Cover

Sven Albin Brandtners Rückkehr aus der Fremde

Oder: Die Schwierigkeit, in der Heimat wieder

Fußzu fassen.

 

Roman (überarbeitete Ausgabe)

 

Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

Erscheinungsjahr: 2023

 

Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Heinz-Jürgen Schönhals

hschoenhals@yahoo.de

 

 

 

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors

nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

Inhalt

Der Ingenieur Sven Albin Brandtner, wegen Burn-out-Syndroms und Mobbings aus seiner Firma ausgeschieden, war, um Abstand zu gewinnen, ins ferne Aust­ralien geflohen. Mittellos zurückgekehrt, wohnt er in der pompösen Villa seines Bruders Wilfried, der ein „hohes Tier“ in der Ministerialbürokratie ist. Nun versucht er, in der Heimat wieder Fuß zu fassen. Er verliebt sich in seine Schwägerin, die attraktive Cora Weißhaupt, und erhofft sich Chancen bei dem schönen Mädchen. Cora aber ist eher von dem Vorgesetzten Wilfrieds, Staatssekretär Rohleder, „angetan“.

Albin versucht zunächst, bei der Arbeitslosenbehörde positive Auskünfte bezüglich einer Neuanstellung als Ingenieur zu bekommen. Dann soll Wilfrieds Chef, der genannte Staatssekretär, ihm bei der Jobsuche helfen. Bruder Wilfried veranstaltet eine aufwendig vorbereitete Soiree in seiner Villa, bei der auch Staatssekretär Rohleder und Cora Weißhaupt zugegen sind. Rohleder, ein Frauenheld, kommt nur, weil er ein Auge auf Cora geworfen hat. Ob er auch gewillt ist, Albin einen Job zu vermitteln, entscheidet sich gegen Ende des Romans.

Inhaltsverzeichnis

1. Teil: Sven Albin Brandtner wieder zurück in

Bad Ingenheim

1. Kapitel: Zuflucht im luxuriösen Haus des

Bruders Wilfried

2. Kapitel: Die Vorbereitungen auf eine Soiree

im Hause Brandtner

3. Kapitel: Im Kurpark, Begegnung mit einem

alten Freund

4. Kapitel: Auf dem Arbeitsamt

5. Kapitel: Im Finanzministerium, Telefongespräch

Wilfried Brandtners mit seiner Frau über Sven Albin

6. Kapitel: Weitere Vorbereitungen auf das Fest

2. Teil: Besuch des Jugendfreundes Roland

Scherning

1. Kapitel: Spannungen zwischen Albin und seinem Vater.

2. Kapitel: Die Gründe Albins für seine Rückkehr

in die Heimat

3. Kapitel: Albins Erzählung vom Krieg im Paradies

4. Kapitel: Diskussion über die Tugenden

5. Kapitel: Die näheren Umstände von Manuela

Weißhaupts Tod

3. Teil: Im Büro des Staatssekretärs Rohleder

1. Kapitel: Rohleders schlechtes Gewissen

2. Kapitel: Gespräch Rohleders mit Wilfried Brandtner

3. Kapitel: Warum Rohleder unbedingt an

Wilfrieds Soiree teilnehmen möchte?

4. Teil: Der Gesellschaftsabend

1. Kapitel: Festlicher Anfang; Liedvortrag, beginnendes

Tanzvergnügen

2. Kapitel: Rohleders „Flirt-Tanz“ mit Cora Weißhaupt

3. Kapitel: In Wilfrieds Galerie; Betrachtung

verschiedener Gemälde

4. Kapitel: Missstimmung bei Albin und Roland

wegen Rohleder

5. Kapitel: Wilfried und Marlene euphorisiert, Albin und

Roland alkoholisiert

6. Kapitel: Rohleders ausforschendes Fragen und

Insistieren

7. Kapitel: Eine Diskussionsrunde im Speise-

zimmer – Thema: der Außenseiter in der Literatur

8. Kapitel: Diskussion über Albins Roman; Spannungen

zwischen Rohleder und Roland Scherning

9. Kapitel: Angst wegen einer Radiomeldung

10. Kapitel: Der Eklat

5. Teil: Ein halbes Jahr später

1. Kapitel: Ein Brief von Albin

2. Kapitel: Diskussion bei den Brandtners über Sven Albin

 

Die Personen:

Sven Albin Brandtner – Ingenieur

Roland Scherning – Rechtsanwalt, Albins Freund

Wilfried Brandtner, Regierungsdirektor, Albins Bruder

Heinz Brandtner – Prokurist, Albins Vater

Marlene Brandtner – Wilfrieds Frau

Cora Weißhaupt – Studentin, Marlenes Schwester

Dr. Gerald Rohleder – Staatssekretär im

Finanzministerium

Dr. Richard Schöneich – Ministerialdirektor im

Finanzministerium

Hilde Schöneich – Richards Frau

Dr. Werner Fux – Zweiter Regierungsdirektor im

Finanzministerium

Gerda Fux – Werners Frau

Carsten Weißhaupt – Vater von Marlene, Cora

und Manuela

Dr. Rolf Redel – Literaturkritiker

Ernst Rennenkamp – Studiendirektor

Marlies Rennenkamp – Ernsts Frau

Das Ehepaar Kessler - mit den Brandtners verwandt

Helene Jäger – Rohleders Sekretärin

Irma – Hausmädchen

Herr Meier - ein Bewacher („Gorilla“) des Staatssekretärs

1. Teil: Albin Brandtner wieder zurück in Bad Ingenheim

Die Welt gehört dem,

der nicht (echt) fühlt!

