Der Autor lebt sehr ländlich mit Frau und Katze am Rande von Berlin, schreibt Kurzkrimis und Liebesgeschichten für Zeitschriften und hin und wieder ein Buch.
Lesen Sie auch:
"Kein Ring, kein Kuss - Erinnerungen an Israel
Der Roman von Mark Hollberg
Mehr dazu hier klicken.
Theo, Micki, Ronald und die anderen erleben ihre Kindheit in den 60er Jahren mit Brucheis für 10 Pfennig, mit Afrikatüten, in denen Nashörner, Elefanten und Eingeborene auf ihre Befreiung warten, mit Fahrrädern, die eine 3-Gang-Schaltung haben und sie lernen für 50 Pfennig den Geschmack von Pommes Frites in Tüten kennen. Es gab keine Handys und die wenigsten Haushalte hatten Fernseher oder Auto.
Hartmut aus dem Nachbarblock ging irgendwie hölzern und ungelenk. So wie eine Marionette, an deren Fäden drei Puppenspieler gleichzeitig ziehen. Trotzdem war er einer der Schnellsten, wenn plötzlich der Ruf ertönte: »Brucheis! Es gibt Brucheis!«
Der Ruf pflanzte sich fort. Von Kindermund zu Kindermund. Hartmut gehörte zu den Bergmann-Geschwistern. Freitags badete Helmut, der Älteste. Samstags badete Hartmut und Sonntag früh badete Sieglinde, das Nesthäkchen der Familie Bergmann. Alle anderen aus unserer Straße wurden samstags zum Baden gerufen und trollten sich murrend heimwärts, nur bei den Bergmanns gab es diesen ausgeklügelten Badeplan. Die Bergmann-Kinder glänzten dann immer wie frisch geputzte Äpfel.
Woher der Rufer seine Informationen über das Brucheis hatte, blieb im Dunkeln, aber für uns gab es dann kein Halten mehr. Wir sausten los. Die meisten von uns zu Fuß, einige wenige mit ihren Fahrrädern. Uns musste keiner sagen, wo es das Brucheis gab. Uns reichte das Signal. Am hintersten Ende der Elisabethstraße gab es ein paar Lagerhallen, eine Werkstatt für Fahrräder und Mopeds und neuerdings stand sogar manchmal ein Auto vor der geöffneten Tür. Zwischen Werkstatt und leerstehender Lagerhalle verkaufte Siegfried Eis am Stiel aus einem großen bunten Kasten, der auf einem Fahrrad montiert war. Alles kostete 10 Pfennig und manchmal erwischte man sogar einen Kluten. Brucheis eben. Eis, das in normalen Geschäften nicht mehr verkauft werden konnte, weil es irgendeine unbedeutende Macke hatte.
Immer mehr Kinder, die das Glück hatten, das Signal gehört zu haben, schlossen sich uns an. Revierstreitigkeiten und Bandenfeindschaften ruhten für diesen paradiesischen Moment. Die Grenzen, die sonst eingehalten und im Ernstfall auch verteidigt wurden, wischte das Brucheissignal weg. Ich hatte Pech.
Ich hatte keinen einzigen Pfennig in meinen Hosentaschen. Ganz außer Atem stürzte ich die Treppen unseres Mietshauses hoch.
»Omi!«
Ich schrie schon auf der Treppe.
»Omi! Brucheis!«
Das Ritual dauerte nur wenige Sekunden. Meine Oma öffnete die Tür, steckte mir 50 Pfennig in die ausgestreckte Hand.
»Lauf langsam, Junge«!
Ich machte auf dem Absatz kehrt und polterte die Treppen wieder nach unten. Frau Sadowski aus Parterre Mitte öffnete wie gewöhnlich bei Lärmentfaltung ihre Tür, machte ein strenges Gesicht und sagte etwas. Ich war ein höflicher Junge und grüßte immer artig. Heute nicht. Die letzten drei Stufen übersprang ich. Ich war ein schneller Läufer und hatte keine Mühe, die anderen einzuholen.
