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Der verlorene Sohn

Heute ist der schönste Tag in meinem Leben. Und ich kann das beurteilen. Ich hab schon viel erlebt.  Nicht nur schönes. Ganz und gar nicht. Aber sagen wir so: Ich habe gelebt. Also richtig. Leben und leben lassen. Das Landleben meines Vaters hatte ich schon früh satt. Da half nur eins:Raus! Ich brauchte dringend Abstand und wollte ein eigenes Leben haben. Und das Leben in der Stadt schien so unendlich viel verlockender als das Landleben meines Vaters. Nicht jeden Morgen um vier Uhr aufstehen und das Feld bestellen und nach den Tieren sehn. Einfach leben und genießen. In der Stadt ging das. Da gab es keine Felder und keine Tiere –zumindest nicht solche wie bei uns auf dem Hof. In der Stadt gab es Essen und Trinken für jedermann –auch ohne vorher selbst zum Brunnen zu laufen. In der Stadt gab es jede nur erdenkliche Art sich zu vergnügen. Ja. Die Stadt war großzügig –für jeden, der zu ihr großzügig war; für jeden, der genug Geld hatte. Und das war bei mir ja so. Zumindest am Anfang. Ich hatte mir nämlich meinen Erbteil auszahlen lassen bevor ich den Hof verließ. Ja. Ich habe den Hof wirklich verlassen. Ich hab nicht nur von der Stadt geträumt. Ich wollte hin und bin auch hin gegangen. Und sie hieß mich willkommen –genauso wie ich es mir erträumt hatte.

Und dann, dann gab ich ihr, was ich hatte und mein Erbe schrumpfte immer mehr zusammen. Schließlich hatte ich nichts mehr. Jeden einzelnen Groschenhatte ich ihr in den Rachen geschoben. Und dieses undankbare Geschöpf spie mich aus in der Sekunde, in der ich mein letztes Gut gegeben hatte. JA. Die Stadt war großzügig –bei denen, die genug Geld hatten. Jetzt war ich Ballast. Ich hatte ja nichts mehr, was ich hätte geben können.

Das war eine schwere Zeit. Es war unglaublich anstrengend und... erniedrigend. Ich habe jede Arbeit angenommen, die ich kriegen konnte. Selbst als Schweinehirt habe ich gearbeitet... Konnte man noch tiefer sinken? Es war erbärmlich. Ich arbeitete mit unreinen Tieren. Ich arbeitete quasi fürsie! Und die Bezahlung? Nun ja... davon brauchen wir gar nicht reden... Wenn ich nicht ab und zu etwas, das eigentlich für die Schweine gedacht war, für mich abgezweigt hätte, dann hätte ich nicht mal genug zu essen gehabt... 

Der entscheidende Moment kam dann eines Morgens, als ich gerade die Schweine fütterte. Es gab eigentlich keinen bestimmten Auslöser, wenn ich's recht bedenke. Ich saß neben den Schweinen auf der Kante des Troges und sah ihnen beim fressen zu. Sie machten sich gierig über die Reste her. Mein Magen knurrte und ich wusste nicht, wie ich die Mittagshitze überstehen sollte. Ich musste an die Zeit denken, als ich noch bei meinem Vater gelebt hatte. Er hatte immer dafür gesorgt, dass es jedem seiner Arbeiter gut ging. Hatte dafür gesorgt, dass keiner von ihnen Hunger oder Durst leiden musste.

In diesem Moment. Als ich am untersten Ende angelangt war, brachte ich endlich den Mut auf, an meinen Vater zu denken. Ich hatte den Gedanken an ihn immer wieder fortgeschoben. Schließlich war ich gegangen, um die Welt zu sehen, um erfolgreicher zu sein, um mehr als nur ein Landgut zu besitzen. Er hatte sich damals nicht beschwert als ich gehen wollte. Er hatte mich nur angesehen. Traurig,aber freundlich. Er hatte mir meinen Anteil ausgezahlt und mich einfach nur angesehen. Vielleicht wusste er, wo ich am Ende landen würde –in einem Schweinestall... wahrscheinlich hatte er es gewusst... nein. Unter Garantie. Aber ich hätte ihm nicht geglaubt.

