Was als Reisebericht beginnt, entwickelt sich schnell zu einer zarten Liebesgeschichte mit Höhen, Tiefen und Verwunderungen. Die beiden jungen Menschen, die sich in einem israelischen Kibbuz begegnen, stammen aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen. Daliah, die Neueinwanderin, kommt aus dem Iran und Bernd, der von ihr Berenod genannt wird, ist ein reservierter Norddeutscher. Ein Roman über die Liebe, die auf leisen Sohlen kommt und auch vor unterschiedlicher Religion und Herkunft nicht haltmacht.
Der Autor:
Mark Hollberg ist Texter, Autor und Schriftsteller und lebt mit Frau und seiner Katze namens Kümmel sehr ländlich im Norden von Berlin. Mark Hollberg finden Sie auch bei Facebook.
Das Buch
Fast 30 Jahre sind vergangen, als Bernd Schmidt auszog, die Welt zu erobern, aber nicht weiter als bis Israel kam, sich in das Land und in eine stolze Iranerin verliebte, die als Neueinwanderin nach Israel gekommen war und ihn Stück für Stück mit ihrem Charme, ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer orientalischen Schönheit vereinnahmte. Größer konnten die Gegensätze nicht sein. Sie, die 20jährige Jüdin aus dem Iran mit festen Moralvorstellungen und er, der kühle Norddeutsche, der Wein, Weib und Gesang nicht ausschlug und kaum erwachsen war. Nicht nur anfängliche Sprachschwierigkeiten machten den beiden jungen Menschen zu schaffen, auch störrische Familienmitglieder legten ihnen große Steine in den Weg und Bernds Aufenthaltserlaubnis währte nicht ewig.
Ein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit war der Kibbuz, wo sie lebten und arbeiteten; hier wurden Daliah Cohen und der Deutsche Bernd Schmidt akzeptiert und in die Gemeinschaft aufgenommen, hier lernte er fließend Hebräisch, wurde Fachmann für Legehennen, verfolgte die vor ihm fliehende Daliah bis nach Jerusalem, startete zusammen mit ihr eine Karriere, die selbst für Israel ungewöhnlich ist und war plötzlich der nächste Angehörige einer frischgebackenen israelischen Soldatin, die ihren Wehrdienst zu erfüllen hatte und die schöner als Farah Diba, die Frau des Shahs von Persien, war. So viel Glück auf der einen Seite erforderte allerdings ein Gegengewicht auf der anderen Seite.
Der Tag der Abreise rückte näher, ich nahm Abschied von meinen Verwandten und Freunden und von meiner Heimatstadt, schnappte mir meinen vollgestopften Seesack und zog los. Vollgepackt sieht ein Seesack aus wie eine übergroße Wurst, leer kann man ihn ganz klein zusammenfalten und in einer Schublade aufbewahren. Diese große Wurst kann man lässig auf der Schulter transportieren, wie man es aus Filmen kennt, wenn der erwachsen gewordene Junge aus dem Krieg nach Hause heimkehrt und einen großen Seesack auf der Schulter trägt. Oder aber man klemmt den Seesack unter den Arm, was nur funktioniert, wenn er, der Seesack, nicht zu schwer ist. Ein vollgepackter Seesack ist aber schwer und so kann der Träger ihn nicht sehr lange unterm Arm geklemmt tragen. Die dritte Möglichkeit des Transportes bietet die eingearbeitete Schlaufe, die recht haltbar ist. Der Seesackträger schlüpft mit einem Arm hinein und kann das pendelnde Ungetüm wie eine gigantische Handtasche tragen.
Aber ehrlich gesagt, keine von diesen Transportmöglichkeiten ist optimal. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich mit dem blöden Seesack gewaltig abgeschleppt, was aber noch gar nicht der größte Nachteil war.
Flüge nach und von Israel unterliegen schärfsten Sicherheitsbestimmungen. Damals war die Technik noch nicht so weit wie heute und so gut wie alle Gepäckstücke mussten geöffnet werden, damit sich der Sicherheitsbeamte von der Harmlosigkeit der Unterwäsche überzeugen konnte. Bei einem Koffer ist das gar kein Problem und auch ein Rucksack ist schnell zu öffnen. Nicht jedoch mein Seesack. Mein Seesack hatte oben eine Öffnung. In diese Öffnung stopft man seine Wäsche und drückte sie auf den Boden des famosen Seesacks und füllt so den Sack Hose für Hose, Hemd für Hemd, bis er prall gefüllt ist. Man kam überhaupt nur von oben an seine Sachen heran. Der Sicherheitsbeamte wollte aber einen guten Querschnitt des Inhalts sehen.
»Auspacken, junger Mann«, sagte er nur. Ich erbleichte, wie Ephraim Kishon immer gerne in seinen Geschichten schrieb.
»Alles?«, wagte ich zu fragen.
»Alles.«
Ich musste meinen Seesack komplett auspacken, der Beamte nickte wohlwollend und ich durfte den Sack nach einer gewissenhaften Prüfung wieder vollstopfen. Jetzt wusste ich, warum ich so selten Reisende mit Seesäcken gesehen habe. Ich hätte fast meinen Flug nach Tel Aviv verpasst. Meine Begleiterin Birgit hockte schon auf unseren Plätzen und wartete auf mich. Mehrmals wurde ich aufgerufen, aber ich quälte mich immer noch mit meiner Wäsche herum, die sich in der Hektik als ziemlich widerspenstig erwies und sich weigerte, tiefer in den Seesack zu rutschen. Und was sagen Frauen in solchen Fällen? »Ich habe dir doch gleich gesagt, nimm lieber einen Rucksack«, zischte meine Begleiterin Birgit.
Der Flug verlief störungsfrei und ein paar Stunden später landeten wir auf dem Flughafen von Tel Aviv, dem Airport Ben Gurion, der bis vor kurzem noch Lod hieß.
Die Idee war vor einiger Zeit geboren worden und nun war ich mittendrin, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich wollte für eine Zeitlang als freiwilliger Helfer in einen Kibbuz gehen, danach so richtig durchstarten und die Welt bereisen. Afrika, Südamerika und Australien standen auf meinem inneren Reiseplan und diesen Plan wollte ich mit meinen 22 Jahren nun verwirklichen, bevor ich einer geregelten Tätigkeit in einem Büro nachging. Also erst nach Israel in einen Kibbuz.
In diesen landwirtschaftlichen Siedlungen, den Kibbuzim, lebten die Menschen gemeinschaftlich zusammen, es gab kein oder kaum Privateigentum, alle Mitglieder waren gleichberechtigt, Mahlzeiten wurden zusammen im Speisesaal eingenommen, die Kinder wurden in Kindergärten aufgezogen, Feste wurden in der Gemeinschaft gefeiert und Entscheidungen wurden demokratisch in den Versammlungen getroffen, wo es manchmal recht turbulent zuging.
Wie kommst du nur auf solche Ideen, wurde ich immer wieder gefragt und meine übliche Antwort war, ich wolle Land, Leute und die Welt kennenlernen, ich wäre ja noch jung und die berufliche Laufbahn könne ruhig noch etwas warten. Stimmt alles. Fast jedenfalls. Verschwiegen habe ich, dass mir ein Buch von dem israelischen Satiriker Ephraim Kishon in die Hände gefallen war und ich danach alle anderen Bücher von ihm mit großer Begeisterung gelesen habe. Das war der eigentliche Anstoß dafür, dass ich das kleine schrullige Land am Mittelmeer und seine Bewohner näher kennenlernen wollte. Aber das habe ich niemanden erzählt, weil man mich sonst für noch verrückter gehalten hätte, als man es sowieso schon tat.
Natürlich habe ich auch ernsthafte Informationen über Israel gesammelt, was in der damaligen Zeit Mitte/Ende der 70er Jahre nicht unbedingt einfach war. Es gab ja noch überhaupt kein Internet! Brauchte man Informationen über irgendein Thema, musste man in die Bücherei gehen, Bücher aus Papier wälzen oder Zeitschriftenverlage anschreiben, während der Suchende heute mit ein oder zwei Klicks die gewünschten Informationen aus dem Internet erhält.
Ich schrieb an die Israelische Botschaft, die sich damals in Bonn befand, und bat um einschlägige Informationen zu einem Kibbuzaufenthalt, die ich auch umgehend bekam. Gleichzeitig gab ich in unserer Tageszeitung eine Kleinanzeige auf und suchte Mitfahrer. Ich dachte mir, so wäre es geselliger. Gemeldet haben sich merkwürdigerweise nur junge Mädchen, was mich 22jährigen Jungmann überhaupt nicht störte und ich wurde mit zwei jungen Damen, Gudrun und Birgit, handelseinig. Das dritte Mädchen wollte Palästina befreien, was nicht in mein Konzept passte. Also durfte sie sich unserer kleinen Gruppe nicht anschließen.
