„Klar“, meinte Elmar, „man muss schon beides miteinander vereinbaren können, das Private und das Berufliche. Wer das nicht kann, sollte die Finger von solchen Sachen lassen.“

„Wie zum Beispiel unser Karl Friedrich, was?“

Heberer grinste spöttisch, als er das, Reitmeier zugewandt, sagte.

Karl-Friedrich fühlte sich an seiner Ehre gepackt. Durch und durch Vernunftsmensch wollte er in gewissen Angelegenheiten auch nicht sein.

„Stellt’ euch vor, ihr seid dauernd mit euerem Typ zusammen“, erläuterte Heberer weiter, dabei gestikulierte er in einer Weise, als sei er gerade dabei, eine zarte Hammelkeule zu zergliedern, „Tag für Tag, Woche für Woche haltet ihr euch in der Nähe von so einem bezaubernden Wesen auf. Wenn sich dann auch noch eine Arbeitsgemeinschaft bildet und man steht so einem verdammt hübschen Fräulein ständig Aug in Auge gegenüber, dann muss es doch zwischen den beiden klingeln."

„Gut, wir wissen alle, was das bedeutet“, sagte Elmar, „ich möchte jetzt mal einen anderen Aspekt einbringen, einen ernsten Aspekt: Da war einmal ein Arzt und eine Krankenschwester, beide verheiratet, allerdings nicht miteinander. Und wie es halt so kommt: er und sie waren füreinander bestimmt, wie eben gesagt; und da beide ständig zusammen waren, haben sie schließlich…“

„... der Venus Tribut gezollt!“, ergänzte Reitmeier und lächelte verschmitzt, indessen Heberer laut loslachte.

„Donnerwetter! Sehr vornehm ausgedrückt“, meinte Heberer ironisch.

„Ja, aber die Sache bekam einen höchst tragischen Akzent. Der Ehemann der Krankenschwester kam hinter das Verhältnis. Er stellte eines Tages den Arzt in der Klinik laut redend, ja schreiend zur Rede, und als der die Liebesbeziehung abstritt, kam es zu einer Prügelei. Die hatte Folgen: der Arzt wurde vom Chef der Klinik entlassen, wegen Störung des Betriebsfriedens. Die Krankenschwester wollte aber partout nicht von ihm lassen, sie setzte das leidenschaftliche Verhältnis mit ihm fort. Darauf hat sich der Ehemann der Krankenschwester … das Leben genommen.“

„Au! Das ist aber zu dumm!“, entfuhr es Ludwig Heberer, und Karl Friedrich schaute ebenfalls betroffen drein.

„Ich meine“, sagte Elmar, „hier bekommt der Begriff Moral seine eigentliche Bedeutung. Hier geht es ja nicht um das Moralin-Saure, das sich über den freizügigen Sex allgemein echauffiert, sondern um ein im Kern verwerfliches Verhalten. Es ist unmoralisch, weil es die Existenz eines anderen tangiert, was heißt tangiert? Es vernichtet manchmal die Existenz eines anderen!“

Ludwig Heberer war anderer Meinung: „Ach Herr Je, man soll doch diese Angelegenheiten nicht so triefend ernst nehmen! Der Mensch ist nun mal auch Naturwesen. Wer immer und überall Moral und Anstand walten lässt und das Natürliche durch moralische Vorschriften knebelt, der wird dem wahren Wesen des Menschen nicht gerecht.“

„Ich meine auch“, schaltete sich Karl Friedrich ein, „die Natur ist meines Erachtens eine der großen Gefahren, die jeden von uns bedrohen. Leben heißt nun mal in Gefahr sein - hat glaube ich jemand mal gesagt - und eine dieser Gefahren ist eben die Natur. Man denke an Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche oder Feuersbrünste oder furchtbare Kältewellen. Auch die sogenannte Liebe kann wie ein Vulkanausbruch über uns hereinbrechen...“

„Über uns?“ warf Heberer ein und grinste.

„Ich meine: über den einen oder anderen! Hier kann man doch nicht mit der Moralmesslatte kommen, hier kann man nur noch...äh... wie soll ich sagen: nur noch ... sich abfinden.“

„Ja, abfinden ist das richtige Wort“, bekräftigte Heberer Reitmeiers Ansicht, „früher konnte man ja noch wegen Ehebruchs vor Gericht ziehen...“

„... und ganz früher durfte man sich duellieren und so seine Ehre wiederherstellen“, ergänzte Elmar.

„Och ja..., lang ist’s her und Gott sei Dank schon lange passé!“

Ludwig sagte das in energischem Ton und schlug mit der flachen Hand vernehmlich auf den Tisch, dass der Kaffee in den Tassen überschwappte. „Man hätte von dem Ehemann der Krankenschwester doch erwarten können, dass er sich vernünftig verhält. In solchen Situationen..., tja, was bleibt einem Mann anderes übrig...? Sich deshalb gleich das Leben nehmen..., also, ich muss schon sagen...“

„… zumal, andere Mütter haben auch schöne Töchter!“

Ludwig Heberer ließ diesen Einwand Elmars nicht vorbehaltlos gelten:

„Wenn man in die Jahre gekommen ist, Elmar, trifft der Spruch auf einen ältlichen Ehemann nicht mehr zu! Und wenn man an die Geschiedene und die Kinder viel Geld abdrücken muss, kann man die schönen Töchter erst recht vergessen.“

„Ja, ja, hast ja Recht“, sagte Karl Friedrich, „doch jetzt mal ein anderes Thema: Mir fällt gerade ein… gestern Abend … das Fernsehspiel…, das ich mir zusammen mit meiner Frau angeguckt habe, da ging es auch um die Liebe, und zwar um die wahre Liebe, die angeblich ein ganzes Leben anhält. Da sagte doch einer, es sei eine Illusion zu sagen, die Liebe der Geschlechter sei etwas Hehres, Erhabenes? Die sogenannte Liebe sei in Wahrheit ein Überwältigen eines anderen … oder einer anderen. Das heißt, die Liebe habe, realistisch gesprochen, viel mit gegenseitiger Unterwerfung zu tun. Dann zitierte er einen irischen Dichter….“

„George Bernhard Shaw!“, rief Elmar dazwischen, „ja, ich habe den Film auch gesehen.“

„Ja genau, den Shaw zitierte er: die Liebe sei eine Art Sklaverei, und zwar die einzige, die einem Vergnügen bereitet.“

Herberer lachte laut. „Die Liebe eine Sklaverei? Na, so ‘was Ausgefallenes habe ich noch nicht gehört. Wie will er das denn begründen?“

„George Bernhard Shaw meinte das doch nur ironisch“, befand Elmar.

„Mag ja sein, aber ein gewisses Quantum Wahrheit steckt schon in dem Satz; der Meinung war auch die Hauptfigur in dem Fernsehspiel.“

Karl Friedrich gestikulierte heftig und sein Auge nahm einen Ausdruck an, als würde er sich mit den Auffassungen George Bernhard Shaws und der Hauptfigur in dem Fernsehspiel vollkommen identifizieren; „er hat das so begründet - also, ich fand das interessant: Man müsse die Dinge nüchterner, prosaischer sehen, sagte diese Person in dem Fernsehspiel. Die Liebe habe viel mit Macht zu tun, mit Unterwerfung – also nicht physisch verstanden, sondern seelisch! Wenn ich zum Beispiel von einer Frau, ihrer Schönheit, ihrem Charme überwältigt bin – überwältigt, wohl gemerkt, sagt man doch oft, nicht wahr! Überwältigt! - und ich verliebe mich in sie, gleichzeitig verliebt sich dieselbe Frau auch in mich, sie ist also auch von mir überwältigt…“

„Von dir überwältigt?“ Ludwig Heberer lachte schrill, „bilde dir nicht zu viel ein, Karl, du magst zwar Charme haben, aber ob der eine Frau überwältigt?“

„Also jetzt mal im Ernst!“ Reimeier schaute seinen Freund verärgert an, „das ist doch nur mal ein Beispiel. Ich spreche von der gegenseitigen Liebe allgemein - und behaupte: beide sind voneinander fasziniert, beide üben gegenseitig…äh…, wie sagt man? - sie üben gegenseitig aufeinander Macht aus, sie überwältigen sich gegenseitig, das heißt…“ Karl Friedrich suchte verzweifelt nach Worten… „äh…das gegenseitige Überwältigen führt zu einer Art Ausgleich, es…äh… neutralisiert sich.“

„So, so, es neutralisiert sich! Interessant!“ Heberers Stimme triefte vor Ironie.