(F. Pessoa)

 

 

1. Kapitel: Zuflucht im luxuriösen Haus des Bruders - (Notgedrungen hielt er sich in dem Hause auf, nie hatte er sich seit seiner Rückkehr in den aufgetakelten Räumlichkeiten dieses Prachtdomizils wohlgefühlt.)

 

Der Elektronik-Ingenieur Sven Albin Brandtner hatte vor Jahren seinen gutbezahlten Job bei der Moers-AG. überstürzt aufgegeben, genauer gesagt: er hatte hingeschmissen und war mit der Fluggesellschaft Thai Airways ans andere Ende der Welt geflogen, aus Gründen, die sich weder seine Eltern noch sein Bruder noch die übrige Verwandtschaft bis zum heutigen Tage erklären konnten. Vielleicht tat er es, um von Ereignissen Abstand zu gewinnen, die ihn seelisch belasteten (jedoch war der Verwandtschaft ein solches Ereignis, das Albin erschüttert haben könnte, nicht bekannt); vielleicht auch glaubte er in einer jugendlich-romantischen Aufwallung (Albin wurde von seinen Verwandten als etwas naiv und weltfremd eingeschätzt), er könnte irgendwo draußen in der Welt etwas finden, was er in seiner Heimatstadt Bad Ingenheim vergeblich gesucht hatte (Ingenheim hielt er übrigens für durch und durch spießig). Einer seiner Freunde, Roland Scherning, meinte zu Albins seltsamem Verhalten, sein Freund habe einfach nur das Glück gesucht in Gegenden, die von manchen in verlockenden Farben als arkadisch und friedlich gepriesen werden - weit weg von den politischen und sonstigen Zänkereien oder Animositäten in der Heimat.

„Weit weg auch von dieser ’aufgedonnerten Behausung’ meines Bruders!“, ergänzte Sven Albin selbst, der gerade am Fenster seines Mansardenzimmers im dritten Stock der Brandtner-Villa stand; er war nach Jahren wieder in die Heimat zurückgekehrt und wohnte vorübergehend bei seinem Bruder.

’Aufgedonnert!’ nannte er die luxuriöse Villa des Bruders, weil sie nach seinem Empfinden von geschmacklosen Übertreibungen nur so strotzte. Notgedrungen hielt er sich in ihr auf, nie hatte er sich in den Wochen seit seiner Rückkehr in den aufgetakelten Räumlichkeiten dieses Prachtdomizils wohlgefühlt, auch früher nicht.

Eben noch waren ihm viele Erlebnisse in den fernen Ländern eingefallen, wo er - in Australien oder auf einigen Südseeinseln - etliche Jahre gelebt hatte, und er fragte sich, nicht zum ersten Mal, warum er um Gottes willen in dieses spießige Kaff Ingenheim wieder zurückgekehrt war. Eine Antwort konnte er sich momentan nicht geben, sie war ihm gänzlich entfallen. Da sein altes Appartement unweit des Marktplatzes inzwischen vermietet war, musste er also in dem genannten Prachtdomizil wohnen. Der Bruder war ein hohes Tier im Bundesfinanzministerium und schmückte sich mit dem Titel Regierungsdirektor. Allerdings war er - zur Überraschung Albins - so liebenswürdig und großzügig gewesen, seinem heimgekehrten Bruder ein Zimmer im dritten Stock zur Verfügung zu stellen; denn Geld für eine eigene Wohnung hatte Albin nicht.

Wilfried Brandtners Villa lag am Rande von Bad Ingenheim, dort, wo das Geld wohnt - wie Albin manchmal hämisch bemerkte. Sie ragte aufdringlich - Albin würde auch hier abwertend sagen: aufschneiderisch zwischen den anderen, nicht so pompösen Villen der Stadtrandsiedlung empor. Ihre repräsentative weiße Vorderfront, die prunkvolle doppelflügelige Holz-Alu-Haustür mit prügelartigem Stoßgriff, außerdem die grandiosen, mit unterschiedlichen Bögen gestalteten Sprossen-Fenster beiderseits der Tür, erst recht der beleuchtete rundliche Balustraden-Balkon - alles übte eine stark einschüchternde Wirkung auf einen Besucher und natürlich auf Albin Brandtner selbst aus. Auch der gepflegte, üppig mit Sträuchern und Frühlingsblumen bepflanzte Vorgarten, der sich wie ein leuchtender Blütenkranz um das Haus herumwand, nur unterbrochen von einem Zugangsweg aus Natursteinplatten und einer Garagenzufahrt, ließ durch seine überbordende Fülle auch nicht gerade an Bescheidenheit oder Selbstgenügsamkeit denken. Zwar empfand ein unvorbereiteter Besucher das ganze eindrucksvolle Ensemble des Brandtnerschen Anwesens zunächst einmal als Ausdruck repräsentativer Wohnkultur und zum Teil auch verfeinerter Lebensart; jedoch konnte sich mancher Freund der Brandtners, auf jeden Fall Bruder Albin beim Betrachten dieser „Wohnkultur“ nicht des Gefühls erwehren, zumal wenn sie den parkartigen, alle normalen Maße sprengenden Hintergarten und die riesige marmorplattenbestückte Terrasse auf sich wirken ließen, dass das „Verfeinerte“ bei Wilfried Brandtner ziemlich oft von geschmackloser Ziererei und peinlichem Pomp überlagert sei.