Aus den Unterlagen der Israelischen Botschaft suchte ich eine passende Organisation aus, die freiwillige Helfer aus Deutschland an einen Kibbuz vermittelte, wir buchten und die Sache war perfekt. Unsere vorübergehend neue Heimat hieß Kfar Yochanan und lag in der Nähe der Hafenstadt Haifa. Haifa ist die drittgrößte Stadt in Israel, hat ca. 270.000 Einwohner und war vor 1000 Jahren eine bedeutende arabische Stadt, die von Kreuzfahrern komplett zerstört wurde. Während der Zeit des britischen Mandats von 1922 bis 1948 war Haifa für die Briten ein wichtiger Hafen für Nachschub und Truppenbewegungen und für Tausende jüdischer Flüchtlinge aus Europa das Eingangstor in ihre neue Heimat. Aber zurück zu unseren Reiseplanungen. Die Maid Birgit wollte sofort mitkommen, die Studentin Gudrun uns ein paar Wochen später folgen. Sie musste vorher noch ein paar Doktorarbeiten für Politiker schreiben. Während ich auf die Unterlagen und auf die Flugtickets wartete, machte ich mir Gedanken über mein Gepäck. Koffer? Nein, zu spießig. Rucksack? Tragen alle. Ich entschied mich für dieses Ungetüm von einem Seesack.
Haifa, unser nächstes Etappenziel, liegt etwa 100 Kilometer entfernt von Tel Aviv, sodass wir die erste Nacht in Israel in der Jugendherberge von Tel Aviv verbrachten, die wir dank Stadtplan auch schnell fanden. Ich konnte mich überhaupt nicht sattsehen. Tel Aviv war damals schon eine Großstadt und heute ist sie noch größer und quirliger. Überall Menschen, Lichter, weiße Häuser und hupende Autos und ich fühlte mich gar nicht wie im Nahen Osten oder im Orient. Alles erinnerte mich an große westliche Städte in Südfrankreich oder in Spanien, wo ich schon oft im Urlaub war. Nur die hebräische Sprache klang völlig anders und sehr ungewohnt. Ungewohnt war auch, dass man hier und da kleine Grüppchen von Soldaten in grünen Kampfanzügen und mit Gewehren sah, was es in Deutschland natürlich nicht gab. In Israel leisten übrigens nicht nur die Männer ihren Wehrdienst, sondern auch die Frauen.
In Israel sagt man zu jeder Begrüßung Schalom. Es bedeutet Frieden, Unversehrtheit und ist der Gruß für jede Gelegenheit. Hebräisch wird von rechts nach links gelesen und geschrieben und das Wort Schalom sieht so aus: שלום.
Diese Schrift war völlig fremd für meine Augen. Schalom wird zu jeder Tages- und Nachtzeit gesagt. Man geht in einen Laden und sagt Schalom. Man möchte eine Fahrauskunft am Busbahnhof und sagt erstmal Schalom. So wie der Ostfriese zu jeder Zeit Moin sagt. Natürlich gibt es auch Grußworte für Guten Morgen oder Gute Nacht. Nämlich Boker Tov und Laila Tov. So wird es jedenfalls gesprochen. Ich habe später in Israel Hebräisch gelernt, um mich richtig mit der schönen Daliah unterhalten zu können, in die ich mich rettungslos verliebt hatte und sie sich in mich, was zu vielen Turbulenzen und einer völligen Neuausrichtung unser beider Leben führen sollte.
Aber so weit war ich noch lange nicht. Nun mussten wir erstmal unseren Kibbuz ansteuern. Haifa, die große Hafenstadt im Norden des Landes erreichten wir mit dem Bus am nächsten Morgen und Kfar Yochanan irgendwann im Laufe des Vormittags. Haifa ist nicht ganz so hektisch wie Tel Aviv und wir fanden uns dank der Wegbeschreibung, die wir von der Vermittlungsorganisation erhalten hatten, gut zurecht. Meine Begleiterin Birgit sprach nicht gut Englisch, hatte aber kräftig gelernt und war guten Mutes, dass ihre Sprachkenntnisse ausreichen würden.
Mein Englisch war ganz gut; Fremdsprachen lagen mir in der Schule mehr als Physik oder Mathematik und irgendwie mussten wir uns ja mit all den Menschen unterhalten, die wir bald treffen würden. Schon in der Jugendherberge und am Flughafen haben wir gemerkt, dass in Israel jedermann auch englisch spricht. Englisch ist die zweite Amtssprache in Israel, was noch aus der britischen Mandatszeit stammt, denn von 1922 bis 1948 stand der Landstrich Palästina unter britischer Verwaltung. Hebräisch hat sich erst nach und nach durchgesetzt. Der Bus hielt an der Endhaltestelle in der 20 Kilometer von Haifa entfernten Ortschaft Kiryat Ata und von dort führte eine einzige Straße leicht bergauf zu unserem Kibbuz. Ohne Gepäck braucht man eine halbe Stunde zu Fuß, mit Gepäck etwas länger.
Auf der Hälfte der Strecke überholte uns glücklicherweise ein Lieferwagen und nahm uns das letzte Stück mit. Dem Fahrer war klar gewesen, wer hier auf dieser Strecke mit Gepäck läuft, kann nur Kfar Yochanan als Ziel haben, wir sprangen auf und fuhren in dem klapprigen Auto mit kleiner Ladefläche direkt in unseren Kibbuz hinein und der gute Mann zeigte uns sogar noch den Weg zum Anmeldungsbüro für Volontäre. Das Wort Volunteer war ein fester Begriff in sämtlichen Kibbuzim und jeder wusste, dass ein Volunteer ein junger Mensch von irgendwo auf der Welt war, der hier gegen Kost, Logis und ein schmales Taschengeld körperlich arbeiten wollte. Unser Chauffeur sprach englisch; ich verstand ihn, er verstand mich. Das war schon mal ein gutes Zeichen.
Menschen, Kibbuzniks, sahen wir erstmal gar nicht. War ja auch kein Wunder. Es war ein normaler Arbeitstag und sie gingen ihrer Arbeit nach. Unser Kibbuz machte schon einen recht landwirtschaftlichen Eindruck auf uns, hier und da sah man Arbeitsgerät herumliegen und irgendwo tuckerte ein Trecker über die staubigen Wege. Die Häuser waren alle weiß und nur wenige hatten einen ersten Stock. Alle anderen waren flach wie bei uns Bungalows. Die Maid Birgit und ich, der schlaksige junge Kerl aus Norddeutschland erreichten ein kleines Häuschen mit hebräischen und englischen Schriftzügen an der Tür. Volunteers stand drauf. Hier waren wir also richtig. Ich lehnte meinen schweren und unhandlichen Seesack an die Wand und trat mutig ein. Eine Frau in den mittleren Jahren brütete über Papieren.
»Schalom«, sagte ich und fuhr auf Englisch fort. »We are the new Volunteers from Germany and …«
»Ich habe euch schon erwartet«, antwortete die Frau zu unserem größten Erstaunen auf Deutsch mit starker österreichischer Einfärbung. »Ich bin Irmi und ich bin für euch zuständig. Bei allen Fragen könnt ihr euch vertrauensvoll an mich wenden.«
»Wieso sprechen Sie Deutsch«, fragte ich.
»Also, erstmal sagen wir hier alle DU zueinander und was glaubst du, warum ich Deutsch spreche? Deutsch ist meine Muttersprache. Geboren bin ich in Wien.«
Das reichte mir erstmal, aber ich blieb erstaunt. Später erfuhr ich, was ich mir in diesem Moment schon dachte. Irmi war es gelungen, in schwarzen Zeiten aus Europa zu flüchten und sie hatte wie viele Juden aus aller Welt in Israel eine neue sichere Heimat gefunden und eine Familie gegründet. Eltern und Geschwister von Irmi wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Darüber verlor Irmi jedoch kein Wort; ich habe all dies nach und nach aus verschiedenen Gesprächen mit anderen Kibbuzniks herausgehört und das ganze Mosaik nach Wochen zusammensetzen können. Für viele Israelis, deren Muttersprache einst Deutsch war, blieb die hebräische Sprache schwierig. Ich habe später am eigenen Leib erfahren, wie kompliziert es ist, von rechts nach links ohne Vokale zu schreiben. Ohne Vokale! Die hebräische Sprache kennt in der geschriebenen Form keine Vokale. Beim Aussprechen der geschriebenen Worte muss man sich die Vokale hinzudenken und den hoffentlich richtigen Vokal mitsprechen. Das Wort Schalom könnte rein theoretisch auch Schalum heißen. Sprechen ist relativ einfach, aber am geschriebenen Hebräisch ist so mancher Neueinwanderer aus Europa verzweifelt.