„Und das nennen wir eben Liebe, nicht wahr? Oder auch Glück oder was weiß ich? Beseligung, Sonnenseite des Lebens! Was sonst noch Liebe genannt wird, ist sinnliches Vergnügen, Sex, mehr nicht, habe ich nicht Recht, Elmar?“

Karl Friedrich schlug Elmar Redlich auf den Arm, „so wurde das doch in dem Fernsehspiel erklärt: die Liebe als Überwältigung…, sag‘ doch auch mal ‘was dazu!“

„Hm“, ich weiß nicht!“ erwiderte Elmar. Mehr sagte er zunächst nicht; auch Ludwig Heberer hüllte sich in Schweigen. „Der Sex allein ist doch sehr, sehr flüchtig“, fuhr Reimeier fort, „das weiß jeder. Also, solche Erklärungen, wie die in dem Film - sind sie nicht Realismus pur, nicht die volle Wahrheit über die sogenannte ‘wahre Liebe‘? So fragte auch die Hauptfigur in dem Fernsehspiel.“

„Alles ein bisschen …äh….grobschlächtig erklärt, ein bisschen derb“, meinte schließlich Elmar.

„Und ziemlich desillusionierend, was?“, ergänzte Heberer.

„Ich habe mit meiner Frau auch darüber diskutiert“, gab Karl Friedrich kleinlaut zu, „die war natürlich völlig anderer Meinung, die hielt an ihrer Meinung fest, die wahre Liebe sei etwas Großes und nicht etwas, was mit…äh….“

„….Vergewaltigung zu tun hat!“, unterbrach ihn Ludwig.

„Nein, nein! Nicht Vergewaltigung! So tief wollte dieser Dings da, diese Person im Fernsehspiel, die wahre Liebe auch nicht angesiedelt wissen; er sprach von Überwältigung…, seelischer Überwältigung… kraft der Ausstrahlung einer Person,… äh…“

„…eine gefühlsmäßigen Einwirkung….auf…eine Frau“, half Elmar weiter, „die dann dieser… Suggestion - könnte man auch sagen - verfällt… und umgekehrt verfällt der Mann der Frau.“

„Warum erzählst du uns das jetzt, Karl?“ Ludwig Heberer schaute den Freund und Kollegen erwartungsvoll und missmutig zugleich an.

„Na, wegen dieser Geschichte…, zwischen dem Arzt und der Krankenschwester, von der Elmar gerade gesprochen hat. Mir gab da der Satz zu denken: Sie konnte von dem Arzt nicht lassen, sie wollte das leidenschaftliche Verhältnis unbedingt fortsetzen, und das, obwohl sie verheiratet war. Die Frau war doch dem Mann verfallen, sie war von ihm überwältigt worden, seelisch! Irgendwelche Moralvorschriften oder Bitten des Ehepartners wären da total in den Wind gesprochen, in den mächtig wehenden Wind!“

„… in den Sturm der Liebe, was?“, bemerkte Heber und grinste, „ich möchte jedenfalls nicht, dass mir so ‘was auch mal mit meiner Frau passiert.“

„Ohne deiner Marion jetzt zu nahe treten zu wollen“, wandte sich Karl Friedrich mit einem flüchtigen, beinah mitleidigen Lächeln an den Freund, „aber so ‘was spielt sich in der Regel nur ab, solange unsere Frauen noch durch jugendlichen Liebreiz glänzen. Dann könnte es für jeden von uns heftig werden, wenn so ein Adonis auftaucht und die Frauen der Reihe nach verrückt macht. Bis in unsere biederen Ehen würde sich so ein Womanizer ganz sicher nicht vorarbeiten, der hält sich an das junge Gemüse, das knusprige, wohl anzuschauende Gemüse.“

„Na, da bin ich aber beruhigt“, meinte Heberer ironisch, „unser älteres, leicht angesäuertes Gemüse schmeckt dem Womanizer ganz bestimmt nicht mehr. Ich glaube, wir können aufatmen, Elmar, was?“

Ludwig schlug nun auch seinem Freund auf den Arm, und alle, nicht nur Elmar, lachten dröhnend, jeder trank noch einen Restkaffee aus und machte sich fertig zur nächsten Stunde, denn es hatte gerade zur Pause geschellt.

 

 

 

 

Beim Vetter Klaus (wieder im Banne Julias)

Elmar, in seinem Wagen sitzend, musste lächeln, als er an die Sprüche von Ludwig Heberer zurückdachte und an Karl Friedrich Reitmeiers Gerede von der ‘wahren Liebe‘. Er hatte inzwischen die Autobahn erreicht und konnte endlich seinem Wagen Tempo geben. Indem er jetzt voll auf das Gaspedal trat, sah er bald zu seiner Zufriedenheit, wie die Landschaften nur so an ihm vorbeiflogen.

 Doch das schnelle Fahren währte nicht lange; nach einer Strecke von gerade mal fünfzehn bis zwanzig Kilometern wurde er ganz plötzlich wie aus heiterem Himmel extrem müde, und er fing an, in einem Fort zu gähnen. Die lange Fahrt auf der mit LKWs vollgestopften Zubringerstraße, die von den Lastwagen ausströmenden Abgase, welche auch ins Wageninnere eindrangen, waren offensichtlich die Ursache seiner Müdigkeit. So entschloss er sich, auf dem nächstbesten Parkplatz anzuhalten, um dort erst einmal den lästigen, nicht ungefährlichen Schlafattacken durch ein kurzes Schläfchen entgegenzuwirken. Nachdem er also auf dem Parkplatz den Motor abgestellt und die Zentralverriegelung betätigt hatte, nahm er sogleich eine Schlafstellung ein, denn er erwartete, dass er rasch einschlafen werde. Doch da hatte er sich getäuscht. Statt zu schlafen, kauerte er weiter hell wach auf seinem Sitz und schaute missmutig über die uninteressante Landschaft rings um den Autobahnparkplatz. Dabei gingen ihm wieder Schulprobleme durch den Kopf, diesmal nicht ärgerliche Erlebnisse mit den Kollegen Heberer oder Reitmeier, sondern einige Szenen aus der 6. Stunde in der 12c. Er gehörte zu den Lehrern, die nicht schnell abschalten können: Schulereignisse und Schülerquerelen trug er meist lange mit sich herum. Zwei Sätze aus „Oedipus“ hatten im Mittelpunkt der Deutschstunde gestanden: Jokaste spricht zu König Oedipus: „Wozu plagt der Mensch sich mit Angst? Der Zufall herrscht! Vorsehung, klar bestimmte, gibt es nicht.“ Am Schluss dann, nachdem er sich selbst geblendet hat, schreit Oedipus: „Apollo war’s, Apollo tat’s, Grässliches, Grässliches ließ er mich leiden!“

Das Hin und Her der Schülerargumente wirbelte abermals in Elmars Kopf herum: War doch nicht Zufall am Werk, sondern lenkte Apollo das entsetzliche Geschehen hin zum Verhängnis und zur Schuld des Ödipus?

