Cover

Julia oder die wahre Liebe

Eine Erzählung

 

Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

 

Erscheinungsjahr: 2023

 

Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Heinz-Jürgen Schönhals

hschoenhals@yahoo.de

 

 

 

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Inhaltsangabe:

Reinhard Dellinger, in seiner Ehe nicht besonders glücklich, weilt zu Besuch bei seinem Cousin. Dessen Ehefrau Klara bittet Reinhard am nächsten Tag, ihrer Mutter in Waldeck, Frau Falk, etwas Wichtiges zu überbringen. Auch seine frühere Verlobte Julia, verheiratete Esser, weile zur gleichen Zeit in Waldeck, sagt ihm Klara, die Schwester Julias; sie wolle ihre Mutter besuchen. Ein erneutes Zusammentreffen mit der immer noch attraktiven Julia fürchtet Reinhard und sehnt es gleichzeitig herbei. In Waldeck trifft er sich zunächst mit einem alten Schulfreund. Der, ein Lehrer für bildende Kunst, führt Reinhard einige Bilder in seinem Bilderkabinett vor. Ein Gemälde von Edvard Munch beeindruckt Reinhard derart, dass er nachts von einer Person des Bildes träumt. Am nächsten Tag besucht Reinhard Frau Falk. Da Julia noch nicht da ist, verbringen sie die Zeit mit Erzählungen. Frau Falk macht wie schon Klara seltsame Bemerkungen über Julia und ihren Mann, die beide in ihrer Ehe gar nicht glücklich seien. Überrascht ist Reinhard, dass er den gleichen Bilddruck, den ihm sein Schulfreund so ausgiebig beschrieben hat, wiedersieht; er hängt über einem Schreibsekretär im Wohnzimmer von Frau Falk. Ob Julia nun, wie erwartet, bei ihrer Mutter eintrifft und welche Konsequenzen das für Reinhard hat, wird am Schluss der Erzählung geklärt.

Inhaltverzeichnis

1. Kapitel: Reinhard Dellingers tristes Alltagsleben

 

2. Kapitel: Dellingers Urlaubsfahrt zu Verwandten

 

3. Kapitel: Gespräch mit Freunden über ‘die wahre Liebe‘

 

4. Kapitel: Der Aufenthalt bei Cousin Klaus Eggebrecht

 

5. Kapitel: Reinhards Fahrt nach Waldeck

 

6. Kapitel: Das Elternhaus und der Garten

 

7. Kapitel: Besuch bei einem Schulfreund, einem

    Kunstlehrer

 

8. Kapitel: Der Alptraum von der ‘dark lady‘

 

9. Kapitel: Der Besuch bei Frau Falk

 

10. Kapitel: Rückfahrt

1. Kapitel: Reinhard Dellingers tristes Alltagsleben

(Mancher Traum führt ihm auch ein Leben an der Seite seiner einstigen Verlobten Julia Falk vors träumende Auge, die er irgendwann - im Traum - geheiratet hat und mit der er in einer prachtvollen Villa lebt.)

 

Der Krankenpfleger Reinhard Dellinger, ein Mann um die Fünfzig, hat nachts oft seltsame Träume, und er ist darüber nicht wenig beunruhigt. Immer wieder träumt er, er forsche nach der Adresse von Julia Falk, mit der er früher einmal verlobt war. Dabei weiß er genau, wo Julia heute wohnt: in Weiden, einer Stadt in Bayern, und sie ist dort verheiratet mit Jost Esser, einem Bankangestellten. Manchmal auch begegnet ihm Julia im Traum, und er bittet sie dann, ihm ihre Adresse mitzuteilen. Doch als sie ihm sagt, sie wohne bei Hamburg, in einer idyllischen Kleinstadt, wobei sie ihm den Namen der Stadt und die Straße nennt, merkt er, dass er gar nicht mit Julia redet, sondern mit einer völlig anderen Frau, in der er schließlich eine flüchtige Bekannte aus früherer Zeit erkennt. Die war gelegentlich am Rande seines jugendlichen Freundeskreises aufgetaucht. Ihr Name ist ihm allerdings entfallen.