Irmi händigte uns Arbeitskleidung aus, die aus festen Schuhen, kurzen und langen Hosen sowie einer Art Arbeitsjacke bestand und besonders die festen Schuhe und die langen Hosen sollten mir in der Hühnerfarm sehr gute Dienste leisten. Eine blonde junge Frau gesellte sich zu uns.
»Das ist Desiree aus Südafrika«, stellte uns Irmi vor. Desiree war schon längere Zeit im Kibbuz und war zuständig für den Arbeitsplan der Volontäre, der Working List. Sie bekam täglich die Arbeitsanforderungen, konnte uns Hilfskräfte frei einteilen und wir arbeiteten da, wo Not am Manne war. Aber soweit war es noch nicht. Wir hatten einen Tag frei, um uns einzugewöhnen, die Umgebung und all die fremden Leute kennenzulernen. Desiree übernahm uns von Irmi und brachte uns in die Siedlung der freiwilligen Helfer. Wir wohnten also nicht kreuz und quer irgendwo im Kibbuz, sondern etwas abseits von den normalen Wohnhäusern in einer Hüttensiedlung nur für Volontäre, die wie ein Dorf mit Marktplatz aussah. Ungefähr 30 bis 40 einfache Holzhütten standen in Hufeisenform nebeneinander und hier und da sah man sogar junge Leute in der Kleidung, die uns Irmi gerade überreicht hatte. Desiree lächelte freundlich und zeigte auf eine Holzhütte.
»Your new home«, sagte sie und die schüchterne Birgit und ich betraten unseren Palast, schauten uns um und warfen unser Gepäck auf die Betten. Eigentlich sollten nur die jungen Leute zusammenwohnen, die auch ein Paar waren. Birgit und ich waren kein Paar, aber das wusste Irmi ja nicht und eine gemeinsame Hütte mit immerhin drei Betten störte uns nicht weiter. Außerdem erwarteten wir noch die Studentin Gudrun, womit das dritte Bett auch belegt wäre und wir dann eine Wohngemeinschaft waren.
Ich trat ins Freie und wunderte mich nicht mehr, dass so wenige Leute zu sehen waren; alle Menschen waren arbeiten. Auch die freiwilligen Helfer. Auf den Feldern, in Gärten oder in der großen Küche, wie ich annahm. Der erste Volontär, der mir über den Weg lief, war Jan aus Holland, bei dem ich meine Englischkenntnisse nicht zu bemühen brauchte. Wie fast alle Niederländer sprach Jan natürlich ein ausgezeichnetes Deutsch, war schon mehr als drei Monate hier und kam tatsächlich gerade von der Arbeit nach Hause. Von Jan bekam ich erste Eindrücke aus dem Arbeitsleben. Wir Helfer aus sämtlichen Nationen arbeiteten auf Baumwollfeldern, auf der Hühnerfarm, im Kuhstall, im Speisesaal, pflückten Avocados, halfen in der Werkstatt und pflegten die Kibbuzgärten.
»Aber zuerst wird dich Desiree in die Fabrik schicken«, sagte Jan grinsend.
Fabrik? In einem Kibbuz? In der Tat hatten viele Kibbuzim neben der Landwirtschaft ein zweites industrielles Standbein aufgestellt und unser Kibbuz machte keine Ausnahme. Kfar Yochanan hatte eine Plastikfabrik gegründet und stellte Profile aus Kunststoff im Drei-Schicht-System her, die sogar exportiert wurden. Die Neuankömmlinge bekamen natürlich zuerst die unbeliebten Arbeiten zugeteilt. War klar. Ist auf der ganzen Welt so. Meckern sinnlos. Aber noch hatte ich zwei Tage und wollte mich umschauen. Der nächste Volontär, auf den ich traf, saß lässig auf seiner kleinen Terrasse und sah für damalige Verhältnisse ziemlich abenteuerlich aus. Der sehr gut aussehende junge Mann war an Oberschenkeln und Oberarmen bunt und auffällig tätowiert und trug richtige Kunstwerke auf seiner Haut. Tiere und Sonnenuntergänge in den schönsten Farben. Das war Urs aus der Schweiz, der mich sogleich freundlich mit Schweizer Akzent begrüßte. Ich fand bald heraus, dass Urs der Schwerenöter in unserer Kolonie war und ihm die jungen Damen aus aller Welt zu Füßen lagen. Urs sah so gut aus, dass er nur mit seinen Fingern schnippen musste und die Dame seiner Wahl war ihm verfallen. Allerdings nicht für sehr lange Zeit, denn Urs wechselte rasch und brutal seine Begleiterin, was oft zu unschönen und lautstarken Szenen führte. Aber so von Jungmann zu Jungmann konnte man sich mit Urs aus der Schweiz, der schon ein Jahr hier im Kibbuz arbeitete, gut unterhalten. Man musste nur immer selber ein paar Themen einstreuen, sonst erzählte er stundenlang in allen Details von seinen Eroberungen.
Während ich auf Entdeckung ging und erste Kontakte knüpfte, blieb meine Begleiterin in unserer Hütte, packte ihren Rucksack aus und kam auch an diesem Tag nicht mehr raus. Am Nachmittag füllte sich unser Camp so nach und nach und ich verlor langsam den Überblick über all die fremden Gesichter, nur zwei Engländer fielen mir noch richtig auf, die vor ihrer Hütte saßen und – wen wundert’s – Tee tranken. Ich blieb ein paar Minuten stehen, stellte mich als »Der Neue aus Germany« vor und staunte über die Menge an Teebeuteln, die in den Tassen hingen. Ganze fünf Teebeutel zogen in den großen Bechern, der Tee hatte eine sehr dunkle und kräftige Färbung. Wohlgemerkt, fünf Teebeutel in jeder Tasse. Ob das die typische englische Teezeremonie war? Ich war mir nicht ganz sicher. Im Gespräch, das sprachlich ganz gut verlief, stellte sich heraus, dass meine neuen Bekannten ja auch gar nicht richtig aus England kamen, sondern aus Wales. Das macht natürlich in jeder Hinsicht einen großen Unterschied aus. Gegen sechs Uhr kam Bewegung in unsere Kolonie. Die ersten hungrigen Feldarbeiter machten sich auf den Weg in den Speisesaal und ich schloss mich Jan aus Holland an.
In jedem Kibbuz werden die Mahlzeiten gemeinsam in einem großen Speisesaal eingenommen. Je nachdem, ob man die Vordertüre oder die Hintertüre benutzte, befanden sich in unserem Speisesaal zwei Abteilungen. Rechts saßen die »richtigen« Kibbuzniks auf ihren Stammplätzen, in der linken Hälfte speisten die Volontäre aus aller Welt. Es war nicht vorgeschrieben, aber es hatte sich so ergeben. Stammplatz ist Stammplatz. Es würde mich auch ärgern, wenn auf meinem Platz neben meinem besten Freund plötzlich ein unbekannter Typ aus Wales oder aus Deutschland säße.
Nachdem alle Helfer ihre Plätze eingenommen hatten, konnte ich mir einen ersten Eindruck über die Anzahl machen. So etwa 40 bis 50 junge Männer und Frauen aus fast allen Nationen speisten gemeinsam und sprachen hauptsächlich auf Englisch, ich hörte aber auch Deutsch und Schwedisch. Auf der Seite der Einheimischen saßen ebenso viele Leute, aber das waren längst nicht alle. 2012 hatte Kfar Yochanan noch 870 Einwohner, wie mir das Internet mitteilt. Die Einwohnerzahl seit den siebziger Jahren ist wahrscheinlich konstant geblieben oder sogar gesunken. Das Leben in einem der Kibbuzim, die über ganz Israel verstreut sind, ist etwas aus der Mode gekommen und viele junge Israelis verlassen ihren Kibbuz, um lieber in den Städten Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem zu leben.
In einer Ecke des Speisesaals war ein einfaches Buffet aufgebaut und jeder konnte sich nehmen, was er wollte. Brot, Eier, Produkte aus eigenem Anbau wie Oliven und Avocados, viele verschiedene Milchspeisen und auch Käse und Wurst waren im Angebot. Hin und wieder gab es abends auch heiße Suppe und Tee, Wasser und Säfte spülten den Staub des Tages hinunter. Nach und nach leerte sich der Speisesaal, was aber nicht hieß, dass jetzt Feierabend war. Jetzt begann die Schicht der Küchenhelfer. Die Speisen vom Buffet kamen in den Kühlraum, Reste wurden entsorgt, Tische wurden abgewischt und die riesige Spülanlage trat in Aktion. Bei der Menge an Geschirr war es mit einem Durchlauf nicht geschafft, sodass die industriellen Spülmaschinen die ganze Zeit liefen. Kibbuzniks und Helfer versahen den Küchendienst bis spät in den Abend hinein und mussten am nächsten Morgen zum Frühstück schon wieder dienstbereit sein.
