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Ein neues Leben für Isaak

Ich war früh aufgestanden. Die Sonne hatte gerade erst begonnen den Himmel am Horizont zu erhellen. Die Luft war noch kalt und Stille lag über unserer Stätte. Es war ein friedlicher Morgen. Vater hatte mir gestern gesagt, dass wir am frühen Morgen gemeinsam losziehen würden um Gott dem Herrn ein Opfer zu bringen. Er hatte mich bisher noch nie zu so einem Ereignis mitgenommen. Ich war wahnsinnig aufgeregt! Hoffentlich würde ich nichts falsch machen.

Aber nicht nur die Tatsache, dass ich mitkommen konnte, war besonders. Da war so einiges, das anders war als sonst. War das meinetwegen?

Das erste, das mir auffiel, war, dass Mutter noch schlief. Das wunderte mich sehr. Sonst stand sie immer gemeinsam mit Vater auf – oder sogar vor ihm. Hatte er ihr am Ende vielleicht gar nichts von unserer gemeinsamen Unternehmung gesagt? Dafür spräche dann auch, dass diesmal kein Korb mit Verpflegung bereitstand, so wie sie ihn sonst stets für Vater zurechtmachte. Diesmal war es mein Vater, der wahllos einige Brote und andere Lebensmittel in ein Stoffbündel stopfte. Eine Weile beobachtete ich ihn. Er schien mich gar nicht zu bemerken. Erst wollte ich ihm helfen, doch dann hatte ich seinem etwas hektischen Treiben lieber lächelnd zugesehen. Ich wollte ihn nicht stören. Er schien unruhig zu sein. Klar, dachte ich, immerhin werden wir bald Gott gemeinsam ein Opfer bringen.

Ich entschloss mich dazu, ihn lieber allein zu lassen und trat aus unserem Zelt heraus. Ich genoss die frische Luft. Langsam wurde es heller. Unweit vor mir sah ich den Esel, der unser Gepäck tragen sollte. Da bemerkte ich auch schon die nächste Abweichung von der Norm: Die nötigen Werkzeuge waren – soweit ich das in der Dämmerung erkennen konnte – alle aufgeladen, aber Vater hatte noch gar kein Opfertier aus dem Gehege geholt.

Ich fragte mich, ob ich ihn wohl darauf hinweisen sollte… Aber andererseits wusste er, was er tat, und ich wollte nicht altklug erscheinen und meinen Vater belehren. So etwas tat man nicht. Schon gar nicht, wenn er so merkwürdig fremd agierte wie jetzt.

Das merkwürdigste an diesem Morgen war nämlich mein Vater selbst. Er war schon immer schweigsam und dennoch in seinem Schweigen ausgesprochen durchsetzungsfähig. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er seinen Plan rigoros durch. Anders wäre unser Leben auch gar nicht denkbar gewesen. Sein Leben als Nomade, Mutter und auch meine Geburt – alles verdankte sich seiner Sturheit. Aber so würde ich niemals laut über ihn sprechen. Es war stets klüger gewesen, wenn ich meine Gedanken für mich behielt.

Heute Morgen zumindest war er anders. Er war so abwesend – gar nicht er selbst. Er musste sogar noch einmal umkehren, als wir gerade losgegangen waren, weil er das Messer vergessen hatte. Und auch das Holz schlug er erst unterwegs. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Und bei allem, was er tat, hatte er diesen merkwürdigen Blick. Es war, als würde er ferngesteuert werden. Wie eine Marionette, die sich nur stockend bewegte. Nicht Herr seiner selbst. Er sprach noch weniger als sonst. Die Luft war zum Schneiden. Es bereitete mir großes Unbehagen, ihn so zu sehen.

Die Zeit schien sich zur Ewigkeit zu dehnen, als wir schweigend durch die Wüste zogen. Weit und breit kein anderer Mensch als mein Vater und unsere beiden Diener; kein nennenswertes, größeres Tier oder auch nur eine Oase. Als ich zu Sanhib und Achmal – den Dienern – sah, tauschten auch sie immer wieder bestürzte Blicke aus. Es fiel also nicht nur mir auf. Das machte es nicht besser. Es war also nicht meine blühende Fantasie, die mir einen Streich spielte. Irgendetwas stimmte nicht.

Wir waren ewig unterwegs. Es mussten mehrere Tage gewesen sein… als Vater plötzlich anhielt – mitten im Nirgendwo. Der einzige Orientierungspunkt in dieser Einöde war ein kleiner Berg – oder vielleicht eher Hügel –, der sich unweit vor uns auftürmte.