Sven Albin trat vom Fenster seines kleinen Zimmers zurück. Gerade hatte er die Pracht des Brandtnerschen Gartens einige Minuten auf sich wirken lassen, jetzt aber musste er sich sputen. Denn er wollte bei dem schönen Wetter eine kleine Wanderung unternehmen. Er verließ also seine bescheidene Unterkunft. Draußen, auf dem oberen Gang, begutachtete er noch einmal sein Outfit im großen Wandspiegel: Seine Frisur, braune seitlich gekämmte, volle Haare, saß tadellos, seine graugrünen Augen blickten in Maßen selbstbewusst, abgesehen vielleicht von einem kleinen, kaum merklichen Anflug von Unsicherheit und Nervosität; seine Nase hob sich gradlinig aus seinem nicht unedlen Gesicht, der Mund mit den schmalen Lippen war unmerklich herabgezogen, was eventuell von Bitterkeit und Skepsis zeugte, vielleicht auch von einem Hauch von Misanthropie. Der braune Sommerblouson und die hellbeige Hose waren den milden Frühsommertemperaturen, die gerade draußen herrschten, geschuldet.

Zufrieden über sein Aussehen, strich sich Albin noch einmal über seine Haare, dann eilte er den Gang entlang und lief mit raschen Schritten die breite Halbwendeltreppe zum ersten Stock hinunter. Dieser, ebenfalls als langer Gang angelegt, hatte im Unterschied zum Obergeschoss Natursteinfliesen als Fußboden. Da er zur einen Seite offen war, schützten weiße Balustraden-Geländer aus Holz vor einem Absturz. Albin blickte den Gang entlang. Die Versuchung war groß, wieder einmal das Schlafzimmer seines Bruders und seiner Schwägerin Marlene zu betreten und die äußerst komfortable Ausstattung dort auf sich wirken zu lassen. Das daneben liegende Gästezimmer und das Kinderzimmer hatte er noch gar nicht eingesehen. Kinder waren allerdings noch nicht vorhanden. Nicht dass Marlene und Wilfried auf Kinder gerne verzichteten, doch zurzeit passten sie noch nicht in ihr Lebenskonzept. Auch in dem weiter hinten liegenden Badezimmer war er noch nicht gewesen; aus dem einfachen Grund, er verfügte selbst oben neben seiner Mansarde über ein kleines Duschbad. Doch jetzt hatte er, wie gesagt, keine Zeit für Besichtigungen; das schöne Wetter musste ausgenutzt werden.

Albin verließ also den ersten Stock auf einer der beiden schmaleren, ebenfalls mit Balustradengeländer versehenen Treppen, die Teil einer prunkvollen Podesttreppe waren. Von rechts beziehungsweise von links oben verliefen sie schräg nach unten und erreichten das breite Podest, von welchem der weit ausladende gradlinige Teil der Treppe abzweigte und ins Parterre führte. Auf dem Podest angekommen, hielt Albin an und warf einen Blick auf das unten liegende Vestibül und dessen imposanten beigefarbenen Marmorfußboden. Dann betrachtete er die Pracht der Treppen und der weißen Geländer. Links und rechts von ihnen fielen einem sofort zwei wuchtige weiße Pfeiler ins Auge, welche die Decke des Vestibüls abstützten und mit gleichfalls wuchtigen, breitausfächernden Kapitellen geschmückt waren. Die Balustradengeländer der großen Treppe verbreiterten sich an ihren Enden zu wuchtigen Postamenten, auf denen opulente Vasen mit prächtigen Zierpflanzen standen. Immer wenn er morgens die große Treppe hinunterschritt, fielen ihm in den kleinen Erkern links und rechts noch zwei voluminöse Vasen mit herrlich und dicht aufragenden Farnpflanzen auf, welche die kalte Pracht der weißen Wände und Geländer beleben sollten. Blickte er nach oben, gewahrte er sofort den gewaltigen Kristallleuchter, der von der Decke des Vestibüls herunterhing. Spätestens jetzt musste er sich wieder fragen, ob sein Bruder des Guten nicht zuviel getan hatte. Nicht nur auf jeden Neuankömmling machte dieser prunkvolle Kronleuchter wie überhaupt das bombastische Treppenhaus einen teils überwältigenden, teils einschüchternden Eindruck; auch er war von diesem Eindruck jedes Mal beinah wie erschlagen. Und wenn er von der breiten Treppe geradeaus auf die hohen kolonialfarbenen Flügeltüren blickte, die zum großen Salon führten, drängte sich ihm sogleich das Gefühl auf, auch im Angesicht der üppigen Ausstattung des Treppenhauses, hier wären die Familien Protz und Neureich eine innige Verbindung eingegangen.

Doch Albin hütete sich, hierüber irgendeine ironische oder abfällige Bemerkung gegenüber Marlene und Wilfried zu äußern. Er war in Wilfrieds pompöser Villa nur ein geduldeter Gast, und obwohl er es mit Marlene bereits jetzt schon verdorben hatte, wollte er die Frau seines Bruders nicht noch weiter provozieren.

Albins Blick ruhte auf den geschlossenen Flügeltüren. Er hasste sie. Warum mussten es gerade Flügeltüren sein? - überlegte er. Hätte nicht auch eine einfachere Tür den Zweck, für den Türen normalerweise geschaffen sind, erfüllt? Doch wenn er an den normalen Zweck von Türen dachte, fiel ihm natürlich im Falle der Flügeltüren der Brandtner-Villa sofort ein, dass es ja auch noch besondere, ’gehobene’ Zwecke gibt, für die Türen auch geschaffen sein können, Zwecke, die, gemäß dem Herzenswunsch des Hausbesitzers, Wirkung entfalten, imponieren, ja faszinieren sollen, oder einem Gast, falls er die phänomenale Pracht des Treppenhauses noch gar nicht richtig wahrgenommen, eventuell sogar übersehen hatte, spätestens jetzt, beim Öffnen einer Flügeltür, Achtung, Anerkennung, vielleicht sogar Demut abverlangen mussten. Albin hasste die Flügeltüren auch deshalb, weil er wusste, dahinter verbarg sich etwas, was jedenfalls ihn immer einschüchterte, wenn er darin verweilte: der großräumige, verschwenderisch ausgestattete Salon.