Verärgert über dieses Nachhallen der Schulstunde, versuchte er nun, die kreisenden Gedanken aus seinem Kopf zu scheuchen. Doch vergeblich! Als ihm noch der Spruch eines Schülers einfiel: ‚Müssen wir uns denn kurz vor den Ferien noch den Sophokles reinziehen?’, probierte er es mit einem alten Trick: Er sagte laut: „Gedanken stopp!“, dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück, schloss die Augen und presste beide Hände gegen die Schläfen. Tatsächlich, die Gedanken gehorchten, die Schulprobleme verflüchtigten sich, sein befreites Gehirn konnte endlich das ersehnte Einschlafsignal geben, und prompt fiel er entspannt ins Unbewusste. Doch die Entspannung hielt nicht lange an, denn schon wieder begann es in ihm zu träumen, wieder störte der alte, sattsam bekannte Alptraum seinen Schlaf, geisterte einige Zeit in seiner ruhebedürftigen Seele umher und erschreckte ihn mit seinen Schauerbildern. Natürlich blickten ihm da im Traum nicht Julias Augen entgegen. Er wusste das. Er wusste, diese vorwurfsvoll dreinschauenden Augen gehörten einer anderen Person, zu deren Gesichtzügen sich Julias Antlitz wie gehabt verwandelte, Gesichtszüge diesmal mit einem unheimlich starrenden, fast kam es ihm vor: drohenden Blick. Jäh aufwachend, ließ er überstürzt den Motor an und fuhr aus dem Parkplatz wieder hinaus auf die Autobahn.

Erschrocken war er auch, weil in dem Traum noch andere Figuren aufgetaucht waren, schon zum wiederholten Male: auch sie graue Gespenster aus fernen Zeiten, die er längst in den genannten Abstellkammern auf immer verschwunden glaubte. Sich zu wehren, die Türen der Kammern zu verriegeln, nützte ihm nichts; die Geister schlüpften durch die Ritzen und Spalten der Türen, schon standen sie vor ihm und starrten ihn mit rollenden Lemurenaugen an. Wie oft hatte er sich gewünscht, es gäbe eine Kraft in ihm, einen Lethe-Quell, der dieses Abgelebte mit all seinen unguten, manchmal kreuzunglücklichen Erlebnissen wegwischen könnte, als wäre es nie gewesen!

Nach dem Aufenthalt bei seiner alten Mutter in Walldorf, wo er allerdings nicht, wie Lisi versprochen, nur einen Tag, sondern mehrere Tage blieb, fuhr Elmar, wie geplant, Richtung Fernwald, um seinem Cousin Klaus Kerner zu besuchen. Schon von Walldorf aus hatte er den Zeitpunkt seines Eintreffens bei Klaus und Klara telefonisch angekündigt, um die beiden nicht unvorbereitet anzutreffen.

„Na endlich hast du dich einmal aufgerafft“, begrüßte ihn Klaus aufs Herzlichste, „es wurde ja auch Zeit, dass du uns mal besuchst, nach so vielen Jahren! - Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen? Na, zwei Jahre waren es bestimmt! - Du bleibst doch über Nacht?“

„Ich wollte eigentlich nur.  “

„Kommt nicht in Frage!“, sagte Klaus im Befehlston und blickte Elmar vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: Willst du mich beleidigen? „Selbstverständlich übernachtest du bei uns, das Gästezimmer wartet schon. Klara bereitet für heute Abend schon einiges vor; sie wäre bestimmt stocksauer, wenn du… “

„Also gut, ich bleibe   “

Elmar hatte bei dem freundlichen Ultimatum seines Cousins überhaupt keine andere Wahl; „aber morgen Vormittag spätestens muss ich weiterfahren!“

Klaus nickte zufrieden.

„Wie geht es zu Hause?“

„Danke, alles geht bestens! Lisi lässt euch herzlich grüßen.“

Beides stimmte ja nicht, weder Lisis herzliche Grüße noch dass mit ihm und Lisi alles im Lot sei. Doch er wollte halt bei seinen Verwandten deren Erwartung bestätigen, bei ihm zu Hause gingen die Dinge ihren normalen Gang. Klara und Klaus, an sich liebenswürdig und zuvorkommend, waren nichtsdestoweniger typische Besitzbürger, Klaus entschieden mehr als Klara. Gerne führten sie ihren Besuchern ihren Wohlstand vor, redeten auch immer von Ereignissen, die sowohl ihre und ihrer Kinder Erfolge dokumentierten als auch ihr Familienleben und ihr geselliges Einver- nehmen mit Freunden als durch und durch harmonisch spiegelten. Ob alles tatsächlich oder nur scheinbar zutraf, darüber wollte sich Elmar lieber keine Gedanken machen. Jedenfalls kann es ihm niemand verübeln, dass nun auch er sein Familienleben von der besten Seite präsentierte, dass er alles vermied, was Dissonanzen und Konflikte bei ihm zu Hause aufklingen ließ. Er kannte die beiden: Sofort würden sie anfangen, Unangenehmes in Betracht zu ziehen, und sie würden sich nicht scheuen, ihre Mutmaßungen durch Andeutungen zu erkennen zu geben.

Indem ihm solche beklemmenden Überlegungen blitzschnell durch den Kopf fuhren, sah er gleich wieder Lisis mürrisches Gesicht im Geiste vor sich, desgleichen fiel ihm ihr jüngster Vorschlag ein, sie beide sollten doch besser in getrennten Schlafzimmern schlafen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Wie gesagt: Elmar machte sich seit einiger Zeit Sorgen um seine Ehe.

Nachdem er auch Klaus’ Ehefrau Klara und die anderen Kerners, die kleinen Zwillingssöhne Armin und Andreas sowie die 14-jährige Tochter Kirsten begrüßt hatte, bezog er zunächst das Gästezimmer im Kernerschen Haus und richtete sich für eine Nacht häuslich ein.

Ob auch Julia schon da war? Irgendeinen Wagen mit dem Autokennzeichen von Weiden / Niederbayern konnte er vor dem Haus seines Cousins nicht entdecken! Na, vielleicht kommt sie noch!?

Sie alle setzten sich schließlich an den schon zubereiteten Kaffeetisch, aßen Kuchen und tranken Kaffee, sprachen über Alltägliches und Aktuelles, über Elmars lange Autobahnfahrt, über das Wetter und die Verwandten und Freunde, was man sich so alles erzählt, wenn man nach langer Zeit wieder einmal Gelegenheit bekommt, miteinander zu plaudern, und so zogen sich ihre Unterhaltungen den ganzen Nachmittag hin.

Allerdings, seine Ex-Verlobte ließ sich immer noch nicht blicken. Vielleicht hatte er seinen Cousin am Telefon doch falsch verstanden!?

Ihre Unterhaltungen gingen sogar am Abend munter weiter, nur unterbrochen durch das Abendessen, das Klara, eine sehr geübte Köchin, mit besonderer Raffinesse und liebevoll ausgewählten Zutaten für ihn, den seltenen Besuch, zubereitet hatte.

