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Masken


Paul war ein ganz gewöhnlicher Junge. Zumindest fast. Er wurde in einem Krankenhaus geboren, von seinen Eltern über alles geliebt, wuchs heran, ging in den Kindergarten und dann in die Schule. Und da begann Paul zu bemerken, dass er eben doch kein ganz gewöhnlicher Junge war. Kinder können grausam zueinander sein und das sollte Paul schnell bemerken. Am ersten Tag – Paul saß mit einer riesigen bunten Schultüte und einem ebenso riesigen Lächeln auf seinem Stuhl – waren es nur ein paar seltsame Blicke, die sich auf ihn hefteten. Aber bald folgten die Worte und wenig später die Taten.

„Wie siehst du denn aus!?“, fragten ihn einige.

„Bist du krank?“, wollten andere wissen.

„Ist das ansteckend?“, hakten wieder andere nach.

Bald wollte niemand mehr mit Paul spielen. Alle hielten Abstand und wollten ihn nie dabei haben. Irgendwann saß Paul ganz am Rand hinter allen anderen. Er redete nicht mehr viel und hockte nach manch einem ganz schlimmen Tag leise weinend in seinem Zimmer. Seine Eltern merkten wohl, wie schlecht es ihm ging, doch wussten sie ihm nicht zu helfen. Als seine Mutter ihn eines Tages fand, wie er sich betrübt im Spiegel betrachtete, fiel ihr doch etwas ein, wie sie ihrem Sohn das Leben vielleicht ein bisschen erträglicher machen könnte.

Paul besah sich traurig im Spiegel. Er war eigentlich sehr hübsch. Ein paar dunkle Strähnen fielen ihm ins blasse Gesicht. Über seinem spitzen Kinn pressten sich zwei schmale Lippen aufeinander, neben denen sich kleine Grübchen bildeten, wenn er lächelte, was leider selten vorkam. Seine kleine Nase wuchs gerade und auf seinen hohen Wangen glänzten Tränen. Über den Augen lagen zwei schmale, dunkle Brauen, die Augen selbst waren von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt und hatten eine ozeanblaue Farbe mit einer tiefschwarzen, glänzenden Pupille in der Mitte. Das einzige Problem war, dass es an der Anzahl drei waren. Zwischen dem linken und dem rechten Auge hatte noch ein drittes Platz gefunden, dessen blasse Pupille ständig hin und her tanzte und nicht stehen bleiben wollte, ohne Pauls Gehirn jedoch eine Information über sein Sichtfeld mitzuteilen. Die anderen beiden Augen funktionierten einwandfrei und fanden schon bald die braunen Augen im Gesicht von Pauls Mutter, die ihren Sohn lächelnd ansah.

„Sieh mal, mein Paulchen.“ Der Junge zuckte leicht zurück, als sie ihm einen dunklen Gegenstand dicht vors Gesicht hielt.

„Was sagst du?“, sie blickte ihn erwartungsvoll an und neugierig warf Paul einen Blick in den Spiegel. Die dunkle Sonnenbrille verdeckte alle drei Augen, ohne ihm die Sicht zu nehmen. Aber es dauerte nicht lange, da wurde sein Lächeln von düsteren Gedanken getrübt.

„Alle wissen es schon. Sie haben mich gesehen.“

Die Mutter legte ihrem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Und später?“, fragte sie. „Im nächsten Schuljahr bist du mit der Volkschule fertig. Du gehst ins Gymnasium, da wollen die anderen nicht hin, weil es ihnen zu weit weg ist. Aber so weit ist es gar nicht. Du bist in einer völlig neuen Klasse und keiner muss dich je ohne die Brille sehen“, ermutigte sie ihn.