Doch auf ihn wollte er jetzt nicht auch noch einen Blick werfen. Von Einschüchterung hatte er an diesem schönen Morgen erst einmal genug oder – anders ausgedrückt: Von dieser Kultur des luxuriösen Wohnens auf erstaunlichem Niveau mochte er an diesem schönen Morgen nicht auch noch manches Bombastische in sich aufnehmen.

 

2. Kapitel: Die Vorbereitungen auf eine Soiree im Hause Brandtner - („Er möchte halt auch gerne den Posten haben“, fuhr sie leise sprechend fort, „den Wilfried im Auge hat.“ - „Du meinst, den Posten des Ministerialrats!“)

 

Albin war noch nicht im Parterre angekommen, da bemerkte er, dass im Vestibül ein lebhaftes Kommen und Gehen herrschte. Wieder zurück in den ersten Stock eilend, blickte er durch eines der Fenster dort. Auch auf der Terrasse war ein munteres Treiben im Gange. Ah ja, erinnerte er sich, die Vorbereitungen für die Abendgesellschaft seines Bruders nächsten Samstag warfen ihre Schatten voraus. Damit er nicht störte und seiner Schwägerin Marlene, die das ganze Treiben von draußen dirigierte, nicht über den Weg lief - er wollte mit ihr heute Morgen nicht gerne zusammentreffen - rannte er noch einmal die Treppe zum Vestibül hinunter, eilte zur Haustür, wo ein kleiner Erker angebracht war, von dem aus er nicht gesehen wurde. Er konnte von dort durch ein winziges Fenster die hin und herlaufenden Gestalten, welche an den Vorbereitungen des Festes beteiligt waren, gut beobachten. Irgendwelche Personen schleppten gerade aus einer seitlichen Tür des großen Gartens Kisten über die Terrasse, dann folgten Männer mit Paketen unter dem Arm, das hübsche, etwas pummelige Hausmädchen Irma lief hinter zwei Männern her, die weitere Behälter trugen. Cora Weißhaupt, die Schwester von Marlene, stand unmittelbar vor der Eingangstür.

„Soll der Wein in den Keller, Fräulein Cora?“, fragte das Hausmädchen.

„Ich glaube ja; aber fragen Sie doch besser meine Schwester!“

Marlene Brandtner, von links über die Terrasse kommend, hatte das Geschehen vom Garten aus beobachtet. Sie war eine der drei schönen Weißhaupt-Schwestern, neben Cora und Manuela, letztere allerdings war schon seit einigen Jahren tot. Während Cora durch zarte, geschmeidige Gesichtszüge, einen gutmütigen, oft mit einem Schuss Frivolität durchmischten Augenausdruck, außerdem durch unaufdringlichen Sex Appeal sofort Sympathie, Wohlwollen bis herzliche Geneigtheit hervorrief, fiel in Marlenes Gesicht oft ein unschöner Zug der Härte auf, auch fixierte sie ihr Gegenüber nicht selten scharf bis herrisch, wobei, wenn sie sprach, ihre Stimme derart an Höhe gewann, dass Albin sich jedes Mal an die aufdringlichen Kreischtöne von Marktfrauen oder an die warnenden Missklänge einer Sirene erinnert fühlte. So nimmt es nicht wunder, dass Marlene von den drei Schwestern diejenige war, welche die Männer am wenigsten faszinierte.

„Ist das ein Roter?“ fragte Marlene mit hoher Stimme und schaute nach. „Nein, Weißwein! Ab in den Keller!“ Sie zeigte Richtung Innenräume, „das Bier auch!“

„Alles klar, Frau Brandtner!“

Irma wandte sich den Männern zu: „Kommen Sie! Ich zeig’ Ihnen den Weg!“

Sie ging jetzt voran, die Männer mit den Kisten hinterher.

Marlene deutete mit einer Armbewegung Richtung Haus und sagte zu Cora:

„Burgunderwein für den Staatssekretär! Seine Lieblingsmarke Meursault!“

„Ah! Kommt Rohleder also doch!?“

„Ganz sicher ist es noch nicht. Auf jeden Fall kommt sein Intimus, der Ministerialdirektor - und natürlich Regierungsdirektor Fux.“

„Wieso natürlich?“

„Ach der Fux...!“ Marlene machte mit der Rechten eine abfällige Geste und suchte nach einer Erklärung, „der will doch… nur testen, wie die Stimmung des Staatssekretärs ist.“

Albin, immer noch in seinem Erker stehend, beobachtete weiter interessiert das geschäftige Treiben auf der Terrasse. Er hätte nicht übel Lust, mit Cora Weißhaupt plaudernd den Morgen zu verbringen, doch möglichst alleine mit ihr und nicht, wenn seine Schwägerin, die unsympathische Marlene, zugegen war. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit. Also wartete er erst einmal.