Trotz des kleinen Wehrmutstropfens, dass die Hausklingel der Kerners immer noch nicht die Ankunft Julias meldete, fühlte sich Elmar bei Klara und Klaus wohl. Ja, als sie später im Wohnzimmer, plaudernd und Gebäck knabbernd, zusammensaßen, geriet er sogar in eine ungewohnt fröhliche Stimmung. Er hatte auf dem Sofa der Kerners Platz genommen, neben ihm knisterte ein lustiges Kaminfeuer, Klara servierte einen feinen Bordeaux, und zwei, drei Gläser von dem edlen Wein fegten alle bedrückenden, schwermütigen Gedanken aus seiner Seele. So musste das passieren, was er an sich gerne vermied, weil er den bitteren Geschmack der  Ernüchterung am nächsten Tag schon mehrmals gekostet: Er blickte zurück, er erinnerte sich, zusammen mit seinen Gastgebern, den Weggefährten früherer Zeiten. Zwar taten sie es in heiterster Stimmung, und alle Abenteuer ihrer Jugend ließen sie in phantastischen Erzählungen aufleben, doch dieses wehmütige Schwelgen in alten Zeiten - Elmar kam sich dabei immer vor wie einer, der in einem Wald voller Trugbilder herumalbert, oder wie jemand, der ein Haus bewundert, nur weil es mit hübsch gemalter Vorderfront glänzt, die dürftige Rückseite aber nicht zur Kenntnis nimmt, die Seite mit der schmutzigen, abblätternden Fassade, den vor Dreck starrenden Innenhof oder den unansehnlichen, verwilderten Garten. Obwohl er von dem Schmutz wusste, blendete er bei solchen Rückblicken das Hässliche einfach aus und gab sich dann dem falschen Gefühl hin, das Leben sei in der Jugend unbeschwert und heiter gewesen, als hätte es um ihn herum damals einen schützenden Wall gegeben, von dem alle Sturzwellen des Lebens wie an einer ehernen, unbezwingbaren Mauer abprallten. Dieses trügerische Empfinden!, dachte er hinterher immer, wie oft hatte es ihn schon überwältigt, wie oft alle seine klaren, beherrschten Gedanken zum Schweigen gebracht und die Vergangenheit, in der er zusammen mit seinen Freunden heiter herumspazierte, mit rosigem Nebel gefüllt, wobei sich seine Augen oft derart eintrübten, dass er in seinen schwelgerischen Erinnerungen bezaubernden Gestalten zu begegnen rmeinte, die ihm aus erlesenen Parks und lieblichen Gärten zuwinkten und die allesamt liebenswert und hübsch aussahen, ja deren Blicke, obgleich verführerisch, betörend, dennoch wohlwollend und unschuldig auf ihn wirkten. Dabei wusste er genau, bei all seinem phantastischen Fabulieren und Sich-etwas-Vormachen, dass es damals auch gewisse gefahrvolle und zugleich faszinierende Abwege gab, welche ihn zum Hineingehen animierten, zugleich aber auch in Angst und Schrecken versetzten, und dass neben den bezaubernden Figuren mit ihren betörenden, aber im Grunde unschuldigen Blicken auch andere, gefährliche seinen Weg säumten, die nach seiner Seele wie Raubtiere mit krallenbewehrten Pranken langten, wobei sie keine Hemmungen kannten, diese Krallen auch unversehens herausfahren zu lassen.

Sollte das alles jetzt gleich wieder, vielleicht schon in den nächsten Minuten bedrückende Realität für ihn werden, dann nämlich, wenn Julia Lambertz hier zur Tür hereinkäme, wie ihm ja Klaus Kerner scheinbar oder wirklich angekündigt hatte? Sogleich stellte sich ihm diese Frage, und eine leise Erregung, die er bereits vom Telefonat mit Klaus her kannte, erfasste sein Herz. Doch beruhigte er sich auf der Stelle wieder: Das Verführerische - sprach er zu sich im Ton der Gewissheit - ist durch den Zeitablauf längst erledigt; er hätte da garantiert nichts mehr zu befürchten. Nur in der Erinnerung übersteigerte sich ihm manchmal die herzbezwingende Bannkraft der genannten Zauberwesen oder auch Julias Faszination zu einer Gefahr. Doch jetzt, in weinseliger Stimmung, zählte das Bedrückende nicht mehr, zumal auch Julia Lambertz sich den ganzen Abend nicht blicken ließ, jetzt trachtete Elmar nur noch danach, seinen Erinnerungen Glanz zu verleihen, den Zaubermantel der Illusionen über all das auszubreiten, was damals sein Tändeln und jungenhaftes Anschwärmen unversehens in Qual und Jammer verwandelt hatte. Der Zauberer Alkohol half ihm bei der Hervorbringung solcher tröstlicher Illusionen: alles Schwere, was ihm früher manchmal wie ein Mühlstein auf der Seele lag, ließ er leicht werden, einiges davon wischte dieser Hexenmeister einfach beiseite, als wäre es Schaum. So blieb an diesem Abend Elmar, so blieben Klara und Klaus bei jener beängstigend unbeschwerten Stimmung, die alles Vergangene unterschiedslos heiter betrachtet.

Am nächsten Tag sollte es mit der Illusion allerdings rasch vorbei sein: Klara bat ihn, einen Abstecher zu ihrer alten Mutter zu machen, die in Waldstädten am See wohnte.

„Meine Mutter war vor ein paar Tagen hier zu Besuch“, sagte sie, „und hat ihren Haustürschlüssel vergessen. Könntest du ihn ihr nicht vorbeibringen, Elmar? Waldstädten liegt doch auf deinem Weg!“

Der Name Waldstädten weckte in ihm keine angenehmen Erinnerungen.

„Meine Mutter wird sich über deinen Besuch sehr freuen!“

Klara bemerkte sein Zögern, doch da der Schlüssel offenbar so schnell wie möglich nach Waldstädten befördert werden sollte, streckte sie ihn Elmar, dem Zögernden, mit beinah flehender Gebärde entgegen.

„Immerhin hat sie dich seit 25 Jahren nicht mehr gesehen. Erst neulich sprach sie von dir.  “

Elmar konnte dem Bettelblick Klaras nicht widerstehen. Da er zudem nicht nur in ihren graublauen Augen, auch in den dunkelblonden, schulterlangen Haaren und dem hübsch geformten, vollen Mund die Ähnlichkeit mit der Schwester wahrnahm, sagte er, ohne weiter zu überlegen:

„Klar erfülle ich den Wunsch deiner Mutter!“

Auch wollte er nicht unhöflich sein; immerhin hatte er so einen netten, erinnerungsseligen Abend mit Klara und Klaus verbracht, und er war auch auf das Angenehmste verköstigt worden. Allerdings ein Abstecher nach Waldstädten, seiner alten Heimat.... - Elmar machte sich keine Illusionen, was das für ihn bedeutete: unweigerlich eine zweite Rückkehr in die Vergangenheit; diesmal nicht mehr auf malerischen Pfaden, hin zu den anmutigen Gefilden, wo er gestern Abend noch mit Klaus und Klara so gerne verweilte; diesmal musste er sich auf Ernüchterung gefasst machen und auf Desillusionierung. Denn er sah sich gezwungen, dieser anderen Vergangenheit gegenübertreten, dieser hässlichen, brutalen, und er müsste dann unverhüllte, illusionsfreie Blicke auf öde Hinterhöfe und verwilderte Gärten werfen. Jedes Haus in Waldstädten, jede Gassenbiegung, jeder  verwinkelte Vorgarten erzählten ihm eine andere Geschichte, eine, die er gerne in jene genannten Abstellräume für immer verbannen möchte, am besten zusätzlich eingehüllt in undurchdringlichen Nebel, hingezaubert von Meister Lethe!