Doch das klang zu simpel. So einfach konnte die Lösung gar nicht sein. Und Paul musste gar nicht lange nachdenken, um Gründe dafür zu finden, warum es so war: „Die werden sich wundern, wenn ich ständig die Brille aufhabe, auch an Regentagen, wenn gar keine Sonne scheint. Und die Lehrer werden es auch nicht erlauben.“

Seine Mutter überlegte kurz. „Und wenn ich zu Doktor Färber gehe? Ich erkläre ihm, dass es dir lieber wäre, mit der Sonnenbrille aus dem Haus zu gehen und bitte ihn, dass er dir ein Attest ausstellt, das dir das Tragen der Brille erlaubt. Er hat sicher Verständnis. Er hat die letzten Jahre mit angesehen, wie dir das alles zu schaffen macht.“

Paul drückte sich an seine Mutter und schlang die Arme um ihren Körper. „Danke, Mama“, flüsterte er froh. „Du bist die beste Mama auf der Welt.“

Trotzdem konnte er das alles noch nicht recht glauben, bis er endlich das Attest in den Händen hielt, das es ihm – da Licht seinen Augen aufgrund einer Krankheit schaden würde – erlaubte, immer eine getönte Brille zu tragen.

 

Und tatsächlich: Diese Idee funktionierte. Pauls Mitschüler fanden sich damit ab, dass er die Brille trug und fragten nicht weiter nach. Einige freundeten sich mit ihm an und langsam ging es Paul wieder besser. Er lachte wieder öfter, redete wieder mehr und fühlte sich einfach wohler. Aber eines nahm er sich fest vor: „Für immer werde ich mein Auge nicht verstecken. Irgendwann werde ich jemanden finden, der so ist wie ich. Mit dem freunde ich mich dann an und wir können gemeinsam mit sechs Augen durchs Leben gehen. Was die anderen denken, kann uns dann egal sein, weil wir immer noch uns haben.“

Und mit diesem Gedanken schlief Paul jede Nacht ein, fest entschlossen, ihn in die Tat umsetzen zu können.

 

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Petra war ein ganz gewöhnliches Mädchen. Zumindest fast. Sie wurde in einem Krankenhaus geboren, von ihren Eltern über alles geliebt, wuchs heran und … im Grunde ging es ihr genauso wie Paul. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Mutter von Beruf Maskenbildnerin war. Ganz leicht fiel es dieser zwar nicht, doch Tag für Tag bekam sie mehr Übung und war immer schneller darin, den kleinen Makel im Gesicht ihrer Tochter geschickt zu verdecken. Das Mädchen hatte sich bald daran gewöhnt, dass ihr drittes Auge zugeklebt und überschminkt wurde; und sollte doch mal jemand genauer hinsehen, hatte sie es sich angewöhnt zu erzählen, sie hätte an der Stelle eine unschöne Narbe, die ihre Mutter ihr täglich verblassen ließ. Da fragte niemand lang weiter und Petra hatte ihre Ruhe. Doch eines nahm sie sich fest vor: „Für immer werde ich mein Auge nicht verstecken. Irgendwann werde ich jemanden finden, der so ist wie ich. Mit dem freunde ich mich dann an und wir können gemeinsam mit sechs Augen durchs Leben gehen. Was die anderen denken, kann uns dann egal sein, weil wir immer noch uns haben.“

Und mit diesem Gedanken schlief Petra jede Nacht ein, fest entschlossen, ihn in die Tat umsetzen zu können.

 

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Und Paul suchte und suchte. In der Zwischenzeit wurde er erwachsen. Und suchte weiter, ohne den Gedanken, aufzuhören. Er würde denjenigen finden, nach dem er suchte, wenn er nur nicht aufgab. Jeder Tag, der verging, machte ihn traurig, verstärkte aber seine Entschlossenheit.

Als er an einem regnerischen Tag von der Arbeit heimkehrte, packte er seine Tasche, da er vorhatte, seine Eltern zu besuchen, und fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof. Mit zehn Minuten Verspätung (wie könnte es anders sein?) fuhr der Zug ein. Paul fand kein freies Abteil, also schob er die Tür zu einem Abteil auf, in dem nur eine junge Frau saß und aus dem Fenster schaute. Als sie hörte, wie die Tür aufgeschoben wurde, drehte sie den Kopf.

„Ist hier noch frei?“, fragte Paul.

Sie nickte.

Eine Weile war es still. Beide hingen ihren Gedanken nach … Ab und zu flitzte der Blick der jungen Frau zu Paul, doch immer, wenn er glaubte, sie wollte etwas sagen, sah sie doch wieder zum Fenster und schwieg. Irgendwann fasste Paul sich ein Herz.