Wir anderen schlenderten aus dem Speisesaal zurück in unser Camp und passierten dabei jedes Mal eine Art Festung, die am Wegesrand lag. Ein hoher Palisadenzaun und viel Grünzeug verhinderten die Sicht in das Innere dieser merkwürdigen Insel inmitten von Wegen und Trampelpfaden. Trotzdem konnte man hin und wieder einen Blick durch die Zaunbretter werfen und jede Menge Büsche, kleine Bäume und eine Holzhütte erkennen. Es war immer nur ein Blick im Vorbeigehen und keiner wusste genau, wer oder was dort so versteckt lebte. Im Laufe der Wochen wurde mir die Festung neben unserem Pfad vom Speisesaal zum Camp zur Gewohnheit; man gewöhnt sich an die eigenartigsten Sachen. Nach ein paar weiteren Wochen und dank meiner Begleiterin Birgit habe ich schließlich herausgefunden, was es mit dieser Festung inmitten des Kibbuz auf sich hatte und es war einfach nur erschütternd.
Wie üblich setzte sich das Mosaik aus mehreren Steinchen zusammen und meine Begleiterin Birgit gab mir ungewollt das letzte Steinchen. Ich sah sie nämlich eines Tages vor dem ansonsten immer verschlossenen Holztor zu der Festung und sie sprach offenbar recht freundlich mit dem Bewohner dieser Trutzburg. Da Birgit sich fließend unterhielt und ihr Englisch keine fließende Unterhaltung zuließ, musste sie also Deutsch sprechen. Und so war es auch. Der Mann hatte sie gesehen und irgendwie einen Narren an ihr gefressen. Er kam raus und redete mit ihr. Der Mann kam sonst nie raus und er redete auch nicht mit den einheimischen Kibbuzniks. Eigentlich redete er überhaupt nicht und nun stand er da und redete mit Birgit. Sowie er mich und die anderen Volontäre erblickte, war er allerdings auch schon wieder im Inneren seiner Festung verschwunden. Ich konnte gerade noch sehen, dass er nur noch ein Auge hatte.
Der Mann war ursprünglich Deutscher und lebte in Berlin. Er und seine gesamte Familie wurden von der Gestapo festgenommen und durch mehrere Lager geschickt und Tochter, Frau und Eltern hat der Mann nach seiner Festnahme nie wiedergesehen. Wie aus heiterem Himmel waren sie verschwunden, als hätten sie nie gelebt. Sein Auge verlor er durch brutalste Behandlung eines Aufsehers in einem der Lager und sprach seitdem nur noch, wenn es nicht anders ging. Der Mann, der übrigens Manfred hieß, wurde von den Amerikanern mehr tot als lebendig befreit und ging nach Kriegsende nach Israel, wo er irgendwann im Kibbuz Kfar Yochanan landete.
Alle Versuche, ihm Hebräisch beizubringen, scheiterten an seinem inneren Widerstand, denn eigentlich wollte er ja überhaupt nicht mehr sprechen und auch keine Menschenseele mehr sehen. Also sammelte er Bretter, wo es nur ging, und baute sich seine Zuflucht, die er kaum noch verließ und die nie jemand betreten durfte. Am späten Abend, wenn der Speisesaal leer war, ging er hin und packte sich Speisen und Getränke ein, die man extra auf einem Tisch für ihn liegen ließ. Und eines Tages erblickte er meine Begleiterin Birgit, schenkte ihr selbstgepflückte Blumen und kamen stockend ins Gespräch. Birgit hatte strahlend blaue Augen und dunkelblonde lange Haare und erinnerte ihn möglicherweise an seine verschleppte Tochter. Was sich hier in ein paar trockenen Sätzen liest, war für Manfred das Grauen und jahrelanger Horror gewesen und es ist verständlich, dass er für den Rest seines Lebens keinen Menschen mehr sehen wollte. Diese Geschichten sind in Israel keineswegs die Ausnahmen; es wimmelt nur so von Schicksalen wie dem von Manfred, der nicht mehr sprechen wollte.
Am nächsten Tag war es offiziell. Ich war ein Arbeiter in einem israelischen Kibbuz. Desiree hatte die tägliche Einteilung vorgenommen und die Liste mit den Namen und den Arbeitsplätzen an das Schwarze Brett geheftet. Wir jungen Leute standen schwatzend davor und meckerten entweder über die vorgenommene Einteilung oder freuten uns darüber. »Siehst du«, sagte Jan mit seinem holländischen Akzent. »Du musst in der Fabrik arbeiten. Nachtschicht.«
In der Tat stand mein Name hinter dem Begriff »Factory« und zwar mit Beginn der Nachtschicht um 22 Uhr. Das hatte einen Vorteil. Ich hatte noch den ganzen Tag frei. Meine Wohnpartnerin Birgit musste ihren Dienst bereits mittags in der Küche antreten. Nun ging es wirklich los. Der beste Arbeitsplatz ist ein permanenter Arbeitsplatz, erklärte mir Jan. Du pendelst nicht von einer Beschäftigung zur anderen, sondern bleibst fest für immer oder wenigstens für längere Zeit an einem Ort. Du lernst deine Handgriffe besser und du lernst die Leute besser kennen. Jeder hier wünscht sich einen festen Arbeitsplatz, weil es einfacher ist und mehr Spaß macht, sagte Jan. Aber ganz klar: Zu Anfang durchläuft jeder Helfer alle Stationen. Die beliebten und auch die unbeliebten.
Am Abend ließ ich mir von meinen teetrinkenden Walisern den Weg in die Fabrik erklären und machte mich auf den Weg. Die Plastikfabrik war nur einen Steinwurf entfernt und ich meldete mich pünktlich bei Samy, dem Vorarbeiter. Samy war etwa Ende zwanzig und im Land Israel geboren. Ein Sabra, wie man die im Land geborenen Israelis nennt. Hier geboren zu sein, war für die meisten Israelis seinerzeit keine Selbstverständlichkeit. Sie kamen aus allen Ländern der Welt, um in Eretz Israel eine neue Heimat zu finden, geboren waren sie vielleicht in Wien, in Berlin, in Budapest oder in Bukarest.
»Your first working day«, fragte mich Samy. Ich bestätigte freundlich lächelnd und Samy zeigte mir meine Maschine, an der ich die nächsten acht Stunden zubringen sollte. Es war ganz einfach. Dort wo ich stand, kamen produzierte Plastikprofile heraus, die ich aufstapeln musste, damit sie vom Gabelstapler abtransportiert werden konnten. Diese Profile waren teilweise für den heimischen Markt bestimmt, gingen aber auch per Container in alle Welt, hauptsächlich in die USA. Einen großen Vorteil hatte die nächtliche Fabrikarbeit. In der Pause wurde aufgetischt, was es im Speisesaal nicht gab. Kalbschnitzel standen jede Nacht auf dem Speiseplan als Ausgleich für die eintönige Nachtarbeit.
Die acht Stunden vergingen überhaupt nicht schnell. Ganz im Gegenteil: Es war todlangweilig. Aber irgendwann klingelte es, meine Ablösung kam und übernahm die Maschine, die nur in den Pausen abgeschaltet wurde und ich wankte zum Frühstück in den Speisesaal. Große Lust auf irgendwas hatte ich nicht mehr. Essen und Schlafen war alles, was ich vorhatte. Gegen Mittag wachte ich wieder auf und ging gleich wieder in den Speisesaal zum Mittagessen. Unsere Tische waren gut besetzt und ich musste alle Fragen beantworten, wie denn so meine erste Nacht in der Fabrik gelaufen wäre. Jeder hatte diese Erfahrung schon hinter sich und auch die Mädchen arbeiteten in der Plastikfabrik. Die Arbeit war ja auch nicht schwer, sondern eher monoton.
In der Folgezeit durchlief ich alle landwirtschaftlichen Stationen, die man sich nur vorstellen kann. Ich sammelte Hühnereier ein, ich schleppte Milchkannen, ich transportierte kistenweise Küken aus der Brutstation in die Aufzucht, ich pflückte Baumwolle, Grapefruits und Avocados und hin und wieder schob ich auch eine Nachtschicht in der Plastikfabrik. Ich gewöhnte mich an die Hitze in Israel und an den Wassermangel, ich trug wochenlang meine Arbeitskleidung und ernährte mich von dem, was der Kibbuz erntete. Die freiwilligen Helfer aus aller Welt kamen und gingen.
Duschen zu jeder gewünschten Tageszeit wie in Deutschland ging gar nicht, denn Wasser ist in Israel und vor allem in einer landwirtschaftlichen Siedlung ein kostbares Gut. Duschwasser gab es sowohl für uns Gastarbeiter als auch für die einheimischen Kibbuzniks immer nur zu bestimmten Tageszeiten und zwar ab späten Nachmittag, wenn die Arbeit getan war. Es hat keinen gestört.