Waldstädten galt ihm nicht als eine Stadt wie irgendeine, die man vielleicht ihrer reizvollen Lage wegen gerne aufsucht; Waldstädten war die Stadt seiner Jugend! Er war dort geboren; beinah 25 Jahre hatte er dort gelebt. Aber heute? - Schlug er lieber einen Bogen um das Städtchen. Und das hing mit gewissen aufwühlenden Erlebnissen zusammen, an die er sich höchst ungern erinnerte und an denen Frau Lambertz gewiss nicht wenig, um nicht zu sagen: lebhaften Anteil genommen; Frau Adele Lambertz, die Mutter von Klara Kerner; aber nicht nur von Klara, auch von - Julia! Julia Lambertz, seiner langjährigen Freundin. Um ein Haar nämlich wäre Julia seine Frau geworden und die alte Frau Lambertz infolgedessen seine Schwiegermutter, wenn..., ja, wenn diese Freundschaft nicht nach einigen Jahren in die Brüche gegangen wäre.

Dennoch, trotz aller Furcht, dieser bedrückenden Vergangenheit in Waldstädten erneut ins Auge blicken zu müssen - er konnte es nicht lassen, sich beiläufig nach Julia zu erkundigen, jetzt allerdings nahm er nicht mehr an, Klara würde noch von einem bevorstehenden Besuch Julias erzählen, die Hoffnung, seiner Ex-Verlobten noch einmal gegenüberzutreten, konnte er also getrost zu Grabe tragen.

„Julia geht es nicht so gut“, sagte Klara, „sie ist nicht ganz gesund. Ständig leidet sie an zu hohem Blutdruck. Und ihre Tochter Jana... - sie studiert Kunstgeschichte an der Uni Regensburg - aber Jana ist auch krank...“

„Sie war krank..., wolltest du sagen...!“

Klaus, der sich einschaltete, wollte die Erzählfreude seiner Frau bremsen; auch mit auffällig bohrendem Blick versuchte er ihren Mitteilungsdrang zum Schweigen zu bringen, doch vergebens.

„Warum soll Elmar es nicht wissen?“, ereiferte sie sich, „schließlich kannte er Julia einmal näher! - Also: Jana litt an einer geharnischte Depression. Das Kind wurde deswegen schon öfter behandelt.“

Arme Julia! dachte Elmar, während Klara, munter weitererzählend, sich über die Arten und Unterarten der Depressionen ausließ. Zwar hatte er so gut wie alle Erlebnisse mit Julia aus seiner Erinnerung verbannt, doch einiges wusste er noch: Julia war ein äußerst reizvolles Mädchen gewesen, auch erinnerte er sich jetzt, dass er es manchmal bereut hatte, die Liebe dieses Mädchens aufs Spiel gesetzt zu haben. Eine Zeitlang hatte noch die Eifersucht an seiner Seele genagt, denn der Zauber, den Julia auf ihn ausübte, verlor nur langsam an Kraft. Zu oft war er ihr noch in Waldstädten begegnet, dabei versuchte er sie immer zu ignorieren, gleichwohl entging ihm nicht, wie ihn ihr ernster, verführerischer Blick traf, und er, immer noch berührt vom Blitzstrahl ihrer Augen und von der Schönheit und lieblichen Anmut ihrer Gestalt, überlegte manchmal, ob er nicht versuchen sollte, ihre Liebe zurückzugewinnen. Doch aus Gründen, die ihm heute entfallen sind, war das wohl nicht möglich gewesen. Da er bald darauf Waldstädten endgültig Lebewohl sagte, konnte er sich langsam aus dem noch nachwirkenden Bann seiner zerbrochenen Liebe befreien.

„Julia wird übrigens auch in Waldstädten sein“, sagte Klara nun doch den Satz, den er insgeheim herbeigesehnt hatte, der ihn nun aber, da er ausgesprochen war – Eimar konnte sich das eigentlich nicht erklären - mit Angst erfüllte, „sie möchte sich ein paar schöne Tage bei ihrer Mutter machen.“

Das also hatte Klaus am Telefon gemeint; er hatte ihn also doch falsch verstanden; Julia besucht ihre Mutter, nicht ihre Schwester!

„Sie kommt doch sicher mit ihrem Mann?“, fragte er und ärgerte sich über das leichte Vibrieren seiner Stimme.

„Nein, sie kommt alleine. Ihr Mann hat keinen Urlaub bekommen!“

Nach einem Moment des Schweigens griff Klara nach einem Kuvert, das auf dem Tisch lag, und zog eine Fotographie heraus. Indem sie gleichzeitig das Foto einige Momente betrachtete, reichte sie es ihm. Dabei musterte sie ihn mit einem Blick, als wollte sie sagen: das wird dich garantiert brennend interessieren!

„Hier, ein Bild von Julia“, hörte er sie mit merkwürdig hohem Ton in der Stimme sprechen, „gerade erst aufgenommen, ich glaube, vor zwei Wochen. Da kannst du mal sehen, wie sie heute aussieht.“

Elmar betrachtete das Bild, eingehend. Zu seiner Überraschung oder richtiger müsste er sagen: zu seiner Bestürzung lächelte ihm auf dem Foto eine Julia entgegen, so wie er sie früher gekannt hatte, die Jahre schienen an ihr beinah spurlos vorübergegangen. Sofort wieder empfand er Sehnsucht nach ihr, es überkam ihn das unbedingte Verlangen, von diesen schillernden Augen leibhaftig angeblickt zu werden und von diesem wahnsinnig sinnlichen Mund noch einmal geküsst zu werden. Wenn es denn also passierte - sprach er zu sich - vielleicht schon in der nächsten halben bis dreiviertel Stunde, dass er Julia erneut verfiel...  

Verfiel? Abrupt hielt er inne; denn er war entsetzt über dieses Wort; entsetzt auch über sich selbst, über seine, wie ihm beinah schien: frevelhaften Überlegungen; entsetzt auch darüber, dass er, solche Eventualitäten in seinen Gedanken formulierend, das bisher Undenkbare überhaupt erst ins Leben rief. Was hätte das alles für Konsequenzen? Für Lisi, für seine Kinder, für Julias Mann? Oder war Julias Ehe sowieso schon gescheitert, genau wie vielleicht auch seine Ehe vor dem Aus stand, und also könnte er sich doch ruhigen Gewissens in eine neue Heimat flüchten, in ein neues Zuhause, das er bei Lisi nicht mehr vorfand? Kam seine einstige Verlobte nach Waldstädten, um ihm erneut die Hand zu reichen, ihn erneut „heimzuführen“, in eine neue Geborgenheit?

Energisch versuchte er diesen Gedanken beiseite zu schieben, obwohl er ihn andererseits auch wieder für nicht völlig abwegig hielt. Warum sollte ihm Klara den Besuch ihrer Schwester in Waldstädten ankündigen und gleichzeitig ausdrücklich darauf verweisen, Julia käme ohne ihren Mann, gerade zu der Zeit, wo auch er, ihr Ex-Verlobter Elmar, nach Waldstädten reiste? Klara hatte gestern Abend bei Julia angerufen, verriet sie ihm jetzt! Lag also nicht offenkundig die Absicht vor, Julia und ihn wiederzusammenzubringen?