Da er schon oft von derartigen Traumgesichten heimgesucht wurde und diese ihm allmählich auf die Nerven gehen, überlegt er, ob er nicht einen Psychologen zu Rate ziehen sollte, der ihm die Ursache solcher nächtlicher Gaukelspiele erklären und ihn vielleicht davon befreien könnte. Doch rasch verwirft er den Plan wieder, er kommt ihm albern vor. Außerdem lässt er nur ungern jemanden in seiner Vergangenheit herumspähen, denn darauf läuft es doch hinaus: der Therapeut wittert irgendein Trauma, welches er, Reinhard, nicht verarbeitet hat und das nun in aberwitzigen Träumen ständig wiederkehrend Gestalt annimmt. Schon würde er nach Details fragen, würde sich anschicken, das Allerintimste aus Reinhards Kindheit, seiner Jugend, seiner frühen Mannesjahren hervorzuzerren, um es zu inspizieren. Nein, so etwas kommt für ihn nicht in Frage!

Stattdessen überlegt er, ob er nicht selbst die Sache in die Hand nehmen sollte. Vielleicht könnte er einmal versuchen, die Störquelle, welche für seine Alpträume verantwortlich ist, durch eigenes Nachforschen aufzuspüren und zu beseitigen. Heilen durch Erinnern - so könnte das Programm seiner Selbsttherapie lauten. Eventuell haben sich bei ihm Schuldgefühle zu einem Schuldkomplex oder zu viele unglückliche Erlebnisse zu einer Angstneurose aufgeladen, und beide drängen nun als Alpträume aus seinem Unterbewusstsein hervor, verhageln ihm den Nachtschlaf, produzieren ständig Missbehagen, Melancholie und traurige Stimmung am Morgen danach. Wäre es da nicht naheliegend, etwas in seiner Vergangenheit herumzustöbern, dabei den Blick akribisch auf außergewöhnliche Stresserfahrungen oder eine Serie von Unglücken oder gar Katastrophen zu lenken, welche einst sein Leben für einige Zeit verfinsterten? Er brauchte dann nur noch die Stress auslösenden Ereignisse mit gezielten Fragen anzugehen und durch eine gründliche Analyse zu zergliedern und zu zerlegen - schon müsste die Erregung in seinem Unterbewusstsein abflauen, schon wäre seinen fatalen Träumen die Energie entzogen; auch seine innere Stabilität könnte er durch ein solches „therapeutisches Erinnern und Erörtern“ wiederherstellen!

Jedoch gibt es da ein nahezu unüberwindliches Hindernis: Reinhard Dellinger blickt nicht gerne zurück. Allenfalls tut er es unfreiwillig, bei einem Treffen mit alten Freunden, wenn sentimentale Erzählungen und der Zauberer Alkohol seine Seele übertölpelten. Im nüchternen Zustand kommt ihm die Vergangenheit immer wie eine verstaubte Dachkammer vor, in die hineinzugehen er nicht die geringste Lust verspürt. Denn was erwartete ihn dort anderes als ein düsteres Reich der verrotteten Objekte, wo ihn fortwährend der kalte Hauch des Unabänderlichen und Unwiederbringlichen anweht, wo er sein einst pralles, buntes Leben nur noch in vergilbten Fotos, altfränkischen Gemälden oder verwaschenen Aufzeichnungen betrachten oder rückschauend in Selbstgesprächen erörtern kann? Und in diese ihn nur trübsinnig, nur grüblerisch stimmende Dachkammer sollte er also hineingehen, die Störquelle, die sich dort eingenistet, aufspüren und den Schalter an dem Störapparat entschlossen umlegen, auf dass mit diesem einen erlösenden Handgriff allen seinen entsetzlichen Traumgesichten - gewissermaßen mit einem Schlag - der Antrieb, der Strom abgedreht wäre? Und wenn er die Störquelle nicht findet? Wenn sie in der Masse der Ereignisse, die schattenhaft, konturlos in seiner Erinnerung an ihm vorbeiziehen, überhaupt niemals vorhanden war?

Nein! Lieber lässt er sich von seinen fatalen Träumen weiter behelligen, nimmt es weiter in Kauf, dass er erhebliche Energie nach manchem unruhigem Nachtschlaf aufwenden muss, um diese Träume, die ihn in Angst und Schrecken versetzen, zu verarbeiten, das heißt sie als bedeutungslosen, lästigen Gedankenmüll beiseitezuschieben, statt sich seiner Vergangenheit zu stellen, das heißt mit großem Widerwillen in der besagten Dachkammer das Unsägliche in Angriff zu nehmen: den Marsch zurück ins Schattenreich des Gewesenen, um dort den ganzen, in dunkle Nischen, hinter verriegelte Türen weggeschobenen Ereignismüll - vielleicht vergeblich - hervorzukramen.

