(Doch für Studienrat Herden liegt es an seiner
Personalakte)
Eine Erzählung (und eine weitere)
Autor: Heinz-Jürgen Schönhals
überarbeitete Ausgabe 2023
Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals
Alle Rechte vorbehalten
Heinz-Jürgen Schönhals
hschoenhals@yahoo.de
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Erste Erzählung:
Mobbing, Verfolgungswahn oder was sonst?
(Doch für Studienrat Herden liegt es an seiner
Personalakte)
Zweite Erzählung:
Ein schönes Mädchen
Erste Erzählung (Mobbing, Verfolgungswahn oder was sonst?): Rechtsanwalt Seelbach trifft in einem Park einen alten Bekannten, Günter Herden, mit dem er sich früher einmal angefreundet hatte. Herden war Lehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in B. und soll, wie Seelbach hörte, von der Schule „geflogen“ sein, weil er sich mit einer Schülerin eingelassen hat; oder auch - hatte Seelbach von anderer Seite gehört - weil er gegenüber seinem Vorgesetzten tätlich geworden sei. Neugierig, was es mit den Gerüchten auf sich hat, lässt sich Seelbach von dem Studienrat dessen Lebensgeschichte erzählen. Sie handelt von Herdens aufreibender Tätigkeit am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und seinem konfliktreichen Umgang mit dem Schulleiter Dr. Üppermann. Der Oberstudiendirektor habe sich darin gefallen, den armen Studienrat zu ‘mobben‘, vermutlich, weil er an dessen Fähigkeiten zweifelte. Rechtsanwalt Seelbach fragt sich, ob der Lehrer, der zwei aufreibende Studien hinter sich hat, eventuell an Verfolgungswahn leidet, zumal Günter Herden – wie er selbst sagte – noch während seines Zweitstudiums wegen nervöser Erschöpfung in ärztlicher Behandlung war. Schließlich habe sich für ihn - erzählt Herden weiter - die Lage an der Schule dramatisch zugespitzt.
Zweite Erzählung (Ein schönes Mädchen): Ein alternder Mann verliebt sich in ein schönes Mädchen. Er glaubt, er hätte bei dem Mädchen eine Chance, beginnt aber bald zu zweifeln. Währenddessen wird seine Verliebtheit immer heftiger.
Und mancher Tage Stunden waren so,
Als formte wer mein Abbild irgendwo,
Um es mit Nadeln langsam zu misshandeln.
Ich spürte jede Spitze seiner Spiele… (Rilke)
I.
Als Rechtsanwalt hatte ich oft am Landgericht in F*** zu tun, einer Stadt gut 25 km von meinem Heimatdorf entfernt. Eines Tages, nach einem aufreibenden Prozess, den ich glücklicherweise gewann, hielt es mich nicht länger im Gerichtssaal. Ich verabschiedete mich rasch von meinem Mandanten, verließ das Gerichtsgebäude und eilte in den gegenüberliegenden Stadtpark. Seine Bäume standen zwar alle noch ohne Blattschmuck da; wochenlanges kaltes Schauerwetter hatte verhindert, dass die ersten Triebe sich schüchtern vorwagten, erst recht versteckten sich die Blüten der reichlich im Park vorhandenen Ziergehölze in den noch fest verschlossenen Knospen. Jedoch konnte ich auf den verschiedenen, sich kreuzenden Parkwegen etwas flanieren und endlich wieder frische Luft atmen. Auch auf einer der zahlreichen Bänke wollte ich mich kurze Zeit niederlassen und mein Frühstücksbrot verzehren, zumal es inzwischen überall, auch auf den Bänken, trocken war, und es war auch leidlich warm geworden.