Sein Blick schweifte über den großen Garten, in dem er gerne spazieren ging, doch Marlene hatte ihm das zwanglose, schwelgerische Verweilen in einer - jedenfalls nach außen hin - paradiesischen Umgebung ein für alle Mal verleidet. Vor einigen Tagen machte sie bei Tisch anzügliche Bemerkungen über Faulpelze und herumschweifende Nassauer, die Albin, da kurz zuvor vom Brandtnerschen Garten die Rede war, auf sich bezog. Eigentlich bedauerte er es, dass er den wunderschönen Garten nicht mehr genießen konnte. Alles hatte ihn immer, sobald er die Schönheiten dort in Augenschein nahm, begeistert: Seine kreuz und quer verlaufenden, mit rötlichem Marmorkies bedeckten Wege, die herrlich aufgebauschten, den großen Rasen einfassenden Rhododendronsträucher, dann das herrliche in Gelb, Rot und Violett prunkende Farbenspiel der Azaleen und nicht zu vergessen die halb hohe, nach allen Seiten dicht ausfächernde Glockenhasel, deren gelbe Blüten das Frühjahr mit ihrem leichten Primelduft einläuten. Noch andere hübsche Gartenblüher zogen seine Blicke auf sich: die Rispenhortensien mit ihren wunderschönen weiß leuchtenden Blütendolden, die wie gefüllte Glocken ausschauen, oder der koreanische Flieder, dessen purpur-violetten Blüten das Auge des Betrachters im Mai und Juni erfreuen und im Herbst dann mit leuchtend gelber Blattfärbung das Ende der Wachstumsphase anzeigen, wie Albin sich von Wilfried hatte sagen lassen. Sehr lange auch, vom Sommer bis Herbst, zeigt noch der kugelige Garteneibisch seine Blüten von Weiß über Rosa bis Violett. Natürlich konnte sich Albin auch an den Rosenrabatten, welche die Kieswege einfassten, nicht satt sehen. Leider musste er jetzt, dank der lieblosen, harten Einstellung seiner Schwägerin, diese Schönheiten des Brandtnerschen Gartens beiseitelassen. Doch immer wieder, von den Fenstern aus, sozusagen aus der Ferne, schweifte sein Blick versonnen und resignierend zugleich über die Pracht der Sträucher und Blüten, als erinnerte er sich eines zu Ende gegangenen Traumes.

Während Albin, in Gedanken versunken, unentwegt in den Garten blickte, ging das geschäftige Treiben auf der Terrasse weiter. Einige Personen trugen jetzt Kästen über die Terrasse:

„Bitte, hier geht’s lang!“ rief ihnen Marlene zu und zeigte den Weg andeutungsweise, „mein Mädchen sagt Ihnen dann, wo Sie’s hinstellen sollen, ja?“

Die Personen verschwanden im Haus.

Cora Weißhaupt, die sich auf einen Gartenstuhl gesetzt hatte, kam wieder auf Staatssekretär Rohleder zurück.

„Wenn der Fux die Stimmung des Staatssekretärs testen will“, fragte sie ihre Schwester, die ebenfalls auf einem Stuhl Platz nahm, „wie kann er das, wenn gar nicht sicher ist, ob Rohleder kommt?“

„Na ja, der Fux meint wohl, er kommt“, meinte Marlene. Dabei dämpfte sie ihre Stimme, als befürchte sie, jemand könnte sie belauschen. „Er möchte halt auch gerne den Posten haben“, fuhr sie leise sprechend fort, „den Wilfried im Auge hat.“

„Du meinst, den Posten des Ministerialrats!“

Da ein Mann mit einer weiteren Kiste zögernd vorbeiging, sagte sie leise zu Cora: „Nicht so laut!“ Dann, sich erhebend und auf den Hauseingang deutend, sprach sie mit lauter Stimme zu dem Mann: „Gehen Sie nur da hinein, das Weitere findet sich von selbst!“

„Ja, ist gut!“

Nachdem der Mann im Haus verschwunden war, setzte sich Marlene wieder.

„Wilfrieds Chancen stehen aber eindeutig besser“, knüpfte sie wieder an, „und gerade das fuchst den Fux. Er glaubt wahrscheinlich, er könnte das Blatt noch wenden.“

„Alle Achtung!“, meinte Cora, „ich mag Männer, die nicht aufgeben, die bis zum Letzten um ihre Chance kämpfen.“

„In diesem Falle aber...“, Marlene verzog spöttisch das Gesicht und fuhr im höhnischem Unterton fort: „…leider zwecklos!“

Nun wurden Blumenkörbe, weitere Pakete und Flaschenkästen über die Terrasse geschleppt. Hausmädchen Irma, die kurz in der Terrassentür erschien, gab wieder Anweisungen:

„Hier geht’s lang, meine Herren! Dann links herum in die Küche, ja?“

„Was ist in den Paketen, Irma?“ fragte Marlene mit lauter Stimme.

„Jede Menge Knabbergebäck.“

„Und in den Kästen?“

Irma schaute genauer hin.

„Edler Champagner, Frau Brandtner, direkt aus der Champagne importiert.“

„Ah ja!“

Irma drehte sich um und verschwand mit den Männern im Haus.

„Na ja, für den Staatssekretär gerade gut genug!“, wandte sich Marlene wieder Cora zu.

„So, so!“

Marlene setzte sich wieder. Da es jetzt auf der Terrasse ruhiger geworden war, nahm sie sich eine Liste vor, studierte sie kurz und machte sich Notizen.

„Alles für den Staatssekretär!“, rief Cora etwas aufgebracht aus, „der edle Champagner, der Meursault und das Knabbergebäck! Und weiß der Himmel, was da noch alles an hochwertigen Sachen herangerollt wird! Ein Aufwand ist das! - Wenn er denn kommt, der erlauchte Herr Rohleder!?“

„Rohleder scheint dir ja nicht aus dem Kopf zu gehen!“

„Bitte?“ Cora schwieg einen Moment, schaute verlegen drein, als hätte sie heikle innerste Gedanken preisgegeben. Dann sagte sie mit gedämpfter Stimme:

„Na ja, ich muss zugeben, Wilfrieds Vorgesetzter ist ein interessanter Mann! Neulich, auf dem Bundespresseball, hat er gleich zweimal mit mir getanzt! Sein Charme ist ... umwerfend! - Ich kann jetzt verstehen, dass der einen Schlag bei Frauen hat.“

„Nicht nur das“, stimmte Marlene, beinah schon enthusiastisch, in das Rohleder-Lob ein, „sein ganzes Auftreten verrät einem sofort: der Mann hat Power. Er wird wohl auch bald seinen Vorgesetzten ablösen, den Finanzminister Walter. Wilfried meint, Walter kann sich nicht mehr lange halten, er ist zum Abschuss freigegeben.“

„Phantastisch!“, rief Cora aus, „ich kann mir nicht helfen, ich finde solche Power-Typen erotisch. Und wenn dann noch das Übrige stimmt, und bei ihm stimmt es ja in unerhörtem Maße, dann...dann...“

„Was dann?“

„...dann ...“, Cora sprach jetzt leise, fast flüsternd, „ garantiere ich für nichts!“

„Cora!“ Auch Marlene nahm ihre Stimme zurück und drohte mit dem Finger, „nimm dich in Acht! Rohleder soll nicht so ohne sein!“

Die Schwester machte daraufhin eine wegwerfende Handbewegung, sagte aber nichts.