Ja, so denkt Reinhard Dellinger nun einmal über seine Vergangenheit, so negativ, so verbittert, und es ist deshalb nur zu begreiflich, dass er zögert, überhaupt auf seine Vergangenheit zurückzublicken. -

Reinhard übt schon seit Jahren seinen Beruf als Krankenpfleger am Ludwig-Aschoff-Krankenhaus in B*** aus. Die Arbeit dort ist aufreibend. Wochenenddienste sowie Früh-, Spät- und Nachtdienste gehören zu seinem Alltag. Hat er Frühdienst, klingelt schon um halb fünf der Wecker, der Spätdienst endet meist erst um 21 Uhr, zum Nachtdienst muss er zweimal die Woche antreten. Dann hat er als Krankenpfleger Dinge zu tun, vor denen sich manch einer ekelt. Zu den angenehmeren Tätigkeiten gehören noch die üblichen Versorgungsdienste: Blutdruck, Puls, Temperatur messen, Ärzten und Ärztinnen bei Punktionen oder Infusionen assistieren, Patienten auf Operationen vorbereiten. Unangenehmer wird es, wenn er pflegebedürftigen Patienten beim Waschen helfen oder gar stinkende Wunden behandeln oder sich um Menschen mit Harn- oder Kotabgangsstörungen kümmern muss. Auch mit renitenten, psychisch gestörten Patienten hat er nicht selten zu tun. Manchmal muss er am Morgen 10 oder 12 "Problem-Patienten" innerhalb kurzer Zeit versorgen. Die meisten können sich nicht selbst waschen, nicht selbst umdrehen, nicht alleine essen oder selbständig auf die Toilette gehen. Rasch schnappt sich Reinhard dann seine Ausrüstung - darunter Waschschüssel, Hand- und Badetücher, Inkontinenzunterlagen und jede Menge Windeln - und macht sich an die Arbeit. ‘O Stress, lass nach!‘ - stöhnt er dabei oft, jedoch flüstert er das nur in sich hinein, denn zu den Patienten muss er freundlich sein, darf mit tröstenden oder aufmunternden Worten nicht geizen. Doch zuweilen überfällt ihn die Befürchtung, er könnte dem Stress und den ständig steigenden Anforderungen auf Dauer nicht standhalten. Neulich quittierte ein älterer Kollege den Dienst, wegen Burn-out-Syndroms. Reinhard Dellinger meinte daraufhin, dieses Syndrom könnte bald auch ihn treffen, das heißt Schwäche und Mattigkeit kämen unaufhaltsam auf ihn zu, bis am Ende – vielleicht schlagartig – alle seine Kräfte verkümmerten und erlahmten. Doch schnell reißt er sich wieder am Riemen, verscheucht solche negativen Gedanken und redet sich ein, er übe einen interessanten Beruf aus, zu dem er von jeher Neigung und Talent entwickelt habe.

Gelegentlich träumt er nachts von einem anderen Leben, das ihm wegen außergewöhnlich widriger Umstände, die ihn zur Aufgabe seines Medizinstudiums zwangen, entgangen ist. Er sieht sich dann meistens als Chefarzt eines Krankenhauses seinem gehobenen Beruf mit großer Leidenschaft nachgehen. Mancher Traum führt ihm auch ein Leben an der Seite seiner einstigen Verlobten Julia Falk vors träumende Auge, die er irgendwann - im Traum - geheiratet hat und mit der er in einer prachtvollen Villa samt ebenfalls prachtvollem Garten lebt, zusammen mit ihren Kindern, und sie genießen das Leben, sozusagen an einem paradiesischen Ort, in vollen Zügen. Wie gesagt: alles nur im Traum! Die Realität sieht anders aus: Statt zum Chefarzt oder überhaupt zum Arzt hat er es nur zum Krankenpfleger an einer Klinik gebracht, und er lebt in einem Vorort von B***, allerdings nicht zusammen mit Julia, sondern mit seiner Frau Gudrun und ihren beiden Kindern Elena und Ingeborg; auch wohnen sie nicht in einer Villa, sondern in einer Mietwohnung. Irgendwann vor Jahren, nachdem er die Uni. verlassen hat und dann mancherlei Umwege gehen musste, an die er sich nur ungern erinnert, ist er in einer Krankenpflegerschule gelandet, hat dort schließlich die Abschlussprüfung bestanden und durfte sich staatlich geprüfter Krankenpfleger nennen. Am Ludwig-Aschoff-Krankenhaus in B. ist er dann, als Krankenpfleger in der chirurgischen Abteilung, hängengeblieben.