Sieglinde überholte ich als erste. Das Bergmann-Nesthäkchen war ein dickes unsportliches Kind und hielt nicht viel vom Laufen. Unbarmherzig, wie Kinder sind, sprachen wir sie deshalb meistens nur mit »Dicke« an. Angst vor Familienrache hatten wir nicht. Den beiden älteren Brüdern war es egal, Vater und Mutter Bergmann auch. Ganz selten nur bat uns Sieglinde, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Wir hielten uns nicht daran.
»Schneller, schneller. Sonst ist alles weg!«, rief ich ihr im Vorbeilaufen zu. Vor mir erkämpfte sich der kleine Derschka Meter für Meter. Der semmelblonde Micki Derschka war der kleinste von uns und lebte wochentags bei seinem Zigarre rauchenden Großvater in der Eckwohnung gegenüber. Am Wochenende war er bei seiner Mutter. So wie ich auch. Die Eckwohnungen in Parterre waren schön. Sie hatten große Fenster, die bis zum Boden reichten. Oft standen wir vor den Parterrewohnungen am Zaun und guckten heimlich Fernsehen mit, bis die Vorhänge zugezogen wurden. Fernsehen war eine Sensation. Es gab zwei Programme, manchmal drei.
»Los, Micki, rennen!«
Ich nahm den Kleinen sozusagen ins Schlepptau. Vor uns hechelten Ronald und sein kleiner Bruder Frank. Ganz zu Anfang gab es nur Ronald.
»Kommt Ronald raus?«, fragte ich schüchtern so manches Mal Frau Wachowiak.
Im Inneren der Wohnung hörte ich dann Babygeschrei und meistens kam Ronald auch. Und dann gehörte plötzlich auch sein Bruder Frank zu uns. Dicht gefolgt von Carsten, dem dritten Wachowiak im Bunde. Aber soweit war es noch nicht.
Vor den beiden Brüdern Wachowiak wackelte Hartmut Bergmann dem Ziel entgegen und warf seine Beine dabei in alle Richtungen. Siegfried strahlte übers ganze Gesicht.
»Langsam. Ich habe genug.«
Er ließ den Deckel seiner Eistruhe offen und verteilte sein Brucheis wie am Fließband. Jedes Kind nur ein Teil. Wir standen brav in einer Schlange vor seinem Wunderfahrrad. Brabantstraße, Gutenbergstraße, Elisabethstraße. Alle standen friedlich durcheinander. Siegfried hatte eine Glatze und sein Hinterkopf war seltsam vernarbt.
»Granatsplitter« hatte er mal kurz angebunden gesagt, als ihn ein vorlauter Lederhosenträger aus der Gutenbergstraße danach fragte. Wir nickten allwissend, hatten aber keinen Schimmer, was Granatsplitter waren. Auch meine Großeltern hüllten sich in die gängige Erklärung, wenn Erwachsene keine Lust auf Erklärungen haben.
»Granatsplitter? Das verstehst du noch nicht.«
Am Ende der Schlange stand Gaby. Gaby war ein Mädchen, benahm sich aber wie ein Junge. Gaby spuckte auf den Boden und rollte sich mit uns Jungens den kleinen Abhang herunter, so wie wir es bei »Lassie« gesehen hatten. Wenn der böse Junge sich mit dem guten Jungen stritt. Solange, bis »Lassie« bellend daneben stand, an den Hosenbeinen riss und den beiden Streithähnen das kameradschaftliche Händeschütteln aufnötigte. Von meinem Zimmer konnte ich genau in ihr Zimmer gegenüber gucken. Milseweg Nummer 4. Gaby und Sieglinde waren die einzigen Mädchen unserer kleinen Bande. Wir wohnten alle in den Werkswohnungen der naheliegenden Fabrik, wo Säcke aus Jute hergestellt wurden. Dort, wo unsere Väter und Großväter arbeiteten. Außer Vater Bergmann, der Schichtarbeiter im Hafen war, immer eine große Tasche auf dem Gepäckhalter seines Fahrrads festschnallte und zur Arbeit radelte.