Nachdem Marlene weitere Bemerkungen in das vor ihr liegende Heft geschrieben hatte, rief sie Richtung Haus:

„Irma, ist der Prosecco auch mitgekommen?“

„Ja, auch der Sekt!“ schallte es mit lauter Irma-Stimme aus dem Haus.

„Und Whisky, Calvados, Cointreau…?”

„Alles da! Auch das Bier!“

„Und der Eierlikör?“

Erst nach einer kurzen Pause ließ sich Irma wieder vernehmen: „Der noch nicht, aber der kommt noch!“

„Ihr fangt ja früh mit den Vorbereitungen an, Marlene“, sprach Cora wieder im leicht gereizten Ton, „für ein Fest, das erst in drei Tagen stattfindet!“

„Hast du eine Ahnung, was morgen und übermorgen noch anfällt. Ich habe sogar noch eine zusätzliche Kraft eingestellt, eine erfahrene Köchin. Dann müssen am letzten Tag noch die Torten, die Kuchen und die Bonbonnieren herbeigeschafft werden.“

„Für was denn Kuchen?“

„Na wenn sich später wieder Hunger einstellt. Vom Ministerialdirektor weiß ich zufällig, dass er ein Kuchen-Fan ist, und der Fux soll eine Naschkatze sein.“

„Naschkater, muss es doch wohl heißen. Aber warum willst du ausgerechnet den Fux verwöhnen? Der hat es gerade nötig, als Konkurrent von Wilfried.“

„Ja, eigentlich hast du Recht. Aber ich kenne da noch andere Naschkatzen und Kater.“

Cora, die offenbar die letzte Bemerkung auf Rohleder und auf sich bezog, sagte nur leise: „So, so!“

Nach einer Pause, in der Cora etwas nachdenklich geworden war, Marlene sich auch intensiver in ihre Aufzeichnungen vertieft hatte, kam erstere noch einmal auf den Staatssekretär zurück:

„Meinst du, die Gerüchte stimmen“, sagte sie unvermittelt mit lauter Stimme, sodass Marlene von ihrem Notizheft hochschreckte, „dass auch unsere Schwester ... mit ihm ’was … hatte.“

„Ach Unsinn! Man hat sogar gemunkelt, Manuela hätte sich seinetwegen.....; aber das ist doch Quatsch. Rohleder müsste ja ein Meister der Tarnung sein.“

„Ja, eigentlich unmöglich!“

Marlene notierte etwas auf dem Zettel; dann, nach einer Pause, wechselte sie das Thema:

„Cora!“, - ihre Stimme, bisher dunkel und wohllautend, nahm jetzt jenen schrillen Sirenenklang an, welcher bei keinem Mann angenehme Empfindungen auslöste, „was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte...“, - sie brach ab, stand rasch auf, ging zur Terrassentür und schloss sie; dann kam sie zurück an den Tisch: „Was hältst du von Albin?“

„Hm..., dein Schwager ist so ein...Künstlertyp, was?“

„Ja, leider; das heißt, zum Leidwesen meines Schwiegervaters. Er hält ihn für einen Versager.“

Cora wandte den Kopf zur Terrasse, als interessierte sie sich mehr für den wieder aufgelebten Betrieb der Vorbereitungen; man sah wieder Männer mit großen Körben und Paketen über die Terrasse eilen.

„Cora, ich habe dich ’was gefragt!“

„Bitte? Ach so!... Ja..., mir kommt er reichlich ernst vor. Er redet gern über das schwere Leben, das Schicksal… - Neulich, in einem Café, hat er ständig von seinem Bruder gesprochen...“

„... von Hannes!“

„... dass er unheilbar krank ist und in der geschlossenen Abteilung festgehalten wird.“

„Leider bitter nötig!“, sagte Marlene in sehr bestimmtem Ton, „Hannes ist gefährlich.“

„Ja, ich weiß!“

Im selben Augenblick wurde die Terrassentür geöffnet, der Prokurist Heinz Brandtner, Albins und Wilfrieds Vater, betrat die Terrasse und gesellte sich zu den Damen.

„Ah, die Damen sind eifrig ins Gespräch vertieft. Wovon ist denn die Rede, wenn ich fragen darf?“

Heinz Brandtner war ein Mann um die Sechzig, weißhaarig, mit noch glattem, aber stark gerötetem Gesicht. Eine weiße Jacke bauschte sich vorne stark auf, was auf seinen ausgeprägten Speckbauch zurückzuführen war. Seine großen, blauen Augen blickten vergnügt auf die Damen, als finde er alles um ihn herum heiter und spaßig. Doch das täuschte, wie sich gleich zeigen sollte.

„Wir sprachen gerade über meinen Schwager“, sagte Marlene und fuhr mit plötzlicher Schärfe in der Stimme fort: „... deinen verlorenen und wieder heimgekehrten Sohn Albin!“

Der Prokurist nahm sich augenblicklich zurück, seine Augen blickten mit einem Male düster und sorgenvoll.