Doch im selben Moment fiel ihm ein, er war als junger Mann ja gar nicht glücklich gewesen mit Julia, ja er hatte eines Tages sogar genug von ihr gehabt, er war - jedenfalls vorübergehend - geradezu von dem Wunsch beseelt, sich von ihr zu trennen. Auch meinte er, er wäre noch aus manch anderen Gründen dieser eventuell auf ihn zukommenden Veränderung in seinem Leben nicht gewachsen: Könnte er es zum Beispiel fertig bringen, seiner Ehe, die vielleicht noch nicht völlig am Ende war, den Todesstoß zu versetzen? –

Auf dem Weg nach Waldstädten: Erinnerung an das Zerwürfnis mit Julia

Elmar machte sich also auf den Weg nach Waldstädten. Kaum hatte er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen und die Auffahrt zur Autobahn genommen, als es heftig zu regnen anfing. Herbstlich kühle Schauer stürzten pausenlos vom Himmel, nicht enden wollende Wolkenbrüche peitschten heran und trommelten von links, rechts, von oben und von vorne an die Scheiben seines Wagens. Der Wald, die hügelige Landschaft, die er eben noch deutlich sehen konnte, waren hinter einer gewaltigen Regenwand verschwunden. Sturmböen trieben den Regen vor sich her, wirbelten die Tropfen immer wieder gegen die Fenster, wo sie prasselnde und knisternde Geräusche verursachten. Blitze jagten in grotesk gezackten Linien über den Himmel und schleuderten ihr fahles Licht über die Lande, und als der Wald, bislang nur als dunkle, unförmige Masse sichtbar, im bengalischen Licht der Blitze kurz aufschien, krachte es auch schon, beängstigend lange mit einem Getöse, als splittere im nahen Wald ein Baumriese auseinander. Fasziniert betrachtete er das Naturschauspiel. Gleichzeitig wunderte er sich, war doch ein Gewitter zu dieser Jahreszeit, im Oktober, nicht gerade üblich. Obwohl die Regengüsse die Sicht erschwerten und er nur mit gedrosseltem Tempo fahren und konzentriert auf den Verkehr achten musste, eilten seine Gedanken öfter zu den Ereignissen voraus, die in Waldstädten vermutlich auf ihn zukamen. Vor allem stellte er sich die Situation vor, wie er wohl von Frau Lambertz empfangen und in ihr Haus geführt werde. Das große Wohnzimmer der Lambertz, eigentlich eine größere und kleinere Zimmerhälfte, stieg mit all seinem Inventar in seiner Erinnerung auf. Wie oft hatte er dort auf dem langen Familiensofa gesessen, verabredet mit Julia, die er abholen wollte, um sie Gott weiß wohin auszuführen, wie viele Feste hatte er mit ihr und ihren zahlreichen Geschwistern in diesen Räumen gefeiert! Über zwanzig Jahre waren das nun her. Im Geiste schon wandelte er durch die beiden Zimmer, warf Blicke auf den massiven Bücherschrank mit all den unbenutzten Klassikerreihen, oder er inspizierte die Gemälde in der kleineren Zimmerhälfte. Zeitlebens war ihm eines in Erinnerung geblieben, welches das Werk eines Großonkels von Julia war, eines ehemaligen Rektors der Realschule von Waldstädten. „Der Geist des Bettelweibes“, lautete sein Titel oder so ähnlich. Gemalt war eine unheimliche Szene aus einer Novelle von Heinrich von Kleist, die der Rektor vermutlich sehr geschätzt hatte. Ein Ritter mit blutrotem Umhang steht in der Mitte einer Kemenate, schlägt mit seinem Degen wild in die Luft, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Feind. Seine Augen starren voller Entsetzen auf eine Stelle des Zimmers. Neben ihm weicht sein Hund mit gefletschten Zähnen vor irgendetwas zurück, vermutlich vor dem unsichtbaren, aber hörbaren Geist des Bettelweibes. Der Ritter sollte der Marchese der Kleist-Novelle sein. Er hatte das Bettelweib einst in unwilligem Ton hinter den Ofen verwiesen, wo das Weib zusammenbrach und verstarb. Später erschien es ihm als Gespenst, das heißt, er hörte stets nur ihre schlurfenden Schritte; immer wieder schlurfte es nachts in dem Zimmer und an dem Ofen, wo das arme Weib jämmerlich zugrunde gegangen war. Der Marchese aber, wahnsinnig geworden, zündete sein Schloss an und kam in den Flammen elendig um. Was für eine rätselhafte, absonderliche Verstrickung! dachte Elmar immer, wenn er das Bild betrachtete oder die Novelle von Kleist las; er kannte sie von seinen Deutschstunden her. Irgendeine Schuld des Marchese am Tod des Bettelweibes war nicht ersichtlich, ja man konnte noch nicht einmal annehmen, er hätte sich später, als das Gespenst auftauchte, an den Vorfall überhaupt erinnert; trotzdem erscheint das Gespenst, als wäre es sein personifiziertes schlechtes Gewissen, als wäre es von der Göttin Nemesis geschickt, um ihn für eine schlimme Tat büßen zu lassen.

Noch an andere düstere Gemälde in diesem Zimmer glaubte sich Elmar zu entsinnen, und er wundert sich noch heute, warum Julias Vater an solchen wenig anheimelnden Schicksalsbildern Gefallen fand. Denn nicht nur das „Bettelweib“ erzählte von einem furchtbaren Geschick, auch die anderen kündeten - soweit er sich erinnerte - von Verhängnis und Unglück. Sollte das Unheilvolle, Chaotische dieser Bilder an die ewige Drohung der Himmelsmächte gemahnen, oder hatte Herr Lambertz aus diesem Kontrast zu seinen wohlgeordneten Verhältnissen ein überhöhtes Selbstbewusstsein geschöpft?

Inzwischen hatte Elmar die Autobahn verlassen und war Waldstädten schon recht nahe gekommen. Auf einem Schild las er: „Waldstädten, 15 Kilometer“. In den nächsten Minuten durchfuhr er ein größeres Waldstück, und er hielt an einem Wanderweg an, da ihm dieser bekannt vorkam.

‚Ja, dieser Weg!’ murmelte er, durch das Seitenfenster auf das Waldstück blickend, ’so gerade läuft er in den Wald hinein, und hinten verliert er sich im Ungewissen, Dunklen! Ja, er ist es, ich bin ihn so oft mit meinen Eltern gegangen.’

Es war keine erbauliche Geschichte, die sich da in seine Gedanken drängte, zuerst in flüchtiger Gestalt, in wenigen schemenhaften Erinnerungsfetzen, doch nicht lange dauerte es, bis die Bruchstücke sich mehr und mehr zu wahren Schreckensbildern formten, und er war außerstande, sich der Gewalt dieser unentwegt aus seinem Seelenabgrund emporstürzenden düsteren Erinnerungen zu entziehen. Einst nämlich - so erzählten ihm diese Bilder - war er in sein Elternhaus zurückgekehrt, nicht geschmückt mit dem Lorbeer irgendeines gelungenen Abschlusses, auch nicht gestählt durch einen anderen Erfolg, auf den er stolz hätte verweisen können; nein, er konnte auf nichts verweisen, er war buchstäblich mit leeren Händen zurückgekehrt, er war beruflich gescheitert! Ohne fremde Hilfe konnte er damals nicht existieren, und also blieb er lange bei seinen Eltern wohnen, die ihn wie in früheren Zeiten umsorgten und ernährten. Zu allem Unglück hatte noch ein ausgeprägtes Burn-out-Syndrom alle seine Kräfte gelähmt.

‘Himmel noch mal’, dachte er, ‘was für Zeiten waren das! Wären seine Eltern nicht gewesen, er wäre jämmerlich zugrunde gegangen, in jenen dunklen Verliesen, die das Schicksal für manchen Zeitgenossen bereithält.’