Heute passierte das Unvorstellbare. Es war nicht genug Brucheis da. Zwei Jungen aus der Gutenbergstraße und ein Mädchen aus der Elisabethstraße gingen leer aus. Ich kannte ihre Namen nicht, konnte sie aber den Straßen zuordnen. Siegfried knallte den Deckel seiner Eistruhe zu und sagte nur: »Ihr werdet ja immer mehr.«
Aber einen von uns hatte es auch erwischt. Gaby. Die Letzte in der Schlange. Sieglinde hatte ihr Eis wie immer schon verschlungen, ihr Bruder Hartmut fummelte mit ungelenken Fingern noch am Papier herum, die Wachowiak-Brüder und der kleine Micki standen abseits und genossen ihre Beute. Ich schaute mein Eis an. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Gaby. Gaby ohne Eis. Ich wusste, dass ihr Herz blutete. Jeder konnte es sehen. Ich hatte noch 40 Pfennig. Konnte, wenn ich wollte, ein neues Eis am Stiel regulär im Geschäft bei Tante Martha kaufen. Aber ohne Jagdfieber. Brucheis war etwas Besonderes. Es war wie eine Trophäe. Der Schnellste machte Beute. Gaby gehörte aber zu uns.
»Hier, Mädchen, nimmste meins.«
Der gutmütige Siegfried gab ihr seinen Kluten, den er eigentlich für sich reserviert hatte. Gaby strahlte. Uns anderen fiel ein Stein vom Herzen. Das Gleichgewicht in unserer Kinderbande war wieder hergestellt.
Am liebsten hatte ich, wenn man mich Theo rief. Ich heiße Theodor, fand diesen Namen aber weder abenteuerlich noch klangvoll. Keiner, den ich kannte, hieß so. Alle Jungen hießen Ronald, Frank, Michael oder Hartmut. Theodor klang anders. Theo war in Ordnung und so wurde ich auf der Straße auch gerufen. Meine Mutter nannte mich Hasi, aber das durfte von den Jungs keiner erfahren. Meine Großeltern nannten mich sowieso nur »Junge«.
»Junge, zieh dich an. Du kannst mitkommen.«
Es war ein seltsamer Tag. Großvater war zu Hause und nicht in der Fabrik. »Omi, ich möchte eine Katze. So wie bei Tante Grete in Wilhelmshaven.«
Meine Großmutter überhörte diesen Wunsch ganz einfach und schrubbte mir 6jährigem Bürschchen die schmutzigen Knie, bis sie tomatenrot und sauber waren.
»Ich sorge auch für sie«, bekräftigte ich meinen Wunsch. Leider erfolglos. »Was der Junge nur immer mit Katzen hat«, hörte ich sie irgendwann mal zu Opa Fritze sagen.
»Das ist der schlechte Einfluss von der buckligen Verwandtschaft seiner Mutter«, nörgelte Oma weiter.
»Grete und ihre ollen Katzen. Die ganze Wohnung ist voll und der Garten dazu.«
Sie machte eine kurze Pause.
»Fritz, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja«, antwortete Opa Fritze nur und zog seine guten Sachen an.
»Junge, kannst mir helfen, meinen Spind auszuräumen.«
Ich verstand nur Bahnhof, schlüpfte umständlich in meine Sandalen und machte die Schnalle im dritten Loch zu. Warum sollte ich helfen, den Spind auszuräumen? Welchen Spind? Was war ein Spind überhaupt? Zu Fuß gingen wir los. Meinen Großvater kannte ich nur in blauen Arbeitshosen oder in ausgebeulten Hosen, wenn er auf dem Sofa saß. Heute trug er einen grauen Anzug, aluminiumfarbene Schuhe und sogar einen Schlips und ich war sauber wie am Sonntag.
Wir passierten das Werkstor.
»Na, Fritz, freust du dich auf die Rente?«
Der Pförtner legte zwei Finger an seine Mütze und ließ uns grinsend passieren. Ganz viele Männer in blauen Arbeitsanzügen kamen uns entgegen. Fast alle grüßten oder machten lustige Bemerkungen.
»Jetzt beginnt das Leben, Fritze!«
»Endlich haste Zeit zum Geldausgeben.«
»Na, zeigste dem Kleinen schon mal seinen Arbeitsplatz?«
Es war lustig, aber andererseits auch unheimlich. Überall blaue Männer, Lastwagen, schmutzige Gebäude. Ich hielt fest die Hand von Opa Fritze. Tatsächlich räumten wir dann seinen kleinen Schrank leer. Das war also ein Spind. Er war so klein, es passten nur ein paar Schuhe, eine alte Tasche, ein paar Werkzeuge und seine blaue Jacke mit blauer Hose hinein. Opa stopfte alles in eine braune Ledertasche und ließ zu meinem größten Erstaunen die Schranktür offen. Zu Hause guckte mich Oma immer streng an, wenn ich mal eine Tür offen ließ. Und jetzt machte Opa es genauso.