Überhaupt präsentierte sich der Stadtpark zurzeit nicht gerade als ein attraktiver Ort, an dem man gerne verweilte. An einer Stelle hatte man die Erde aufgerissen, um dort Gott weiß was zu erbauen, einen Pavillon vielleicht oder einen Kiosk, oder wollte man eine Abwasserleitung erneuern? Außerdem blickte man auf ein hässlich zugerichtetes Grundstück in der Nachbarschaft. Ein gewaltiger Haufen von Trümmerstücken lagerte dort, Überbleibsel einer einst herrschaftlichen Villa, die, abbruchreif geworden, der Abrissbirne zum Opfer gefallen war. Daneben verunzierten die Gerüste einer Malerfirma eine hübsche Villa an allen Seiten, und zwei Häuser weiter reckte ein Kran seinen stählernen langen Hals in die Luft, wohl um Betondachsteine und Tonziegeln auf das Dach zu hieven. Dennoch zögerte ich keinen Augenblick, den Stadtpark zu betreten. Ich verband mit ihm viele Augenblicke der Stille und Muße und im Frühling den Anblick prächtiger Frühjahrsblüher, wie Forsythie, Magnolie oder Zierkirsche. Doch bis diese Blütenpracht das Auge der Bummelanten und Erholungsuchenden erfreute, mussten noch einige Tage, vielleicht auch Wochen vergehen.
Der Park war fast menschenleer, nur wenige Spaziergänger ließen sich blicken, einige saßen auf Bänken herum. Nachdem ich meinen Spaziergang auf den Kieswegen beendet hatte, setzte ich mich auch auf eine Bank, holte mein Frühstücksbrot aus der Aktentasche und wollte gerade mein Brot verzehren, da bemerkte ich auf einer anderen Bank, keine zwanzig Schritte von meiner entfernt, einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich schaute genauer hin: Ist das nicht …? Das ist doch dieser… Lehrer…, wie hieß er noch…? - Ja, jetzt erkannte ich ihn - Herr Herden saß dort, Studienrat Günter Herden, einst mein Nachbar in einem Mietshaus in B***. Ich wohnte dort einige Zeit während meiner Ausbildungszeit als Gerichtsreferendar und durchlief die letzte Ausbildungsstation bei einem Rechtsanwalt. Herden, mit dem ich mich etwas angefreundet hatte, war mir noch als sehr belesener und liebenswerter Mensch in guter Erinnerung geblieben.
Rasch packte ich das Frühstücksbrot wieder in meine Tasche, denn ich wollte mich gerade erheben und meinen einstigen Nachbarn begrüßen, da kam mir der Gedanke, es könnte dem Mann vielleicht nicht recht sein. Kurz nachdem ich nämlich von B*** weggezogen war, hörte ich seltsame Gerüchte über diesen Lehrer: Ein Bekannter von mir aus B***, den ich mal vor dem Landgericht zufällig traf, erzählte mir, der Studienrat habe sich mit einer Schülerin eingelassen und sei deshalb aus dem Schuldienst entlassen worden. Wieder ein anderer, mir ebenfalls aus B*** bekannt, erzählte eine ganz andere Version: Nicht wegen einer ominösen Liebesaffäre sei Herden aus dem Schuldienst entfernt worden, sondern weil es zu einem schweren Konflikt zwischen ihm und dem Direktor gekommen sei; man habe sogar von einer Prügelei zwischen beiden gesprochen, und Herden, dem man die Schuld an dem Eklat gegeben, sei ab sofort nicht mehr Lehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gewesen. Ich glaubte damals weder die Wildwestgeschichte noch hielt ich es für möglich, dass an dem Liebesdrama etwas dran wäre. So hatte ich beides als Geschwätz abgetan und schon am selben Tage nicht mehr daran gedacht. Auch der Studienrat war mir völlig aus dem Gedächtnis entfallen. Doch nun tauchte er plötzlich wieder aus der Versenkung auf, saß quasi Seite an Seite neben mir, im Stadtpark von F***, keine zwanzig Schritte von meiner Bank entfernt, und alle jene scheinbaren oder wirklichen Kalamitäten seines Lebens waren mir mit einem Male wieder präsent!
Verstohlen blickte ich zu ihm hinüber. Der Mann machte nicht gerade einen gepflegten Eindruck: Eine verschlissene Windjacke, unordentlich frisierte Haare, ein unrasiertes Kinn und tiefe Furchen im Gesicht zeugten von einem schweren Leben. War doch etwas dran gewesen an diesen Geschichten? Ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte: ihn einfach ignorieren und nach einigen Minuten den Park wieder verlassen, um nicht einem vom Schicksal Geschlagenen ins glanzlose Auge zu blicken? Beinah hätte ich es getan, aber schließlich überwog doch die Neugier, und am Ende konnte ich sie nicht mehr zurückhalten, unbedingt wollte ich jetzt erfahren, wie sich Günter Herden so durchs Leben schlug, ob er tatsächlich damals von der Schule geflogen war, aus welchen Gründen auch immer. Ich erhob mich also und ging auf die Bank zu, auf der Herden mehr kauerte als saß.