Nachdenklich schaute er den Weg entlang. Er führte zunächst durch ein Stück Hochwald, um bald darauf im schwarzen Nadelgehölz eines Fichtenwaldes zu verschwinden. Da es schon lange aufgehört hatte zu regnen, stieg er aus und schloss den Wagen ab. Dann, nach einigem Zögern, indessen er sich weiter jene fernliegende, unglückliche Lebensphase vergegenwärtigte, gab er sich einen Ruck und bog in den Weg ein, der auf den genannten Fichtenwald zulief. Die Vergangenheit hielt ihn jetzt fest im Griff, und er konnte sich diesem nicht entziehen; ja, das Merkwürdige war: er wollte das gar nicht. Als ob er auf seine Vergangenheit süchtig geworden wäre, hielt er seinen Blick, beinah wie ein Voyeur, unverwandt auf all das Unangenehme, Katastrophale gerichtet, das ihn einst heimgesucht. Und Julia Lambertz hatte dabei eine wichtige Rolle gespielt, eine verhängnisvolle Rolle! Doch er war redlich genug, niemand anderem als sich selbst die Schuld an seinem Unglück zu geben, ein Unglück, das sich bald verschärfte, das sich wie ein scheußlicher, triefäugiger Begleiter an ihn kettete, als hätte dieser Geselle eine maßlose Zuneigung zu ihm entwickelt und er, Elmar, wäre außerstande gewesen, dieses hässliche, pockennarbige und krankmachende Individuum abzuschütteln. Als Unbill und Verhängnis bei ihm nicht aufhören wollten, glaubte er sich schon von wütenden Erinnyen verfolgt; dann wieder verglich er seine heillose Lage mit einem Labyrinth, in das man ihn zur Strafe hineingestoßen. Aber zur Strafe weswegen? Und wer hätte die Strafe befohlen? Das Schicksal? Gott? - Elmar hatte sich schon Hunderte Male über diese Fragen das Hirn zermartert. Doch an irgendeine gemeine, niederträchtige Tat, die er je begangen haben könnte und die vielleicht die rächende Nemesis auf den Plan gerufen, erinnerte er sich nicht. Hing es vielleicht damit zusammen, dass er den Bruch mit Julia fahrlässig herbeigeführt hatte? Er konnte allerdings nie und kann auch jetzt nicht in diesem Verhalten ein gravierendes Unrecht erkennen, allenfalls hat er, falls es sich wirklich so zugetragen, Julia gegenüber nicht ganz korrekt gehandelt.

Jedenfalls fühlte er sich damals wie in einem Labyrinth gefangen: Monatelang, wenn nicht Jahre kam es ihm vor, als stolperte er auf endlosen Wegen umher oder er irrte in verschachtelten Gängen von Tür zu Tür, ohne eine offen zu finden, offen für einen Weg zurück in die Freiheit, zurück in ein halbwegs normales, bürgerliches Dasein. Hinzu kam die rätselhafte Erkrankung: Eine Depression, ein schweres Burn-out- Syndrom seien schuld an den wiederkehrenden Lähmungszuständen, sagten ihm die Ärzte, schuld auch an der nur schwer zu behebenden körperlichen Schwäche. Auch Gedächtnis-und Konzentrationsstörungen suchten ihn heim, verbunden mit Reizbarkeit und Grübelzwang.

Erst nach langer Zeit wendeten sich die Ereignisse wieder zu seinem Vorteil, und sein Leiden fand allmählich ein Ende: Ein Arzt entdeckte gegen alle Erwartung ein Medikament, welches seiner Krankheit endlich Einhalt gebot; die Lähmungssymptome verschwanden, die Reizbarkeit und die körperliche Schwäche ließen nach, die alten Kräfte kehrten zurück. So konnte er endlich doch noch einen Ausweg aus diesem unheimlichen Labyrinth finden, in dem er sich die ganze Zeit wähnte, buchstäblich in letzter Sekunde kroch er aus den Gewölben seiner Erniedrigung heraus und kehrte in ein freies, respektables Leben zurück. -

Elmar schaute auf die Uhr. Er musste seinen fatalen Überlegungen Einhalt gebieten, denn er hatte noch viel vor in Waldstädten. Vor allem wollte er Frau Lambertz und Julia, falls sie schon eingetroffen war, nicht zu lange warten lassen. So schob er die unaufhörlich auf ihn einstürzenden Erinnerungen beiseite, warf sie einfach weg, wie man ein zu schwer gewordenes Gepäckstück wegwirft, und kehrte eiligen Schrittes zu seinem Wagen zurück. Rasch ließ er den Motor an und fuhr bald darauf auf der Landstraße weiter, Richtung Waldstädten.

Nicht lange dauerte es, und er war in Waldstädten angekommen. Da er nun seit langer Zeit wieder einmal in seiner alten Heimatstadt weilte, überlegte er, ob dieser Aufenthalt nur dazu dienen sollte, einer Bekannten, die ihm eigentlich herzlich fremd geworden, einen Besuch abzustatten. Gewiss, seine einstige Verlobte sollte auch zugegen sein, und nicht zuletzt diese Aussicht, Julia wiederzusehen, hatte den Ausschlag gegeben, dass er sich zu diesem Abstecher nach Waldstädten heute früh entschloss. Aber Julia wäre ja morgen auch noch da und übermorgen ebenso. Die erneute Begegnung mit ihr könnte er also verschieben, ja, der Gedanke eines Aufschubs war ihm ganz recht, er könnte sich dann auf dieses Zusammentreffen, das ihn bereits seit seinem Aufenthalt bei den Kerners in eine lange nicht gekannte Erregung versetzt hatte, etwas besser einstimmen. Die Zwischenzeit könnte er dazu nutzen, Waldstädten und Umgebung neu zu entdecken und natürlich auch alte Orte seligen Angedenkens aufzusuchen, an denen er früher oft verweilte und mit denen er viele gute, leider oft auch unschöne Erinnerungen verband.

Da er ohnehin schon auf zahlreichen Wegen der jüngeren und auch der ferneren Vergangenheit gewandelt war, sträubte er sich gar nicht mehr gegen dieses Verlangen, in die früheren Zeiten zurückzublicken, ja, er war fast schon, wie auch zuvor in dem Waldstück nahe Waldstädten, auf seine Vergangenheit regelrecht süchtig geworden. Dieses Suchtempfinden war sogar noch stärker, noch überwältigender geworden als vor einer halben Stunde. Erinnerungen voller Wehmut zogen ihm auf einmal in bunten Bildern durch die Seele, bemächtigten sich ihrer mit betörender Zaubergewalt, brachten alle seine Entschlüsse des Vortages, unter keinen Umständen in die Vergangenheit zurückzutauchen, zum Einsturz. Von der Faszination ständig neu aufsteigender Erinnerungen überwältigt, war er jetzt fest entschlossen, länger in Waldstädten zu bleiben, nicht nur einen Tag, sondern zwei, vielleicht sogar drei Tage länger, und die Gelegenheit wollte er dazu nutzen, sein Elternhaus und seine nähere, ihm einst so teure Umgebung noch einmal zu besuchen, ein letztes Mal und dann nie wieder! Oder sollte es vielleicht doch noch mehrere, am Ende sogar viele, viele Male geschehen, dass er solche erinnerungsseligen Streifzüge in die Vergangenheit unternehmen könnte; dann nämlich, wenn Waldstädten und auch seine Umgebung für ihn zur neuen alten Heimat avancierte? Aber solche Vorstellungen entsprangen zunächst nur seinen irrationalen Wünschen - rief er sich zur Ordnung - man könnte das auch törichte Spekulation nennen - oder noch besser: Hirngespinste! Als ob Julia zu so etwas..... - doch er wollte diesen Wahnsinnsgedanken nicht zu Ende denken. Es war einfach - und er sagte das jetzt laut zu sich: „Es ist alles zu albern, was ich mir da zurechtphantasiere!“

So sprach er, im entschiedenen Ton. Vielleicht aber, überlegte er weiter, seinen ursprünglichen Plan endgültig über den Haufen werfend, vielleicht könnte er dem einen oder anderen Bekannten aus alter Zeit einen Besuch abstatten, vorausgesetzt, sie lebten noch in Waldstädten oder in seinem Heimatdorf, sie seien zurückgeblieben dort in dem Nest hinter den Wäldern, seien von Anfang an sesshaft geworden, heimatverbunden, verwurzelt mit ihrer Scholle, von der sie nicht lassen konnten oder nicht lassen wollten.