Ich habe mich oft gefragt, weshalb er mich damals nicht aufgehalten hatte und je schlechter es mir ging, umso häufiger fragte ich es mich.Manchmal war ich richtig sauer auf ihn und gab ihm die Schuld. Aber wenn ich ehrlich war... ich hätte ihm ja doch nicht geglaubt, ich hätte nicht auf ihn gehört. Diese Erfahrung musste ich wohl selber machen.

Nun hatte ich endlich den Mut, mir das einzugestehen und wiederan ihn zu denken. Und mehr noch. Mir war etwas klar geworden. Ich hatte einen Fehler begangen und war mit meinem tollen Plan gescheitert. Nun musste ich auch die Konsequenzen dafür tragen.

Aber musste ich deshalb bis zum Ende meiner Tage in einem Schweinestall arbeiten? Hatte ich noch eine andere Wahl? Eine Chance? … Ja. Die hatte ich. Und heute muss ich sagen, zum Glück hatte ich sie und zum Glück hatte ich den Mut, sie zu ergreifen.

Ich fasste einen Entschluss. Bei meinem Vater hatte nie ein Arbeiter Hunger leiden müssen. Bei ihm hatte niemand fürchten müssen, in der Mittagshitze zusammen zu brechen. Ich wagte es nicht, als Sohn zurückzukehren. Der Sohn war verloren gegangen. Er hatte seinen Vater verlassen. Aber der Arbeiter hätte eine Chance. Ich hatte gelernt, zu arbeiten–egal wie hart und wie lange. Ich würde all meinen Mut zusammennehmen und als ein Arbeiter zu meinem Vater zurückkehren.Ich würde ihn anflehen, mich als Knecht wieder aufzunehmen.

Vater war so großzügig. Vielleicht hatte er mich vergessen. Aufgegeben. Ich hatte so viele Ängste... Ich hätte es ihm nicht verübeln können, wenn er mir mit Groll entgegengekommen wäre. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass er mich aufnehmen würde.

Noch am selben Tag gab ich meine Stellung auf und machte mich auf den Weg zu Vaters Hof. Es war einige Zeit vergangen und ich hatte mich sehr verändert. Vor allem in den letztenMonaten im Stall.Mein Gesicht und mein ganzer Körper waren eingefallen vom Hunger und mein Bart war ungepflegt. Meine einst so guten Kleider hatte ich verpfänden müssen und trug nur noch ein einfaches Leinengewand.Er wird mich wahrscheinlich nicht einmal erkennen–dachte ich.

Als ich in Sichtweite des Hofes kam,durchzog mich ein seltsames Gefühl. Es fühlte sich gut und richtig an, aber dann war da auch noch diese Anspannung. Meine Muskeln verkrampften sich richtig. Was, wenn er mich fortschicken würde?! Was würde ich sagen? Wie würde ich reagieren? Ich hatte kein Recht darauf, Widerspruch einzulegen. Würde er mich abweisen, so musste ich gehen. Ich starrte auf meine Hände und kämpfte mit dem Wunsch umzukehren und wieder fortzugehen, bevor ermich wegschicken konnte.

Ich war schon drauf und dranzu gehen. Da hörte ich plötzlich eine raue, alte Stimme hinter mir. „Ismael? …. Ismael, bist du es!?“ Ich erstarrte inmitten meiner Bewegung und wagte es nicht, aufzublicken. Es war Vaters Stimme. Auch nach all der Zeit erkannte ich siesofort. Und er? Er hatte mir noch nicht einmal ins Gesicht gesehen. Er war vielleicht noch 200 Meter entfernt und dennoch... auch er hatte mich erkannt. Tränen stiegen mir in die Augen als er mich erreichte und in seine Arme schloss.

Vergessen waren der Hunger und die Erniedrigungen, vergessen war die Angst. Stotternd wollte ichihm erklären, wie Leides mir tat und dass ich ihm ein Knecht sein wollte, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. Er rief unsere Knechteherbei –Knechte,denen es gut ging–und sprach von einem großen Fest.

Nun sitze ich neben ihm an seiner Tafel in seinem Haus. Der Schmutz ist von meiner Haut gewaschen. Meine zerschlissenenKleider habe ich getauscht gegen ein neues und prächtiges Gewand. Mein Vater hat es mir gegeben.

Heute ist der schönste Tag meines Lebens.Ich bin wieder Zuhause. Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.

[Mary Cronos, 1214 Wörter]

Impressum

Texte: Mary Cronos
Bildmaterialien: Mary Cronos
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2013

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