Ich war nun schon einige Wochen hier und es wurde langsam Zeit, dass ich einen »permanent Job«, einen festen Posten bekam. Der Mensch, auch wenn er jung ist, ist ein Gewohnheitstier und liebt regelmäßige Abläufe, auch wenn er sich im Nahen Osten im Land Israel in einem Kibbuz befindet. Üblicherweise bietet der zuständige Kibbuznik dem ausländischen Helfer an, in seinem Zuständigkeitsbereich eine feste Arbeit zu übernehmen. Entweder glaubt der »Abteilungsleiter«, der junge Mann aus Irgendwo macht seine Arbeit besonders gut bzw. macht wenig Fehler, arbeitet zügig, kann schon ein paar Brocken Hebräisch, hat keine Widerworte, wenn er Kuhdung durchquirlen soll oder er, der junge Mann aus Irgendwo ist ihm, dem Kibbuznik, sympathisch. Ich schätze, bei mir traf beides zu, als ich meine feste Anstellung auf der Hühnerfarm bekam. Die Hühner verstanden mich, waren gar nicht böse, wenn ich ihnen die Eier wegnahm, es machte mir nichts aus, den Hühnerkot zu einer Art Dünger zu mixen, die kampflustigen Hähne akzeptierten mich und meinen Knüppel nach einer kurzen Kennlernphase und ich verstand sehr gut Österreichisch und Jiddisch.
Ja, die ganze Belegschaft der Hühnerfarm bestand aus ehemaligen Österreichern, die sich mit mir und auch untereinander gerne auf Deutsch unterhielten und meinem zukünftigen besten Freund im Kibbuz, der aus Rumänien stammte und sich mit mir auf Jiddisch-Deutsch unterhielt. Jiddisch wurde von den Juden in weiten Teilen Europas gesprochen und basiert unter anderem auf Mittelhochdeutsch. Jiddisch klingt fast wie Deutsch, ist es aber nicht. Aber wer Deutsch als Muttersprache spricht, kommt auch mit Jiddisch klar. In den 50er Jahren, als in Israel erst wenige Leute fließend und fehlerfrei Hebräisch sprachen, war Jiddisch neben Englisch die meistgesprochene Sprache. Mein Freund Irachmiel Salzmann und seine Frau waren echte Pioniere und lebten schon seit den 30er Jahren in Israel. Irachmiel fand mich sympathisch und ich ihn auch, deshalb nahm er mich auf der Hühnerfarm unter seine Fittiche und machte mich zu einem Spezialisten für Hühnereier.
Zweimal am Tag zu bestimmten Uhrzeiten betrat ich das kleine Häuschen vor dem riesigen Hühnerstall, stellte Unmengen von Transportkartons für Eier hin und drückte auf einen Knopf. Dieser Knopf setzte das kleine Fließband in Gang und beförderte die Eier direkt zu mir. Geschwind sortierte ich die Hühnereier in große und kleine Exemplare und füllte die Transportboxen. Zu Anfang war ich natürlich zu langsam und etliche Eier gingen zu Bruch. Aber mit der Zeit entwickelte ich die optimale Arbeitsgeschwindigkeit und alle Eier blieben heil. Die Transportboxen stapelte ich bis zu einer vorgeschriebenen Höhe, schaltete das Band aus und wartete auf meinen Freund Irachmiel, der auch wenig später mit seinem Traktor angeschnauft kam. Gemeinsam beluden wir den Hänger und ab ging es mit der Ausbeute zur Desinfektionskammer. Moment! Warum legten denn die Hühner all ihre Eier direkt auf das Band? Bei meinem ersten Rundgang im Inneren des Hühnerstalls fand ich es schnell heraus.
Die Hühnerhäuschen, also ihre Nester, lagen direkt über dem Fließband. Das Huhn hatte Lust, ein Ei zu legen, schlüpfte in ein Häuschen und legte sein Ei ins vermeintliche sichere Nest. Das Ei rutschte aber durch das Stroh gleich auf das Fließband, wo es unentdeckt blieb, bis ich vorne den Knopf drückte. Aber weiter im Arbeitsablauf. Gemeinsam hievten wir die Eierkartons vom Traktor und stellten die Kartons in einen Schrank, in dem außer einem Behälter nichts anderes zu sehen war. Eine spezielle chemische Mischung kam in den Behälter, die Schranktüre wurde verschlossen und die frischen unbehandelten Eier wurden durch die Dämpfe, die die Mischung erzeugte, desinfiziert. Diese Prozedur dauerte etwa 20 Minuten und hier war meine Aufgabe erledigt. Meine österreichisch-israelischen Kollegen entnahmen die desinfizierten Eier und sortierten weiter. Die meisten Eier wurden an Großhändler geliefert, der andere Teil blieb im Kibbuz und landete im Speisesaal.
Nachdem ich aus dem ersten Hühnerstall die Eier eingesammelt hatte, ging es gleich weiter zum nächsten Stall. Die Hühnerställe waren weit entfernt von tierfreundlicher Haltung. Tausende Hühner lebten im Halbdunkel und legten ein Ei nach dem anderen. Bei meinem ersten Kontrollrundgang im Hühnerstall trug ich noch lässig kurze Hosen. Ich musste tote Hühner aussortieren und Eier aufklauben, die nicht auf das Fließband gefallen waren. Nichtsahnend spazierte ich durch den Stall, als ich plötzlich ein scharrendes Geräusch hörte.
»Irachmiel?«, fragte ich, obwohl unwahrscheinlich war, dass Irachmiel scharrte.
Vorsichtig drehte ich mich um und sah einen großen Hahn, der mich kampferprobt ins Visier nahm. Bevor ich Schalom sagen konnte, sprang er mich mit seinen kräftigen Füßen und den sehr wehrhaften Krallen auch schon an. Meine Bitte um Frieden im Stall ignorierte der böse Hahn und griff erneut an. Die Hühner ringsum schauten aufmerksam zu. Schließlich stieg hier ihr Beschützer mit einem scheinbar übermächtigen Gegner in den Ring. Aus meiner Sicht war allerdings der Hahn mein übermächtiger Gegner. Auf kämpfende Hähne hatte mich mein Lehrmeister Irachmiel nicht vorbereitet! Flucht war sinnlos; die neugierigen Hühner versperrten sämtliche Wege.
Nach zwei Attacken hatte ich bereits rote Striemen an den Waden und musste eine Verteidigungsstrategie entwickeln. Plumpe Gewalt war mir zuwider, ich musste listig sein. Ich wandte mich dem Hahn zu und wartete ab. Der Hahn rannte wie im Ritterturnier los, war einen Meter von mir entfernt und sprang mir mit vorgestreckten Krallen entgegen. Ich machte eine kleine Drehung und der gefiederte Bösewicht landete verdutzt in seiner Hühnerschar. Nun hatte ich noch eine bessere Idee. Ich zog mein Arbeitshemd aus und wartete wieder ab. Und just in dem Moment, als der Hahn mir mit seinen gefährlichen Krallen entgegensprang, warf ich mein Hemd über ihn. Noch im Sprung verlor er die Orientierung, landete als wildgewordenes Hemd im Niemandsland und brauchte eine gewisse Zeit, um sich aus meinem Hemd zu befreien. Diese gewonnene Zeit nutzte ich zur feigen Flucht mit freiem Oberkörper. Irachmiel fuhr gerade mit seinem Trecker an meinem Hühnerhaus vorbei.
»Vorsicht vor Hähnen!«, rief er. Das hätte er mir auch etwas früher sagen können. Von Irmi bekam ich ein neues Arbeitshemd und die Sache war vorerst erledigt. Fortan betrat ich meinen Hühnerstall nur noch in derben Schuhen und langen Hosen, Irachmiel besorgte mir noch einen dicken Knüppel, den ich aber nicht als Waffe gegen meine Hähne einsetzte, sondern als geschickte Verteidigung bei Angriffen einfach schräg vor meine Beine stellte. So verletzte der angreifende Hahn den Knüppel, was aber dem Knüppel und mir egal war.
So sammelte und sortierte ich tagein tagaus Eier, stapelte Eierkartons und machte meine Rundgänge in angemessener Kleidung in den Hühnerhäusern. Es gab ja nicht nur einen einzigen Hühnerstall. Ja, und wer mit Eiern arbeitet, darf kein Elefant sein. Eines Tages erhielten wir Eierfachleute Unterstützung durch einen jungen Kibbuznik namens Jakob Dienstag. Irachmiel übertrug ihm leichtsinnig die Abholung der gestapelten Eierkartons mit dem Traktor, da er vorübergehend anderweitig beschäftig war. Eier zu transportieren ist eine Kunst für sich. Erst recht, wenn das Transportmittel ein alter klappriger Traktor ist und die Fahrwege eher uneben sind.