Da der Herbstregen, der ihn auf der Fahrt vorübergehend begleitete, schon lange aufgehört, die dunklen Wolken sich längst verzogen hatten und die Sonne immer öfter durch die nun aufgelockerten Wolken hindurchschaute, zuerst schüchtern, verstohlen, dann immer ungenierter, schließlich ihr volles strahlendes Antlitz vorzeigend und ein freundliches Licht über die Lande ausgießend, beschloss er, sein Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen. Er fuhr zu dem Hotel Krone, das ihm von früher her ein heimatlicher Begriff war, buchte dort ein Zimmer für zunächst eine Nacht. Dabei blickte er neugierig in das Gesicht der Hotelangestellten, ob es ihm bekannt vorkam und das Mädchen vielleicht, einen Alteingesessenen wiedererkennend, freudig reagierte. Jedoch stand da eine fremde Person vor ihm, die ihn nur geschäftsmäßig-freundlich anlächelte.

Sein Gepäck ließ er von einem Hotelboy auf sein Zimmer bringen, dort zog er sich rasch eine saloppe Wanderjacke über und wechselte die Schuhe. Dann ging er hinunter in den Speiseraum des Hotels, um dort zu Abend zu essen. Danach blieb er noch eine Weile am Tisch sitzen und blätterte zerstreut in einer Illustrierten. Es war noch früh am Abend. Sollte er die Zeit nicht doch noch – wie ursprünglich geplant – zu einem Bummel durch die Kleinstadt nutzen? Mal flüchtig da und dorthin schauen, um zu sehen, was sich alles verändert hatte oder was noch so aussah, als wäre es für alle Zeiten und unveränderbar in Stein gehauen? Ja, sagte er leise zu sich, wenn ich schon in Waldstädten nach langer Zeit wieder einmal zu Besuch weile, dann gehört ein solcher Bummel doch zu seinem Pflichtprogramm. Also erhob er sich und verließ das Hotel. Draußen war es noch hell. Die Schlossstraße hinuntergehend, erreichte er bald den Marktplatz.

Besuch bei einem alten Klassenkameraden, einem Kunstlehrer

Verstörende Kunstinterpretationen des Kunstlehrers

Als er von dort aus, die Sachsenhäuser Straße entlang gehend, das Ortsausgangsschild von Waldstätten passierte - Waldstätten war keine große Stadt, man erreichte bald, auf jeder Straße promenierend, die Stadtgrenze - fuhr ein Opel Rekord an ihm vorbei, bremste mit quietschendem Geräusch und blieb stehen.

Indem Elmar auf den Wagen zuging, wurde dessen Tür geöffnet und ein untersetzt wirkender Mann stieg aus und lächelte ihm entgegen.

„Ist er’s oder ist er’s nicht?“, rief der Mann aus, „Elmar Redlich! Tatsächlich, er ist es! Guten Tag, Elmar!“

Aus einem rundlichen Gesicht blickten ihn kleine, fast schlitzartig zugekniffene Augen an. Während Elmar ein kräftiges Händeschütteln über sich ergehen lassen musste, überlegte er krampfhaft, mit wem er es zu tun hatte. Doch schnell hatte er ihn erkannt: ein Klassenkamerad, Holger Retzlaff, stand vor ihm und lächelte ihn freundlich an.

„Holger! Du bist es? Beinah hätte ich dich nicht erkannt!“

„Ist doch klar, Elmar! Nach 25 Jahren…! Oder sind es sogar 30? Da erkennt man einen alten Kameraden nicht mehr so auf Anhieb!“

„Du hast Recht! Ich musste tatsächlich zweimal hingucken, um dein Gesicht … irgendwie…. Doch jetzt sehe ich klar. Wie geht es dir? Bist du immer noch Lehrer hier in Waldstädten?“

„Nicht in Waldstädten, in Lauterbach. Ich wohne aber nach wie vor in Waldstädten.“

„Aha!“

„Weißt du, man hängt halt an der Heimat. Ein Wegzug von Waldstädten kam für mich nie in Frage“

„Klar! Verständlich!“

Elmar erwartete jetzt die üblichen Fragen, nach seinem Werdegang, seinem Beruf, seiner Familie.

„Und wie geht es dir? Bist wohl Rechtsanwalt geworden, was? Oder Staatsanwalt?“

„Äh…, nein…, da ist leider nichts d’raus geworden…, aus Gründen… - es führt zu weit, dir das alles zu erklären…Ich bin…“

Holger Retzlaff legte seine Hand beschwichtigend auf Elmars Arm.

„Lass es gut sein, Elmar! Jeder soll mit dem zufrieden sein, was er auf dieser nicht immer angenehmen Welt erreicht hat, um mal das unpassende Wort ‘Härte des Lebens‘ zu vermeiden.“

Elmar blickte sein Gegenüber aufmerksam an. Er erwartete, nach diesen Worten, wenig Mitgefühl in dessen Miene, dafür viel Arroganz oder auch ein unangenehm wirkendes Mitleid. Doch zu seiner Überraschung strahlten Holger Retzlaffs blaugraue Augen Gutmütigkeit und Herzlichkeit aus. Überhaupt wirkte sein Gesicht angenehm und gewinnend, im Ganzen etwas blass, nur im Bereich der Nase, Wangen und Schläfen leicht gerötet. Als Kleidung trug Holger ein weinrotes offenes Jackett, darunter ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Die schwarze Stoffhose bildete einen hübschen Kontrast zur Jacke. Holgers schmale Lippen waren zu einem dauerhaften Lächeln verzogen, was Elmar als etwas aufgesetzt, beinah schon unsympathisch empfand, jedoch im weiteren Verlauf ihrer Unterhaltung störte er sich nicht mehr daran. Die dunkelblonden Haare des Freundes von ehedem bildeten zu der sonst soliden, ordentlichen Kleidung einen auffallenden, beinah schrillen Kontrast. Sie hingen dem Mann in Wuschelart unordentlich um den Kopf, waren teils hochgebauscht, teils bewegten sie sich an den Seiten wellenartig vom Kopf weg, als hätte Holger Retzlaff sich Beethovens Künstlerfrisur zum Vorbild genommen. Doch dieser Künstlerhaarschnitt fand bald eine Erklärung, als Holger gleich von seiner beruflichen Tätigkeit Näheres erzählte.

„Wir haben übrigens zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter“, fügte er noch hinzu; „beide gehen noch zur Schule, auf die Realschule von Waldstädten.“

„Wie ich sehe, bist du so ein bisschen in der alten Heimat unterwegs, Elmar“, fuhr Holger Retzlaff fort, „willst wohl mal wieder alte Erinnerungen auffrischen, wie? Bist du in einem Hotel abgestiegen!?“

„Ja, im Hotel Krone.“

„Ah ja, immer noch ein gutes Hotel! Man kann sich da wohlfühlen.“

Elmar nickte bestätigend. Er hatte das Gefühl, Holger Retzlaff wollte sch rasch von ihm verabschieden, was ihm durchaus willkommen gewesen wäre, schon um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, Fragen, die sich auf die früheren Zeiten bezogen. Doch es kam anders.

„Du, ich mach‘ dir einen Vorschlag: Komm doch mit zu uns! Ich lade dich zum Abendessen ein. Meine Frau wird leicht noch ein viertes Gedeck herbeiholen, und ein paar belegte Brote mehr - das wird sie auch noch schaffen. Wir können

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.10.2023
ISBN: 978-3-7554-5868-5

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