„Sauwetter, hm?“, begann er. Kein sehr spannendes Thema, doch besser, als zu schweigen.

„Ja. Aber das scheint Ihnen nicht viel auszumachen“, erwiderte sie mit einem Blick auf seine Sonnenbrille.

„Ich habe eine Art Sehschwäche. Licht schadet meinen Augen, da bin ich so gut wie blind“, erklärte Paul, so wie er es schon tausende Male getan hatte.

„Oh, das tut mir leid“, entschuldigte sie sich.

„Das muss es nicht. Ich habe mich daran gewöhnt. Es gibt wohl Schlimmeres.“ Einen Moment lang überlegte er, was er noch sagen könnte, um dann zu fragen: „Und? Wo fahren Sie hin?“

„Nach Altstadt, eine ehemalige Studienkollegin besuchen. Sie hatte Geburtstag. Und Sie?“

„Ich fahre zu meinen Eltern. Die haben zwar nicht Geburtstag, aber das erspart es mir, ein Geschenk mitzubringen“, scherzte er.

Sie lächelte leicht. „Das ist nett, dass Sie ihre Eltern besuchen fahren, einfach so. In dem Altenheim, in dem ich arbeite, gibt es Leute mit fünf Kindern, die nicht einmal am Muttertag oder an Weihnachten besucht werden.“

„Oh, das ist ja traurig. Sie müssen wissen: Meine Eltern sind mir sehr wichtig.“ Paul zögerte kurz, unsicher, ob er den nächsten Gedanken aussprechen sollte. Er entschloss sich dazu, es zu tun: „Ich weiß nicht, ob ich ohne meine Mutter noch leben würde.“

Wieder lächelte sie. „Mir geht es genauso. Sie hat mir durch schwere Zeiten geholfen.“

Paul nickte wissend. „Manche Eltern sind so toll, dass man sich gar keine besseren wünschen kann.“

„Sie wissen ja nicht, wie sehr das auf meine zutrifft.“

Aus dem Lautsprecher über Pauls Kopf drang plötzlich eine brummige Stimme: „Meine Damen und Herren, wir erreichen in Kürze den Bahnhof Altstadt. Wir wünschen den Fahrgästen, die hier aussteigen einen schönen Tag und den übrigen eine angenehme Weiterfahrt.“ Dann folgte derselbe Text nochmal in stockendem Englisch: „Ladies and Gentlemen …“

Die junge Frau erhob sich von ihrem Platz, holte ihre Tasche aus dem Gepäckfach und öffnete die Abteiltür. Vor dem Abteil drehte sie sich um und lächelte freundlich. „Auf Wiedersehen. Machen Sie’s gut … ?“

„Paul“, ergänzte Paul. „Sie ebenfalls. Hat mich gefreut, mich mit Ihnen zu unterhalten, …?“, erwiderte Paul.

„Petra“, ergänzte Petra. „Vielleicht begegnen wir uns mal wieder.“

 

Und dann war sie verschwunden. Paul lehnte sich in seinem Sitz zurück und warf durchs Fenster noch einen letzten Blick auf Petra, die sich durch den überfüllten Bahnsteig schlängelte.

 


Wie viele Leute man traf und dann nie wieder sah, ungewiss, wie es ihnen in den nächsten Minuten, Stunden, Tagen und Monaten erging.

Wie viele Leute man traf und nicht kennen lernte.

Wie viele Leute man traf und nicht hinter ihre Maske schauen konnte.

 

Shel Silverstein

Zu dieser Kurzgeschichte wurde ich inspiriert vom Gedicht „Masks“ von Shel Silverstein, das wie folgt lautet.

 

She had blue skin,

And so did he. 

He kept it hid

And so did she. 

They searched for blue

Their whole life through,

Then passed right by --

And never knew. 

 

Darin steckt viel Wahrheit. Wer einen Gleichgesinnten sucht, während er sich selbst versteckt, wird schwerlich Erfolg bei seiner Suche haben. 

Impressum

Texte: Shel Silverstein ist der Urheber des zitierten Gedichtes "Masks".
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

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