„Na, es gibt erfreulichere Themen, Marlene! Natürlich ist es einerseits gut, dass Albin wieder zu seiner Familie zurückgekehrt ist. Andererseits - mit seiner Ankunft begannen sofort wieder die Querelen, die uns alle, am meisten aber mich, in keine gute Stimmung versetzen, die uns geradezu... wie soll ich sagen? ... bedrücken und belasten...“ Heinz Brandtner schaute weiter ernst drein... “Na ja!“, sagte er plötzlich mit erhobener Stimme, als wollte er seine Sorgen innerlich beiseitelegen, „wenden wir uns freundlicheren Dingen zu, zum Beispiel eurem bald ins Haus stehenden großen Gesellschaftsabend. Alle diese intensiven Vorbereitungen hier...“ Er deutete mit theatralischer Geste Richtung Terrasse, „deuten ja geradezu auf ein spektakuläres Ereignis hin, nicht wahr? - Du kommst doch auch zu diesem Gala-Abend, Cora?“

„Auf jeden Fall! Den Charme des Staatssekretärs möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.“

„Cora! Ich warne dich! Noch einmal!“ Marlene drohte wieder mit dem Zeigefinger.

„Ach, häng’ es ein bisschen tiefer, Marlene!“ wiegelte Heinz Brandtner in beschwichtigendem Tone ab, „der Staatssekretär ist doch ein netter Mensch, der niemandem etwas zu leide tun kann.“

„Das Erste befürchte ich, Vater, und das Zweite...“ Marlene blickte mit strenger Miene auf ihren Schwiegervater, „...bezweifele ich!“

„Wir werden schon aufpassen, nicht wahr, Cora?“

„Na hör’ mal! Ich bin doch kein kleines Kind mehr, ich kann gut auf mich selbst aufpassen!“

Nicht nur ihre Stimme, auch ihre Miene drückten Empörung aus.

„So, dann möchte ich mich mal ganz schnell verabschieden. Ich muss mir noch einige Bücher in der Bibliothek besorgen. Also, tschüss, ihr Lieben!“

„Tschüss, Cora!“, riefen sowohl Marlene als auch Heinz Brandtner hinter Cora her, die sich augenblicklich davongemacht hatte.

„Und ich muss drinnen nach dem Rechten sehen“, sagte Marlene, und indem sie sich ebenfalls entfernte, rief sie ihrem Schwiegervater noch zu:

„Die Arrangements für den Gala-Abend haben schon begonnen! Ich muss mich darum kümmern.“

„Ja, ja, tu’ das! Bis gleich!“

 

3. Kapitel: Im Kurpark, Begegnung mit einem alten Freund - (… denn er bemerkte, wie der einstige ‘Freund‘ Anstalten machte, seine Frau oder Freundin in einen Seitenweg zu ziehen.)

 

Sven Albin Brandtner hatte inzwischen das Haus seines Bruders verlassen und war in den Kurparkpark von Bad Ingenheim gegangen, wo er seinen morgendlichen Spaziergang absolvierte. Seine Laune war nicht besonders gut. Das herbeigesehnte Plauderstündchen mit Cora Weißhaupt war ihm verwehrt worden, durch diese dämlichen Vorbereitungen auf das Abendfest bei den Brandtners und die ständige Anwesenheit Marlenes, die, wenn Cora bei den Brandtners weilte, immer wie eine Klette an der Schwester klebte.

„Diese lästige Marlene!“ seufzte Albin, „sie kann mich nicht leiden; und ich..., kann sie erst recht nicht ausstehen!“

Doch Cora war ihm wohlgesonnen. Das merkte er immer, wenn er mit ihr angeregte Gespräche im Stadtcafé von Ingenheim führte, was ziemlich oft geschah, jedenfalls dann, wenn Cora ihre Schwester Marlene und ihren Schwager Wilfried besuchte und Albin dann immer Gelegenheit hatte, sie ins Café einzuladen. Mit Cora Weißhaupt kam er immer sofort ins Gespräch; nichts Blockierendes baute sich zwischen ihnen auf, der Gesprächsfaden zwischen ihnen wurde augenblicklich geknüpft, sobald sie sich gegenübersaßen. Waren das nicht gute Voraussetzungen für eine dauerhafte Freundschaft? Ja, in manchen Stunden kam ihm sogar der Gedanke, es könnte sich zwischen ihnen irgendwann mehr entwickeln als nur eine Kameradschaft oder eine oberflächliche Gesprächsgemeinschaft. Cora hatte die Gabe, seine innersten Anliegen sofort zu erkennen oder sie aus seinen Argumenten zu erschließen, die sie dann beherzt und gekonnt aufgriff und weiterentwickelte, indem sie eigene Gedanken und Schlussfolgerungen ins Spiel brachte. Diese Fähigkeit zum ersprießlichen Gespräch hatte ihn bei Cora von jeher entzückt. So muss es in einer glücklichen Beziehung funktionieren! - hatte er mehrmals zu sich gesagt - so harmonisch abgestimmt im Sprechen miteinander. Wo das Gespräch in einer Beziehung oder in einer Ehe verstummt, verflüchtigt sich bald auch die Liebe; glaubte er jedenfalls. Na ja, musste er einräumen, da gibt’s sicher noch anderen Sachen, die funktionieren müssen; doch ohne Gespräche, ohne das wichtige Reden miteinander über dies und das und Gott und die Welt wird auch das Übrige über kurz oder lang .....- Albin suchte nach einem passenden Wort für diesen Vorgang des Nicht-Funktionierens - … wird auch das Übrige bald verschwunden sein. Die Liebe allgemein wird, bei andauerndem Schweigen zwischen den Eheleuten, unausweichlich sich verabschieden. - Ja, ja, die Liebe! Dieses erhabene Wort kam ihm in letzter Zeit, wenn er an Cora Weißhaupt dachte, öfter in den Sinn. Doch nicht nur Coras Talent zum guten Gespräch begeisterte ihn, erst recht war er von ihrem Aussehen, ihrer weiblichen Ausstrahlung fasziniert. Wie Manuela, ihre Zwillingsschwester, fuhr es ihm häufig durch den Kopf, wenn er in ihre graublauen Augen blickte und die harmonischen Züge ihres hübschen Gesichtes betrachtete. Die langen, blonden Haare, die leicht gebogene Nase und ein üppiger, sinnlicher Mund waren erst recht geeignet, wie schon bei Manuela, einen Mann in Aufregung zu versetzen. Aber Manuela war schon lange tot, doch ihre Zwillingsschwester Cora lebte, und wie sie lebte! Wie sie betörte und faszinierte und ihn in eine gehobene Stimmung versetzte!