Zweimal im Jahr nimmt Reinhard Dellinger für je zwei Wochen Urlaub. Dann fährt er mit seinem Wagen zu seiner alten Mutter ins Hessische, meistens alleine. Denn seine Frau, ein häuslicher Typ, bleibt lieber zu Hause bei Elena und Ingeborg. Vor allem lehnt sie es ab, ihre Schwiegermutter zu besuchen, die in W*** bei Groß-Gerau wohnt.

Zweites Kapitel: Dellingers Urlaubsfahrt zu Verwandten

(Die Aussicht, seiner Ex-Verlobten wieder zu begegnen, hatte Reinhard schon während des Telefonats mit Klaus in eine freudig erregte Stimmung versetzt. Dabei hatte er kurz zurück an die Zeit mit Julia vor 25 Jahren gedacht…)

 

Auch diesmal, zu Beginn seines zweiten Urlaubs, wollte Reinhard wieder zu seiner Mutter fahren, und wieder sollte er die weite Strecke aus den genannten Gründen alleine zurücklegen. Er hatte schon am Abend vorher seinen Reisekoffer gepackt, und nach dem Frühstück verabschiedete er sich von Gudrun und den Kindern. Nachdem er den Koffer in seinem Wagen verstaut und eine dickere Jacke und zwei Pullover dazugelegt hatte - es war inzwischen Herbst geworden - rief er seiner Frau noch zu, er bleibe dieses Mal etwas länger, wahrscheinlich eine Woche. Dann stieg er in den Wagen und fuhr los.

Bis er die Bundesstraße B X erreichte, die ihn zur Autobahn führte, brauchte er einige Zeit. Er musste erst auf zwei Nebenstraßen zu einer Zufahrtsstraße fahren, die ihn zur B X leitete, und auf ihr fuhr er dann weiter Richtung Autobahn. Unterwegs fiel ihm die mürrische Miene von Gudrun beim Abschiednehmen ein; als ob es ihr gar nicht recht wäre, dass er schon wieder seine Mutter in W*** besuchte. Doch was blieb ihm anderes übrig? Jemand musste sich schließlich um seine hochbetagte Mutter kümmern, das sollte seine Frau doch bitte einsehen! Ehestreitigkeiten deswegen ging Gudrun aus dem Weg. Sie war nicht mehr die Jüngste und vom Ehealltag schon dermaßen zermürbt, dass sie lieber darauf verzichtete, den gleichförmigen Gang ihres Familienlebens durch nervenzerfetzende Auseinandersetzungen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Überhaupt war Reinhards Ehe nach den vielen Jahren des Zusammenlebens mit Gudrun und infolge seines harten Krankenpflegerjobs schon ziemlich in der Routine versandet, auch die Leidenschaft zwischen den Eheleuten hatte stark nachgelassen. Manchmal überlegte er, ob er das Glück, das er seit längerem in seiner Durchschnittsehe vergeblich suchte, außerhalb von ihr noch finden könnte, in Gestalt einer netten, liebreizenden und aufgeschlossenen Herzensdame. Er könnte dann ja zusammen mit einer solchen Geliebten manch herzerwärmendes und natürlich auch leidenschaftliches Abenteuer begehen, nur im Rahmen dessen natürlich, was sich mit seinem zermürbenden Krankenpflegerjob vereinbaren ließe. Auch dürfte Gudrun von solchen Eskapaden nichts erfahren; denn das hatte er sich geschworen: Verletzen möchte er seine Frau auf keinen Fall! So viel Moral wollte er sich bei einem eventuellen Seitensprung vorbehalten. Außerdem wusste er nicht, ob es vielleicht eine rächende Instanz gab, eine Nemesis, die ihm ein schäbiges Verhalten gegenüber seiner Frau irgendwann und irgendwie vergelten könnte. In diesem Punkt war er einfach abergläubisch.