Ziel eines solchen Transportes ist es, möglichst viele Eier unbeschädigt an den Empfangsort zu bringen, wobei Geschwindigkeit keine Rolle spielt. Der junge Herr Dienstag wollte natürlich an seinem ersten Arbeitstag durch besonderen Arbeitseifer glänzen und dachte, schnelles Arbeiten bringt Pluspunkte. Es kann sich keiner das Geschrei in sämtlichen Sprachen Europas inklusive Hebräisch vorstellen, als Herr Dienstag mit seinem Traktor eine Kurve zu schnell nahm und die komplette Ladung Eier mitsamt Hänger umstürzte.
Die ehemaligen Österreicher brüllten und schimpften wie die Rohrspatzen, spickten ihre Beschimpfungen mit Ausdrücken, die ich nicht ansatzweise verstand, mischten ein kräftiges Hebräisch hinzu und wurden begleitet von Irachmiel, der sich urplötzlich an die übelsten rumänischen Schimpfworte erinnerte. Ergänzt wurde der sprachliche Ausbruch durch eingestreute deutsche Kraftausdrücke meinerseits und fließendes Ungarisch zweier Kollegen, die beide aus Budapest stammten. Der arme Herr Dienstag, ein Sabra, verstand nur Hebräisch und etwas Englisch und fühlte sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Zur Strafe musste er die ganze Bescherung zusammenkehren und die heilen Eier heraussuchen, aus denen sich die Belegschaft gerade noch ein würziges Omelette zubereiten konnte. Die Ausbeute eines ganzen Tages war vernichtet worden und unsere Hühner hatten ganz umsonst Eier gelegt.
Eines Tages lud mich Irachmiel nach getaner Arbeit auf einen Milchkaffee in seine Wohnung ein. Irachmiel war verheiratet und Familienvater und stammte wie seine Frau aus Rumänien; sie sprach aber weder Jiddisch noch Englisch. Sein Sohn war etwa 15 Jahre alt und seine Tochter etwas älter als ich. Mit Irachmiels Tochter Hannah freundete ich mich auch sofort an; sie war hübsch, sehr sympathisch, sprach fast besser Englisch als ich selbst und hatte feuerrote Haare. Ihr großer Traum war, irgendwann den Kibbuz verlassen und in einer der großen Städte zu leben. Die ganze Familie Salzmann war äußerst sympathisch und nahm mich in ihre Familie auf wie in der Filmreihe »Lethal Weapon« mit Mel Gibson und Danny Glover. Der Cop Martin Riggs (Mel Gibson) wurde praktisch von der kompletten Familie Murtaugh, der Familie seines Partners Roger Murtaugh, adoptiert und ging dort ein und aus, meistens um zu essen oder um seine Wäsche zu waschen.
Hannah Salzmann war sehr weltoffen und eine der wenigen Kibbuzniks, die sich auch mal im Speisesaal zu uns Helfern aus aller Welt setzte. Ich mochte sie sehr gern und sie mich auch. Glücklicherweise war sie immun gegen die Eroberungsversuche des Schwerenöters Urs, der auch vor ihr nicht haltmachte und überhaupt nicht verstehen konnte, dass eine Frau ihn ablehnte.
Fortan trank ich fast jeden Nachmittag mit Familie Salzmann meinen Milchkaffee. Ich habe in Israel eine Menge Leute kennengelernt, aber nicht ein einziger hat mich auf meine deutsche Herkunft angesprochen, kein einziger hat mir gegenüber dem deutschen Volk die Schuld an der Judenvernichtung während der Zeit des Nationalsozialismus gegeben. Alle waren herzlich, freundlich und aufgeschlossen. Gewiss, es gab Kibbuzim, die grundsätzlich keine deutschen Helfer aufnahmen, da sie keinerlei Kontakt mit Deutschen haben wollten, aber diese konnte man an einer Hand abzählen.
Unsere Dritte im Bunde, die Studentin Gudrun, war inzwischen eingetroffen und ich Jungmann musste mir also eine Unterkunft mit zwei Damen teilen. Mit der Maid Birgit hatte ich mich weitestgehend arrangiert; ich bemerkte sie fast gar nicht und die anderen Volontäre auch nicht. Gebückt und mit hochgezogenen Schultern verrichtete sie stumm ihre Arbeit und sprach nur mit Leuten, die Deutsch konnten. Ihr Englisch war für den normalen Alltag überhaupt nicht zu gebrauchen. Keiner verstand sie und sie verstand auch keinen. Ich sprach Deutsch, aber verstehen tat ich Birgit auch nicht mehr. Bei den Mahlzeiten saß sie abseits an einem Extratisch und gesellte sich nicht mal mehr zu uns anderen, sodass wir nicht unglücklich waren, als sie eines Tages überstürzt abreiste, noch ein paar Tage in Tel Aviv verbrachte und dann nach Hause zurückkehrte. Gudrun hingegen war ein sehr geselliger und umtriebiger Mensch und hatte die Angewohnheit, morgens erstmal nackt in unserer Hütte herumzulaufen und all ihre Kleidungsstücke zu suchen. Die gefundenen Hosen, Hemdchen und Strümpfe schichtete sie zu einem kleinen Hügel auf und zog sich dann erst an.
Ich habe natürlich woanders hingeguckt oder habe die Hütte zur Morgentoilette in den Waschräumen verlassen. Mein drolliges Zusammenleben mit Gudrun währte allerdings nicht sehr lange. Nein, nicht Urs, unser Schwerenöter aus der Schweiz. Nigel hieß der Glückspilz, kam aus England und war noch größer als Gudrun selbst, die weit über 180 Zentimeter maß. Gudrun und Nigel sahen sich hoch oben in die Augen, es knallte und blitzte etwas und schon war es um beide geschehen und nach ein paar Tagen der Annäherung und dem Ausleben gewisser Triebe zogen Gudrun und Nigel erst in eine gemeinsame Hütte und verließen ein paar Wochen später unseren Kibbuz zu einer längeren Rundreise durch Israel. Die Rundreise muss sehr lange gedauert haben, ich sah die beiden Turteltauben nie wieder. Birgit weg, Gudrun weg und ich hatte die Hütte für mich alleine. Auch nicht schlecht.
Nebenan wohnte Susanne aus Deutschland, in die sich Roger aus England heftig verguckte. Ein kleiner Hemmschuh war Rogers langjährige Freundin Jane, mit der er in England zusammenlebte und natürlich auch im Kibbuz sein Leben und seine Hütte teilte. Bis er Susanne näher kennenlernte, seiner Jane den Laufpass gab und in Susannes Hütte gleich nebenan einzog, worauf Jane bitterlich weinte und die Situation für alle Nachbarn dieser Dreieckstragödie nicht angenehm war. Diskussionen, Weinen und Beschimpfungen waren kilometerweit zu hören, bis Roger und Susanne sich erbarmten, ihre Rucksäcke packten und den Kibbuz verließen. Sie wollten irgendwo ein neues Leben beginnen.
In der Zwischenzeit hatte Urs seine Liste weiter abgearbeitet. Susan aus England, Patricia aus Südafrika, Anneke aus Holland und Crissie aus Deutschland flogen nach einer gemeinsamen Nacht aus seiner Hütte, obwohl die Damen gar nicht wollten und Urs den Himmel auf Erden versprachen. Wir anderen Jungmänner boten uns an wie Sauerbier, aber die Verblendeten wollten nur ihren Urs. Urs aber erhob seine Stimme, verfluchte und beschimpfte jene, die ihm Kurzweil in der Nacht schenkten und verbat sich jedwede weitere Annäherung. Als sich Urs dann auf seiner kleinen hölzernen Terrasse aufbaute, seine tätowierten Muskeln aufpumpte und drohende Geräusche von sich gab, verstummte das Bitten und Flehen. Aber es gab auch Paare in unserer kleinen Siedlung, die sich herzlich zugetan waren und denen man ansah, dass nichts sie auseinanderbringen konnte. Anita aus Schweden und John aus den USA waren so ein glückliches Paar. Sie kamen zusammen an und reisten nach ein paar Monaten auch gemeinsam wieder ab. Kein Streit, keine bösen Worte. Ich war davon so begeistert, dass ich Anita, die wie eine Bilderbuch-Schwedin aussah, zu ihrem Geburtstag das größte Ei aller Zeiten aus meinem Hühnerstall schenkte. Schleierhaft blieb, wie ein Huhn so ein großes Ei legen konnte.