„Hallo, sehe ich recht? Ist das nicht - natürlich, er ist es: Günter Herden, mein ehemaliger Nachbar in B**. Guten Tag, Herr Herden! Wie geht es Ihnen?“
Herden schaute mich überrascht an, aber irgendeine Verlegenheit war ihm nicht anzumerken.
„Herr Seelbach! Na so eine Überraschung! - Bitte, setzen Sie sich doch!“
Der Mann auf der Bank hatte sich erhoben, er schüttelte mir freundlich die Hand und machte eine einladende Handbewegung. Wir setzten uns und schwiegen uns eine Zeitlang an. Ich überlegte krampfhaft, wie ich ihn befragen sollte, ohne seine Gefühle zu verletzen. Na, ich frage ihn erst einmal, ob er hier in F** wohnt.
„Wohnen Sie jetzt in F**?“
„Ja“, kam die dürre Antwort. Mehr sagte Herden nicht. Um das etwas peinliche Schweigen zu überbrücken, erzählte ich ihm einiges über meinen Werdegang, über meine Heirat und dass ich zwei Kinder im Alter von 5 und 8 Jahren habe. Ich berichtete ihm auch, wie glücklich der Tag für mich verlaufen sei, dass ich einen wichtigen Prozess gewonnen und auch schon einen kleinen Unfall am Morgen mit viel Glück überstanden hätte. Da Herden bei dieser letzten Bemerkung interessiert den Kopf hob, erzählte ich ihm von diesem Unfall Näheres: Ich hatte an meinem Wagen einen Platten, war aber sogleich von freundlichen, hilfsbereiten Leuten nur so umringt. Ein Radfahrer hatte angehalten und half mir beim Ab- und Anmontieren des Reifens. Ein zweiter Radfahrer, der mich kannte, hielt auch an und half mit beim Reifenwechsel. Wieder ein anderer, der gerade mit seinem Auto vorbeifuhr, stoppte, stieg aus und eilte ebenfalls herbei. Es handelte sich um einen Bekannten, der im selben Dorf wie ich wohnte; er bot mir sogar an, mich in seinem Wagen zum Landgericht zu fahren, der Reifenwechsel zog sich nämlich trotz der vereinten Hilfe in die Länge, und den Termin am Landgericht musste ich unbedingt wahrnehmen. Da ich diesen Bekannten als einen sehr vertrauenswürdigen Menschen kannte - ich hatte ihm auch schon manche juristische Gefälligkeit erwiesen - nahm ich das Angebot an. Er wolle später zurück zu meinem Wagen fahren - sagte der Bekannte - diesen dann zum Landgericht bringen und die Wagenschlüssel beim Pförtner des Landgerichts abgeben.
„Ich hatte es also nur mit netten, hilfsbereiten Menschen zu tun“, beendete ich lächelnd meinen Kurzbericht, „all das Gerede von dem um sich greifenden Egoismus, das man landauf, landab über unsere Zeitgenossen immer wieder hört, trifft also in dieser Allgemeinheit nicht zu.“
Danach erzählte ich ihm noch einige Details über den erfolgreich verlaufenen Prozess; überhaupt sei meine berufliche und private Situation, betonte ich am Schluss, rundum zufriedenstellend, wenn nicht sogar als glücklich zu bezeichnen.
‘Verflixt!’, dachte ich, ‚das hättest du so besser nicht gesagt! Der Mann, wenn er denn ein hartes Schicksal trug, wird vielleicht den Kontrast zwischen meiner sorgenfreien Lage und seinem Unglück, seiner womöglich gescheiterten Existenz, allzu deutlich spüren und also über meine gute Laune und meine munteren Erzählungen nicht sehr erfreut sein!’