Doch wenn er nach solchen Gedankenspielen in den Spiegel schaute und sein Durchschnittsgesicht betrachtete, ein Gesicht mit Nylorbrille, leicht gebogener Nase und schütteren, blonden Haaren, die er stets mit gewohntem Strich über die gelichteten Stellen verteilte, ließ er solche „unorthodoxen“ Pläne gleich wieder fallen, zumal wenn er sich mancher Begegnung mit einer hübschen Blondinen oder attraktiven Brünetten erinnerte: Immer hatte er dabei das Gefühl, diese jungen Frauen schauten, wenn sie seine interessierten Blicke spürten, schnell weg oder drehten ihm sogar die kalte Schulter zu, als wollten sie sagen: ’Nein, ich stehe nicht auf Brillenträger und Höckernasen; erst recht können mich schüttere Haare nicht anmachen!’ -

Reinhard hatte inzwischen die Bundesstraße erreicht. Wie immer zog sich die Fahrt jetzt in die Länge. Allein bis er die Autobahn erreichte und das Gaspedal durchtreten konnte, verging fast eine Stunde, nicht nur weil er mehrere Dörfer durchqueren musste, auch zahlreiche Lastwagen verhinderten wie gehabt ein rasches Vorankommen.

Während der langweiligen Fahrt gingen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf; als erstes kreisten sie schon wieder um seine Ehe. Ja, ja, es war nicht immer einfach, das Zusammenleben mit Gudrun, seufzte er zum wiederholten Male. Schwierig wurde es zwischen ihnen auch immer, wenn ihre unterschiedlichen Auffassungen über gewisse gesellschaftliche Usancen aufeinander prallten. Einmal machte ihm Gudrun, im Zusammenhang mit diesen „Usancen“, Vorhaltungen wegen seiner vielen Fahrten zu seiner Mutter, allerdings eher zaghaft, eigentlich nur indirekt.

„Wir müssen wieder eine Gesellschaft geben“, hatte sie zu ihm gesagt, als er wieder einmal seinen Reisekoffer packte.

„Du meinst für die Leukels und Metzgers.“

„Und die Kollbergs – ja!“

Alle drei waren Kollegen von Reinhard und arbeiteten auch am Ludwig-Aschoff-Krankenhaus.

„Es wäre besser, du bleibst hier und kümmerst dich um die Sache. Du könntest die Drei ja mal einladen.“

„Das könntest du doch in die Hand nehmen!“, meinte Reinhard.

„Du weißt, wie schwierig das bei denen ist. Immer heißt es sofort: Nein, geht nicht, mein Mann hat am nächsten Morgen Frühdienst; oder: da geht es leider auch nicht, da hat er Spätschicht. Außerdem vergisst du, was gerade die Einladung an die Kollbergs für dich bedeutet - bei dem guten Draht, den Kollbergs Frau zum Chef hat!“

„Nein, nein, ich vergesse das nicht! Also gut! Wenn ich zurückkomme, rufe ich bei den Dreien an.“

Gudrun hatte Recht. Kollbergs Frau war zufällig Oberschwester auf der chirurgischen Station, wo Reinhard arbeitete. Der Chefarzt Professor Scholz kam ständig auf die Station, war nie zufrieden, nörgelte dauernd herum oder schrie jemanden an, zum Beispiel weil ein Pflaster angeblich schief saß oder die OP-Haube einem Patienten nicht schnell genug aufgesetzt wurde oder das Operationsfeld nicht richtig ausrasiert war. Da war es gut, wenn man die Oberschwester auf seiner Seite hatte, die auf den Tyrannen Scholz besänftigend einwirkte oder bei dem Choleriker ein gutes Wort für den Krankenpfleger Dellinger einlegte.

Trotzdem ärgerte es Reinhard immer, dass seine Frau aus den gegenseitigen Besuchen der Kollegen so eine bitterernste Angelegenheit machte, das heißt, das Gesellige gleich als Verpflichtung oder gar als Zwang interpretierte, den Zwang, da und dorthin, meistens an Kollegen-Ehepaare, Einladungen auszusprechen, woraus dann wieder neue Zwänge entstanden, jedenfalls für seine Frau: Stets achtete sie mit Spannung darauf, wer wann sich liebenswürdigerweise revanchierte oder es wagte, mit der Ehre der Einladung lange, viel zu lange zu warten, worauf sie dann spekulierte,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.09.2018
ISBN: 978-3-7438-8109-9

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