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Tränen der Vergessenen




Wie viel Zeit war vergangen? Wie oft hatten die Bäume ihre Blätter verloren seit dem sie hier war? Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Der Blick aus dem Fenster ihres Zimmers bot ein friedliches Bild. Den kleinen Springbrunnen konnte sie einsehen und auch die frisch angelegten Wege der parkähnlichen Anlage. In ihr stieg das Verlangen auf, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, als sie aus ihren Gedanken gerissen wurde. Lärm. Lärm von irgendwo da draußen. Nein, nicht aus dem Garten, sondern auf dem Gang. Da wurde ihr wieder bewusst, dass sie keine Pläne über einen Spaziergang schmieden brauchte. Sie konnte hier nicht weg. Allenfalls das Zimmer verlassen. Und dann? Ihre Welt endete auf diesem Gang, diesem nüchternen trostlosen und endlos wirkenden Korridor. Sie konnte sich nicht erinnern, was sich am Ende dieses Ganges befand. Überhaupt war sie ihn nur einmal bis zu Ende gegangen und dann…


Es ging nicht weiter und auch nicht zurück. Wo war ihre Uhr? Die Armbanduhr hatte sie immer getragen, seit vielen Jahren, doch sie war einfach nicht mehr da. Verschwunden, wie viele ihrer Erinnerungen. Doch längst nicht alle Erinnerungen waren verschwunden. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihn vor sich sah. In ihrem Innersten aber wusste sie, dass es nur eine Traumwelt war. Nein, ihr Vater war nicht hier, er konnte sie nicht beschützen. Tot. Vergessen. Vor allem vergessen… Tränen stiegen in ihre Augen und obwohl sie viele Jahre lang nichts an sich heran gelassen hatte, brach es nun aus ihr heraus. Sie weinte.

Es brachte ihr nur wenig Erleichterung und als sie sich endlich beruhigt hatte, fühlte sie die gleiche Leere wie zuvor. Hier gab es nichts, keinen Anfang und kein Ende. Nein! Das hier war das Ende! Oder sollte es noch schlimmer kommen?

Seit nahezu fünf Jahren wohnte Amanda nun in der Seniorenresidenz „Am Park“ in der Nähe Frankfurts. Ein Oberschenkelhalsbruch und eine beginnende Demenz hatten den Umzug unvermeidbar werden lassen. Demenz, hatten die Ärzte ihr erklärt, habe einen Einfluss auf ihr Gedächtnis. Dabei hätte sie gerne so manches vergessen, aber es gelang ihr nicht. Dieses Etwas, das spürte sie ganz genau, war da, griff um sich und sie hatte keine Möglichkeit zu entrinnen. Eigentlich wollte sie nicht darüber nachdenken, doch sie konnte nicht anders. Sie wurde dazu gedrängt, es zerrte an ihr – es zerrte sie in die Tiefe. Das Hier und Jetzt schien sich immer weiter zu entfernen. Er aber, oder es, war da und näherte sich ihr immer schneller. Ein Hilfeschrei? Wozu? Und selbst wenn, konnte sie überhaupt jemand hören? Vielleicht. Aber helfen konnte ihr ja doch niemand. Nein, nun rächte sich das Vergangene und sie würde ihren Preis zahlen müssen.
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und unter Aufbietung all ihrer geistigen Kräfte gelang es ihr. Sie betete.

„Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft…“

Jedes Wort kam ihr nur mühsam über die Lippen, schließlich aber flüssiger und fast meinte sie das Nachtläuten ihrer Kindheit, das dieses Gebet stets angekündigt hatte, zu hören, als sie nicht mehr konnte. Es zog an ihr und in ihr, dass sie meinte, ihr Herz müsse zerspringen. Heftige Kopfschmerzen und Übelkeit setzten ein. Mühsam schleppte sie sich erneut in Richtung Fenster, um es zu öffnen. Jeder Schritt schmerzte und in ihrem Kopf drehte es sich. Kurz vorm Fenster verließen sie die Kräfte. Sie sank auf dem Bett zusammen. Plötzlich roch sie nur noch das Waschmittel der frisch gewaschenen Bettwäsche. Mit einem Mal hatte alles aufgehört, ihr Kopf war leer und lag auf dem blütenweißen Kopfkissen. Ihr sollte jedoch keine Zeit bleiben, sich zu sammeln. Unfähig auch nur einen Finger zu rühren, dröhnte es in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Sie wusste, dass ihr nun kaum noch Zeit bleiben würde. Und weiter, unaufhörlich das gleiche Datum.

Der 6.6.1966….

Impressum

Texte: F.J. Graf von Stauffenburg
Bildmaterialien: F.J. Graf von Stauffenburg
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2013

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