Die Kibbuzleitung war sehr daran interessiert, dass wir Helfer auch Land und Leute außerhalb unserer landwirtschaftlichen Siedlung kennenlernten. Vielleicht wollten sie auch nur wenigstens einen Tag im Monat ihre Ruhe haben und schickten uns irgendwohin, wofür in regelmäßigen Abständen Ausflüge mit dem Bus organisiert wurden. Ein englischsprechender Kibbuznik mit viel Geduld wurde uns als Fremdenführer zur Seite gestellt und auf ging es zum Toten Meer. Und auf dieser Fahrt trat Daliah in mein Leben, das bislang aus Plastikprofilen, landwirtschaftlichen Produkten und Hühnern bestand. Daliah war eine Neueinwanderin aus dem Iran, hatte gerade ihren sprachlichen Einbürgerungskurs bei uns im Kibbuz absolviert und war noch unentschlossen bezüglich ihrer Zukunft in Israel. Viele Kibbuzim verfügen über einen sogenannten Ulpan, einen Crashkurs in Hebräisch für Neueinwanderer. Dieser Hebräischkurs ist eine Mischung aus Lernen und Arbeiten und dauert meistens ein halbes Jahr, schließlich Hebräisch die Amtssprache Israels und jeder Neueinwanderer sollte Hebräisch in Wort und Schrift beherrschen. Ungefähr 20 bis 30 Neueinwanderer aus dem Iran, aus Russland, aus den USA oder Argentinien sitzen den ganzen Vormittag in einem Klassenzimmer und lernen gemeinsam ihre neue Sprache. Anschließend wird auf dem Feld oder in der Küche gearbeitet und danach müssen noch Hausaufgaben erledigt werden. Ein Ulpan ist wahrlich kein Honigschlecken, sondern ziemlich anstrengend.
Wer etwas darüber lesen möchte, woher die Israelis eigentlich kommen, liest hier weiter. Alle anderen überspringen diesen Teil:
Israel ist ein noch junger Staat. Er wurde am 14. Mai 1948 gegründet. Israel liegt direkt am Mittelmeer und grenzt an die Staaten Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten. Die Amtssprache ist hebräisch. Hebräisch wird wie arabisch von rechts nach links gelesen und geschrieben. Aber woher kommen die Israelis? Heute sind die meisten Israelis in Israel geboren. Das war aber nicht immer so. Israel hat ca. 8 Mio. Einwohner. Seine Hauptstadt ist Jerusalem mit 769.000 Einwohnern. Das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum ist Tel Aviv mit 404.000 Einwohnern. Die drittgrößte Stadt ist Haifa mit 268.000 Einwohnern. In Israel lebt ein buntes Völkergemisch aus mehr als 100 Ländern. Sowohl der blonde Nachkomme deutscher Einwanderer als auch der eher dunkle Äthiopier sind Israelis. Zur Zeit der Staatsgründung waren die wenigsten Israelis im Lande geboren. Sie nennt man Sabra oder Sabre. Wörtlich übersetzt »Kaktusfeige« oder »Distel«.
In Wellen (Alija) kamen die jüdischen Einwanderer aus allen Ländern der Welt. Es herrschte eine babylonische Sprachvielfalt in Israel, vormals Palästina, wobei sich erst nach und nach Hebräisch als allgemeine Landessprache durchgesetzt hat. Die erste Einwanderungswelle fand von 1883 bis 1903 statt. Die Einwanderer kamen hauptsächlich aus Osteuropa, Russland und Jemen. Die zweite Alija von 1903 bis 1914 brachte Einwanderer aus Polen und aus Russland. 1919 bis 1923 fand die dritte Einwanderungswelle statt und brachte neue zukünftige Israelis aus Russland und Rumänien. Man bedenke, dass es noch gar keinen israelischen Staat gab und Palästina von 1920 bis 1948 unter britischer Verwaltung stand. Die Briten nannten die jüdischen Neueinwanderer »Palestinians« und erlaubten nur eine begrenzte Zuwanderung. 1924 bis 1931 kamen mit der vierten Einwanderungswelle hauptsächlich Polen und Russen nach Palästina. Die fünfte Welle fand von 1930 bis 1939 statt. Auslöser dieser Einwanderungswelle war die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und brachte hauptsächlich deutsche und polnische Juden nach Palästina.
Nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 war die Einwanderung von Juden sehr einfach. Jeder Jude, egal aus welchem Winkel der Welt er kam, hatte ein verbrieftes Recht, sich in Israel anzusiedeln.
In den Jahren 1948 bis 1951 kamen ungefähr 700.000 Neueinwanderer aus dem Irak, aus Ägypten, Jemen, Rumänien sowie aus Polen. 1955 bis 1957 wanderten 100.000 Juden aus Tunesien, Libyen, Marokko und Algerien ein. 100.000 Einwanderer kamen 1969 bis 1975 aus der damaligen UDSSR. 1984 und 1985 kamen etwa 10.000 äthiopische Juden nach Israel. 600.000 neue israelische Staatsbürger kamen 1989 bis 1995 aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land.
So unterscheidet man die jüdischen Bevölkerungsgruppen:
Aschkenasim
Sephardim
Misrachim
Die Aschkenasim stammen von Einwanderern aus Europa/Amerika und deren Nachkommen ab. Als Sephardim bezeichnet man die Gruppe, deren Vorfahren bis 1513 auf der Iberischen Halbinsel lebten und vertrieben wurden. Nach der Vertreibung siedelten sich die Sephardim im Osmanischen Reich und im Maghreb (Nordwest-Afrika) an. Die Misrachim stammen von Einwanderern aus dem Vorderen Orient und Nordafrika ab.
Die verstorbene Sängerin Ofra Haza gehört zu den Misrachim. Ofra Hazas Eltern kamen aus dem Jemen. Sie selbst wurde in Tel Aviv geboren. Der erste Ministerpräsident Israels, Ben Gurion sowie Golda Meir zählen zu der Gruppe der Aschkenasim. Sie kamen aus Polen bzw. Russland. Esther Ofarim (erinnert sich noch jemand?) wurde 1941 in Safed/Galiläa geboren. Eine Sabra. Ebenso wie ihr damaliger Mann und Gesangspartner Abi Ofarim. Oder wie Daliah Lavi, Tochter einer Deutschen, geboren in Palästina. Esther und Abi Ofarim waren in den 60er Jahren sehr erfolgreich und Daliah Lavi war mit ihren auf Deutsch gesungenen Liedern in den 70er ganz oben in der Hitparade. Lotte Cohn, die weltbekannte israelische Architektin, wurde in Deutschland geboren und ist in Tel Aviv gestorben. Ephraim Kishon, der berühmte Humorist, wurde in Budapest geboren, seine Frau Sara Kishon im damaligen Palästina und Kishons erste Frau stammte aus Österreich.
Hier geht es regulär weiter:
Unser Reiseleiter war ein aufgeweckter Israeli mit hervorragenden Englischkenntnissen, der ursprünglich aus dem Jemen stammte und Daliah unterstützte ihn. Die orientalischen Juden blicken auf eine lange Tradition und Kultur in ihren ehemaligen Heimatländern Jemen, Tunesien, Algerien oder dem Iran zurück. Praktisch seit Menschengedenken lebten sie dort in Eintracht mit ihren arabischen Nachbarn und wurden erst nach Staatsgründung Israels massiv von den Machthabern aus ihrer angestammten Heimat vertrieben.
Als ich Daliahs Namen das erste Mal hörte, fiel mir sofort die israelische Sängerin Daliah Lavi ein, die in den 70er Jahren auch in Deutschland mit ihrer rauchigen Stimme sehr erfolgreich war. Auch Daliah Lavi spricht wie viele andere Israelis ein gutes Deutsch, denn ihre Mutter war Deutsche. Meine Daliah allerdings sprach überhaupt kein Deutsch, sondern nur Persisch bzw. Farsi, Hebräisch und etwas Englisch. Daliah ließ ihren Blick über unsere internationale Reisegruppe schweifen und irgendwie trafen sich unsere Blicke. Vielleicht habe ich auch ihren Blick gesucht. Sie war ausgesprochen hübsch mit dunkelbraunen Augen und schwarzen Haaren, die sie stets und ständig mit einer Spange nach oben gesteckt hatte. Ein paar widerspenstige Haarsträhnen tanzten meistens aus der Reihe und ragten wie indianischer Federkopfschmuck nach oben. Ich war ganz sicher, dass ihr Blick viel länger auf mir ruhte, als auf den anderen. Ich musste ihr mit meinen dunkelblonden kurzen Haaren, der hellen Haut und den hellen Augen auch ziemlich exotisch vorkommen. So wie sie mir.