„Sie sprachen gerade von freundlichen Menschen, die Ihnen geholfen haben, Herr Seelbach“, sagte Herden und wandte lächelnd den Kopf zu mir, „Menschen, die Ihnen in einer Notlage beigestanden haben. So etwas hört man gerne. Auch ich habe als Lehrer freundliche, hilfsbereite Menschen kennen gelernt. Kolleginnen, Kollegen, auch Eltern und hin und wieder Schüler! Aber mir sind dann später oft Zweifel gekommen, ob diese Freundlichkeit tatsächlich echt war, ob sich dahinter nicht ein ganz anderer Antrieb verbarg, den man vielleicht allgemein mit Egoismus umschreiben könnte oder, wie Nietzsche es ausgedrückt hat: der Wille zur Macht war in allen am Werk und sonst nichts anderes. Auch in Ihrem Falle, Herr Seelbach, sollten Sie sich einmal fragen, was diese hilfsbereiten Menschen durch ihre Freundlichkeit eigentlich erreichen wollten? Dass sie von Ihnen als gutherzige Wesen zur Kenntnis genommen werden? Das doch sicher nicht! Ich behaupte: Sie wollten durch ihre angebliche Samaritertat ihre Situation verbessern, oder, mit Nietzsche gesprochen: sie wollten durch spontanes, helfendes Eingreifen zumindest einen kleinen Zuwachs an Macht gewinnen. Nehmen wir den einen Radfahrer: Gewiss hat er sich einen materiellen Vorteil von seiner Samaritergeste erhofft! Eine kleine Aufmerksamkeit pekuniärer Art, sagen wir: zehn, zwanzig DM für die erbrachte Leistung! Auch der zweite Radfahrer hat bestimmt mit einer Belohnung gerechnet. Oder der Mann aus Ihrem Dorf, der Sie mit zum Landgericht nahm? Er kann weiter auf Ihre Gefälligkeiten juristischer Art hoffen, und genau das wollte er durch seine gute Tat erreichen. Mit einem Wort: die Freundlichkeit der Herren war nur Maske; kaschiert wurde durch sie etwas Materielles: die Hoffnung der Leute, dass auch für sie etwas herausspringt, am besten sofort oder ... irgendwann!“
Verblüfft ließ ich die Rede Herdens über mich ergehen. Zum Donnerwetter, dachte ich, was ist in den Mann gefahren? So kannte ich ihn früher gar nicht. Gewiss, Herden neigte schon immer dazu, die Dinge ins Allgemeine, Grundsätzliche zu überhöhen. Die Philosophie war ja sein Fach, und das philosophisch vertiefte Gespräch sein Steckenpferd. Aber so weit war er damals nicht gegangen, dass er einige hingeworfene, floskelhafte Bemerkungen von mir gleich als Aufhänger für eine philosophische Grundsatzrede nutzte.
Günter Herden lachte kurz auf, nachdem er geendet hatte, vielleicht erheiterte ihn mein verdutztes Gesicht. An seinen Mundwinkeln zeigten sich, während er bräunlich verfärbte, kariöse Zähne hervortreten ließ, blitzartig zwei schwach ausgeprägte Rundfalten, die ich früher bei ihm nicht beobachtet hatte.
Ich schaute etwas verstört in dieses stark verlebte Gesicht: Die Furchen, welche das Alter dort eingegraben, traten markant hervor; desgleichen zwei voluminöse Tränensäcke. Geradezu erschüttert aber war ich über den leichten Schnapsgeruch, der von ihm ausströmte und bei jedem Öffnen des Mundes an Stärke zunahm. Dem Mann musste es ja wirklich übel ergangen sein, wenn er so kompliziertes Zeug redet und offenbar auch noch Schnaps trinkt!
Da ich nichts weiter sagte, nur gerade mal die Stirn in Falten legte oder verlegen nach oben blickte, schien Herden mein Schweigen als Missbilligung zu deuten, denn er zog hörbar an seiner Pfeife, die er sich gerade angezündet, räusperte sich mehrmals und schaute missmutig in die Ferne.