»So, Junge, jetzt habe ich viel Zeit. Jetzt bringe ich dir bei, wie man gerade auf Papier mit Linie schreibt.«
Ich konnte natürlich schon schreiben, rutschte aber immer von der Linie und verlor mich auf der Seite meines Schreibheftes.
Spucken war groß in Mode bei uns. Wie die Orgelpfeifen hockten wir auf der kleinen Mauer vor dem Hause Bergmann und spuckten vor unsere Füße. Wir sagten nicht viel. Sammelten Spucke und machten immer größere Pfützen. Die Schule war für heute aus und das Mittagessen in unseren Bäuchen machte uns träge. Hartmut hatte sich das Transistorradio von seinem älteren Bruder Helmut ausgeliehen und in dem Moment waren wir die lässigste Bande des ganzen Viertels. Nicht besonders gefährlich, wie man es von einer Bande erwartet, aber lässig.
»Helmut wird Maler«, sagte sein Bruder Hartmut.
Wir anderen nickten ehrfurchtsvoll. Helmut wurde bald 16 und wird Maler. Jeden Tag schöne Bilder malen. Vielleicht sogar Kunstwerke. Mein Unverständnis für Handwerk hat sich bis heute erhalten. Damals stellte ich mir unter »Maler« einen Mann im buntbefleckten Hemd vor, der große Bilder malte. Der Rest von uns machte sich über seinen beruflichen Werdegang noch keine großen Gedanken. Wir besuchten alle erst die Grundschule an der Nordstraße. Außer Hartmut. Der ja als Kind in heißes Wasser gefallen war und deshalb auch auf eine ganz andere Schule ging. Micki hatte inzwischen die größte Spuckepfütze angesammelt und ließ von oben Steinchen hineinplumpsen. Es sah aus wie ein kleines Meer. Ronald griff nach hinten in den Vorgarten, nahm eine Handvoll Erde und schüttete sein eigenes Meer dicht. Und ganz plötzlich waren sie da. Sie standen einfach vor uns und grinsten gemein.
Wir kannten diese vier Kerle nicht. Weder kamen sie aus der Gutenbergstraße noch aus der Elisabethstraße. Vielleicht kamen sie von jenseits der Nordstraße. Das war gefährliches Pflaster, hieß es. Alleine gingen wir jedenfalls dort nicht hin. Außerdem waren sie älter als wir. Sie sahen irgendwie böse und fies aus.
»Schöne Musik.«
Wir aus der Brabantstraße warfen uns stumme Blicke zu. Dann packte der Größte der Fieslinge Hartmut und stieß ihn einfach nach hinten in den Vorgarten. Dort lag er wie ein gekentertes Schiff. Ein anderer ergriff blitzschnell das Transistorradio und ehe wir nur piep sagen konnten, hauten die Burschen in Richtung Nordstraße ab. Micki sah aus wie frische Milch und Ronald hatte vor Schreck seine Sandale in seinen Berg aus Spucke und Sand gestellt. Mir schlotterten die Knie. Ich bin schnell, aber nicht sehr mutig. Eine ideale Kombination. Hartmut rappelte sich auf und verschwand wortlos im Treppenhaus. Wir anderen verstreuten uns ebenfalls in unseren Hauseingängen. Wunden lecken und Hausarbeiten machen.
»Diese Halbstarken gehören alle ins Arbeitshaus!«
Opa Fritze war empört. Der Klau des Transistorradios hatte sich herumgesprochen. Hartmut hatte eine Woche Hausarrest bekommen und wahrscheinlich noch zusätzlich eine Backpfeife. Aber er konnte ja gar nichts dafür.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mark Hollberg/Autor
Cover: Cover Design by James, GoOnWrite.com
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2015
ISBN: 978-3-7368-9049-7
Alle Rechte vorbehalten