Es kann aber auch nur ein Wunschgedanke gewesen sein. Eine Einbildung. Schließlich sahen die meisten Volontäre so aus wie ich. Junge Männer neigen oft zur Selbstüberschätzung und glauben, die Damenwelt liegt ihnen nur aufgrund ihres famosen Aussehens zu Füßen, was bei meinem Schweizer Freund Urs auch tatsächlich zutraf. Bei mir eher weniger. Aber manchmal liegt in Legenden doch ein Körnchen Wahrheit. Es kann auch sein, dass ich ihren prüfenden Blick aufgefangen und zu lange erwidert habe. Ich habe gelesen, dass ein direkter Blick in die Augen bei vielen Nomaden der Sahara schon als Heiratsantrag gedeutet wird und der Blickende streng bestraft wird, wenn er dann seinen Blickantrag nicht einlöst. Im Sand einbuddeln zählt noch zu den milden Strafen. Der vermeintliche Heiratsantrag, die folgende Hochzeit und das restliche Leben können unter Umständen eine härtere Strafe bedeuten als die anderen Optionen. Aber zurück zum Toten Meer.
Mit unserem vollbesetzten Bus rumpelten wir also los, passierten die nächstgelegene Kleinstadt Kiryat Ata, fuhren durch Haifa, staunten über die Hängenden Gärten des Bahai Zentrums und nahmen die Richtung nach Tel Aviv. Hinter Tel Aviv bog der Bus scharf links ab Richtung Jordanien. Israel ist nicht sehr groß und überall sieht man Hinweisschilder wie diese: Jordanien 500 Kilometer. Damaskus 1200 Kilometer. Wenn ein wagemutiger Pläneschmied ankündigt, er wolle am nächsten Tag ganz Israel erkunden, stellen die meisten automatisch die Frage: »Und was machen Sie am Nachmittag?« Diese zutreffende Bemerkung stammt von Ephraim Kishon und ist in seinem Buch »Der seekranke Walfisch« zu finden und jetzt auch hier. Ein Teil des Toten Meeres gehört zu Jordanien, die andere Hälfte zu Israel. Aus naheliegenden Gründen steuerten wir den israelischen Teil an. Wenn man es genau nimmt, ist das Tote Meer kein Meer, sondern ein See ohne Abfluss, der 482 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Es ist dort immer sehr heiß und trocken und so richtig Abkühlung bringt ein Bad im Toten Meer auch nicht. Der Salzgehalt ist extrem hoch und kein Mensch geht unter. Man kann tatsächlich auf dem Wasser liegend eine Zeitung lesen, wie man es sicherlich schon oft auf Fotos gesehen hat. Unser Reiseführer Eli gab sein Bestes und erklärte uns dies und jenes, aber so langsam zerstreute sich unsere Schar am Ufer des Toten Meeres.
Und plötzlich stand Daliah neben mir und sagte:
»Schalom. Where are you from?«
Die Floskel »where are you from?« war bei uns Helfern nach dem Gruß der übliche Anfang einer Unterhaltung und bedeutet, wo kommst du her? Ein schöner Aufhänger für gemütliche Unterhaltungen, der natürlich nur funktioniert, wenn man aus allen möglichen Nationen stammt. Möchte man in Deutschland mit den Worten wo kommst du her? eine Unterhaltung starten, erntet man eher Unverständnis, weil fast alle aus Deutschland kommen oder erhält eine dumme Antwort: »Na, von Aldi. Sieht man doch.«
Und hier stand nun die schönste junge Frau von ganz Israel und zeigte durch diese Floskel den deutlichen Wunsch einer Unterhaltung. »From Germany. And you?« »I am born in Iran, but now I am Israeli«, sagte Daliah sehr stolz.
Daliah war damals 20 Jahre alt, ich war 22 Jahre alt. In diesem Moment platzte unser Reiseleiter Eli in die gerade aufkeimende Unterhaltung und bedachte Daliah mit einem Redeschwall auf Hebräisch. Offensichtlich brauchte er ihre Hilfe bei einem Problem, was ausgerechnet jetzt zu lösen war. Im letzten Moment riss ich mich zusammen und fragte wenigstens nach ihrem Namen, den ich bis dahin ja noch gar nicht kannte.
»Daliah«, antwortete sie und entschwand zu ihren Pflichten als Assistentin des Reiseleiters und ließ mich wie einen begossenen Pudel am Ufer des Toten Meeres zurück, als plötzlich das Wunder geschah. Wunder sind bzw. waren in Israel nicht so selten, aber dieses Wunder erwischte mich. Daliah drehte sich um und winkte mir zum Abschied zu. Daliah winkte mir zu. Zum Abschied. Mir. Mit der Hand. Eine in meinen Augen vertrauliche Geste, die mir zuflüsterte, dass sie, also Daliah, die Unterhaltung, die noch gar nicht begonnen hatte, gerne weitergeführt hätte und dass ich sie in unserem Kibbuz aufspüren sollte. Was alles in so einer kleinen Abschiedsgeste liegen kann. Unglaublich. Beziehungsweise, was ein junger Mann so deutet. In dem Moment fiel mir ein, dass wir ja noch etwas länger hierblieben und das Aufspüren im Kibbuz gar nicht notwendig wäre. Ich musste Daliah einfach nur auf unserem Ausflug im Auge behalten und zufällig neben ihr auftauchen, damit wir weiter miteinander plaudern konnten. Jeden anderen, der sich zwischen uns drängen würde, würde ich ins Tote Meer oder von den Felsen der Festung Masada stoßen. Denn da wollten wir jetzt hin.
Masada ist eine antike jüdische Festung, befindet sich am Südwestende des Toten Meeres und wurde 2001 Weltkulturerbe. Die Festung wurde im Auftrag des Königs Herodes in den Jahren 40 bis 30 v. Chr. erbaut und galt als uneinnehmbar, was sich aber als Fehleinschätzung erweisen sollte. Eigentlich war Masada vorher nur ein hoher Tafelberg mit einem 300 mal 600 Meter großen Gipfelplateau. Herodes aber erkannte, dass man von hier oben die ganze Gegend einsehen und auch verteidigen konnte und ließ auf dem Plateau in luftiger Höhe die Festung bauen. 66 n. Chr. kam es zum Aufstand gegen die römische Besatzung. Jüdische Rebellen übernahmen die Festung, die nach dem Tode Herodes als römische Garnison diente, und siedelten sich dort an. Das war den Römern natürlich ein Dorn im Auge und so belagerten sie die Masada ab 73. n. Chr. unter Leitung des Feldherrn Flavius Silva. Als die Lage nach monatelanger Belagerung immer aussichtsloser wurde, beschlossen die jüdischen Rebellen, lieber in den Freitod zu gehen, als den Römern in die Hände zu fallen. Per Los wurden einige Männer bestimmt, die die Frauen, Kinder und Männer der Gruppe und danach sich selbst töten sollten. Und das taten sie auch. Als die Römer die Festung einnahmen, fanden sie nur noch 960 Leichen und bis heute ist Masada ein Symbol des jüdischen Freiheitswillens.
Es dauerte eine kleine Weile bis Eli und Daliah unsere bunte Gesellschaft zusammengetrieben hatte, damit wir unsere Fahrt fortsetzen konnten. Im Bus saß ich neben Susanne aus Köln, die zu dem Zeitpunkt noch nicht mit Roger liiert war und jener Roger und seine Jane saßen ein paar Reihen hinter uns. Daliah und Eli saßen vorne beim Fahrer; das konnte ich erkennen. Nur nicht aus den Augen verlieren. Ich wollte unbedingt die unterbrochene Unterhaltung fortsetzen. Ein Blickkontakt, der mich hätte in Erinnerung bringen können, gelang mir nicht. Daliah und Eli schwatzten und hielten Ausschau nach dem richtigen Weg und ich guckte missmutig zum Fenster raus und ließ die Wüstenlandschaft auf mich einwirken, als mich Susanne anstieß.
»Was?« »Kennst du unsere zweite Reiseleiterin?«, fragte Susanne aus Köln.
»Nicht richtig«, antwortete ich. (Heute würde man antworten: Nicht wirklich. Aber diese Floskel war damals noch nicht in Gebrauch.)
»Sie guckt immer hierher.«
Wie einer meiner Hähne aus dem Hühnerhaus ruckte mein Hals nach oben und ich guckte nach vorne in den Bus. Daliah und Eli plauderten immer noch. Wahrscheinlich machte der Lümmel ihr gerade einen Heiratsantrag und ich hatte ihre suchenden Blicke verpasst, als ich in die Judäische Wüste starrte.
Wir erreichten unseren Parkplatz und Eli zeigte uns den schmalen Pfad, der zur Festung Masada führte. »Wir treffen uns alle oben«, gab er bekannt und voller Tatendrang begannen wir den Aufstieg, der nach und nach immer beschwerlicher wurde. Der Pfad wurde immer schmaler, hatte aber glücklicherweise
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Texte: © 2015 Mark Hollberg/Autor
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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8082-5
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