„Wissen Sie, Herr Seelbach“, begann er von neuem und in seine Stimme schlich sich ein resignierter Ton, „ich habe einmal die Freundlichkeit der Menschen für bare Münze genommen; ich habe gedacht: wer mir freundlich zulächelt oder mir freundlicherweise bei irgendeiner Gelegenheit hilft, der meint es gut mit mir, ja, der ist vielleicht sogar ein guter Mensch. Lang ist’s her; ich glaube, als 17-, 18-jähriger war ich mal so ein naives, gutgläubiges Jungchen. Später habe ich dann mein hohes, idealistisches Anliegen etwas zurückgenommen. Immerhin war ich da noch der Meinung, der Mensch könnte, wenn er nur will, alles Hässliche, Gemeine in sich so weit unter Kontrolle bringen, dass das Gute dann ohne weiteres, das heißt: ohne dass es von bösen Bremsklötzen behindert wird, aus ihm heraustritt... Na ja, Schwärmerei!... Sie ist mir bald gründlich ausgetrieben worden. Heute bin ich leider nur noch Misanthrop, sozusagen ein schopenhauerischer Pessimist, was die Fähigkeit des Menschen betrifft, moralisch zu handeln. Der Mensch ist sich halt immer gleich geblieben, immer ist er das geblieben, was er schon immer war: ein nur auf seinen Vorteil bedachtes, egoistisches, nach Einfluss und Macht strebendes Individuum. Alle Versuche, die moralische Substanz in ihm zu einer erwähnenswerten Größe aufzubauen, müssen als gescheitert betrachtet werden.“
Um ihn von seinen unfrohen Gedanken etwas abzubringen, versuchte ich die Gegenposition in sein Blickfeld zu rücken:
„Ich weiß nicht“, sprach ich also in teilnahmsvollem Ton, denn seine pessimistische Einstellung führte ich sofort auf seine von mir vermutete Lebensmisere zurück, „ob man das von allen Menschen so sagen kann, Herr Herden; es gibt doch ganz gewiss rühmliche Ausnahmen...!“
„Sie denken doch nicht schon wieder an Ihre hilfsbereiten Samariter heute Morgen?“ Herden hatte mir ruckartig den Kopf zugewandt und lächelte maliziös.
„Nein, ich denke an ein Goethe-Gedicht!“
Das spöttisch-boshafte Lächeln des Mannes, erst recht sein hochfahrender, keinen Widerspruch duldender Ton ärgerten mich. Da ich wusste, dass er Deutschlehrer war, versuchte ich ihn auf seinem eigenen Felde, mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und was konnte als Argument wirkungsvoller, durchschlagender sein, als einen Goethe als Gewährsmann hinter sich zu haben und nicht irgendeinen christlich angehauchten unbekannten Gutmenschen.
„Es hieß...“, fuhr ich fort, auf Goethe zu verweisen, „es hieß..., warten Sie mal! - Ja, jetzt fällt mir der Vers wieder ein. ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut...’ Soviel ich weiß, wird in diesem Gedicht das moralische Vermögen des Menschen durchaus positiv ...“
Weiter kam ich nicht. Der Lehrer fiel mir sofort mit schneidender Stimme ins Wort:
„Ach, bleiben Sie mir mit dem Goethe vom Leibe!“
Er machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung und fuhr fort, mit scharfer Stimme zu sprechen:
„Nehmen Sie mal seine ‚Iphigenie’: Goethe hat doch zugegeben, dass die Iphigenie ‚verteufelt human’ ist. Verteufelt! Na, was sagt uns diese verräterische Formulierung? Der Mann hat hernach selbst nicht mehr an das geglaubt, was er in seiner ‚Iphigenie’ alles Gutes und Edles und Tugendhaftes beschrieben hat: der Barbar Thoas... zur hochherzigen, rein altruistischen Tat fähig. Einfach lächerlich!“
Herden machte erneut eine wegwerfende Handbewegung und ließ wieder seine Rundfalten um die Mundpartie schlagartig hervortreten.
„Ich möchte Ihnen mal eine Geschichte aus dem wirklichen Leben erzählen, Herr Seelbach, eine, die ich selbst erlebt habe. Nun ja, werden Sie vielleicht sagen, der hat in seinem Leben ja nur Schulbänke kennen gelernt; nur mit Lehrern und Schülern hatte er zu tun. Ganz richtig! Aber auch in den Schulen bildet sich das rein Menschliche ab, und Sie können unter den Lehrerkollegen durchaus Charaktere finden, die sozusagen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2018
ISBN: 978-3-7438-7769-6
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