Marlene Brandtner dagegen - das wusste er - sehnte den Tag herbei, wo er endlich das Haus seines Bruders verlassen würde. Ihre fortwährend abweisende Miene, wenn sie das Wort an ihn richtete, ihr ständiger Widerspruchsgeist redeten eine derart überdeutliche Sprache, dass ihm die Gegenwart Marlenes morgens beim gemeinsamen Frühstück oder überhaupt bei den Mahlzeiten oder bei sonstigen Anlässen beinah schon körperliche Schmerzen bereitete. Aber er hatte keine Wahl. Er hatte das Angebot seines Bruders, vorübergehend bei ihm zu wohnen, annehmen müssen, andernfalls hätte er, der keinen Cent mehr in der Tasche besaß, als Tippelbruder und Wohnungsloser durch die Stadt ziehen müssen!

Verflixt! Was für ein Leben war das! Oder sollte er sagen: Was für eine entsetzliche Fügung? Als ob ihn die guten Geister und sämtliche Schutzengel, so es solche geben sollte, verlassen, ihn im Stich gelassen hätten!

Doch - musste er zugeben - er war an seinem Schicksal selbst schuld. Der überstürzte Entschluss damals vor Jahren, alles hier aufzugeben und sich Richtung Südsee davonzumachen, hatte selbst die wohlmeinendsten seiner Schutzengel verprellt und zum Rückzug veranlasst. Warum hatte er auch diesen verhängnisvollen Entschluss gefasst? Hunderte Male hatte er sich darüber schon den Kopf zerbrochen, und Hunderte Male war er immer zu dem einen Ergebnis gekommen, dass die Situation für ihn damals in Bad Ingenheim unerträglich geworden war! - Vielleicht - überlegte er - wäre er doch besser in Australien geblieben, statt erneut hier nach Ingenheim in die Welt der Spießer und Nützlichkeitsmenschen einzutauchen!? - Aber das Heimweh...! - Albin seufzte erneut, als er sich dieses wehmütigen Gefühls erinnerte, und er wiederholte das Wort gleich zwei-, dreimal: O Gott, das Heimweh, das Heimweh! - Der Mensch weiß gar nicht, welche Empfindungen und seltsame Affekte ihn durchwallen können, wenn er irgendetwas aufgegeben hat, was ihm bislang als selbstverständlich und banal vorgekommen und das nun unwiederbringlich verloren ist. Plötzlich steigen dann diese nicht für möglich gehaltenen Anwandlungen in ihm hoch und signalisieren ihm, dass etwas aufgegeben wurde, was ein Teil von ihm selbst war und dessen Verlust ihm nun heftige Schmerzen oder zumindest eine seltsame Gemütsverstimmung verursachte. Doch in seinem Falle hatte er geglaubt, dass das, was er verloren hatte, noch nicht unwiederbringlich dahin war, dass man es vielleicht wieder aus der Versenkung, wohin alles Irdische dereinst notgedrungen verschwindet, wieder hervorholen und zu neuem Leben erwecken kann. Deshalb und nur deshalb war er wieder in die Heimat zurückgekehrt. Und dieses neue Leben - so hatte er von Tag zu Tag mehr das starke Empfinden, obwohl er immer wieder versuchte, diesen etwas wahnsinnigen Gedanken beiseite zu schieben - dieses neue Leben war untrennbar mit dem Namen Cora Weißhaupt verbunden.

Albin fragte sich auch oft, ob er noch derselbe sei, der damals vor Jahren fluchtartig aus Bad Ingenheim entwichen war? Natürlich nicht! - würde er ganz spontan sagen, und dieses „natürlich“ - im eigentlichen Sinne genommen - bedeutete zunächst einmal, dass schon die Natur durch die Weiterentwicklung des Jünglings zum jungen Manne und später zum gestandenen Manne dafür sorgte, dass sich gewisse Wandlungen in der Anschauung, in der Weltbetrachtung und in der Einschätzung der Mitmenschen ganz zwangsläufig in einem Manne vollziehen, bei einer Frau geschieht dies übrigens meistens schneller als bei einem Mann. Diese Wandlungen hatten sich in seinem Falle in erster Linie wohl wegen bestimmter Erlebnisse in seinem fernen Sehnsuchtsland eingestellt. Mit zu diesem Wandel hatte allerdings auch die Lektüre bestimmter Philosophen beigetragen, die er in der Fremde gelesen und deren Aussagen sich in ihm nachgerade fest verankert hatten. An erster Stelle musste er hier Nietzsche nennen und an zweiter Stelle, aber nicht minder bedeutsam, Schopenhauer. Es war ihm gerade durch die Beschäftigung mit den einschlägigen Aussagen dieser „Weisheitslehrer“ am Ende, kurz bevor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1870-5

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