Wir waren also da. Mein Vater lud mit Sanhibs Hilfe das Holz und die Werkzeuge von unserem Esel. Das Tier sah erschöpft aus. So wie wir alle es wohl waren. Mein Vater sah zu mir und als ich näher trat, lud er mir das Holz auf. Er selbst nahm die Werkzeuge. Unsere Diener blieben mit dem Esel zurück. Das letzte Stück des Weges würden wir allein gehen.

Wir waren bereit. Doch meine Unruhe legte sich keineswegs. Es gab doch hier nichts, das wir hätten opfern können. War das eine Prüfung für mich? Wollte er meine Aufmerksamkeit testen? Meinen Glauben? Vater hatte mich alles gelehrt. Er war gerne stolz auf mich – auch wenn er es wohl niemals zugeben würde. Sollte ich es wagen, ihn zu fragen?

„Mein Vater!“ Als wir Sanhib und Achmal hinter uns gelassen hatten und allein den Hügel bestiegen, hörte ich mich ihn ansprechen noch bevor ich es begriff. „Ja, mein Sohn?“ Er antwortete mir tatsächlich. Durch seine Reaktion beflügelt wollte ich eine Antwort. „Vater, sieh doch. Wir haben alle Werkzeuge, aber was ist mit einem Opfer?“

„Gott wird sich sein Opfer aussuchen, mein Sohn.“ Ich nickte nur. Seine Antwort strotzte wie eh und je vor Gottvertrauen. Und ich fühlte mich schlecht. Wie konnte ich an Gott zweifeln? Vater hatte Recht. Gott war mit uns. Er hatte uns gesandt. Selbst in der Wüste würde er ein würdiges Opfer finden.

Betroffen von meinen Zweifeln schwieg ich. Der kurze Weg den Hügel hinauf fühlte sich länger an als die Tage der Wanderung zuvor. Vaters Schweigen war wie eine Strafe. Als wir endlich auf dem Gipfel ankamen blieb er stehen und sah sich um. Suchte er nach dem Opfer? Hier war nichts. Der Platz war trocken und leer. Er war gesäumt durch einige Felsen auf der einen Seite und ein paar vertrocknete Büsche auf der anderen. Kein Tier war zu sehen.

Dann kam Bewegung in meinen Vater. Er begann einen Altar zu bauen. Ich war hin und her gerissen, ob ich ihm helfen sollte, doch ich wagte es nicht, ihn an zu sprechen und ihn jetzt mit meinen Fragen zu belästigen. Normalerweise sagte er mir immer, wenn er eine Aufgabe für mich hatte. Er scheute sich ganz sicher nicht davor, mich anpacken zu lassen. Ich stand also unschlüssig am Rande des Plateaus und sah meinem Vater zu. Es war mir nicht wohl dabei, ihn so schwer heben zu lassen und doch bewegte ich mich nicht. Ich weiß nicht, was es war, das mich abhielt. Vielleicht war es die Tatsache, dass ich Angst hatte, etwas falsch zu machen und so unser ganzes Vorhaben zu ruinieren. Vielleicht lag es an dem merkwürdigen Gebaren meines Vaters. Vielleicht lag es aber auch an dem seltsamen Gefühl, dass sich nach und nach immer mehr in mir breit machte. Ich konnte es nicht sagen.

Dann nahm mir Vater das Holz ab, das noch immer auf meinen Armen lag, und stapelte es gleichmäßig auf dem Altar, den er soeben fertig gestellt hatte. Er schien sich nicht daran zu stören, dass ich ihm nicht zur Hand ging. Als alles bereit war, sah er wieder zu mir. Sein Blick ließ mich noch nervöser werden und ich spürte, wie mein Herz begann schneller zu schlagen. Er sah mich nicht böse an, eher mitleidig und hilflos. Wüsste ich nicht, wie viel Freude es meinem Vater stets bereitete dem Herrn ein Opfer zu bringen, dann würde ich behaupten, er sähe leidend drein. Und dann verschleierte sich sein Blick und der ferngesteuerte Mann stand wieder vor mir, so wie ich ihn vorhin schon erlebt hatte. Er hatte die Stricke in der Hand, mit denen er das Opfertier binden würde. Wollte er jetzt mit mir auf die Suche gehen? Aber es gab nichts zu suchen. Hier war kein Tier. Wieder sah ich mich um.

Dann stand mein Vater vor mir. Er starrte mich an, als erwarte er, dass ich jeden Augenblick davon rannte, und ich starrte zurück. Dann hob er langsam das Seil und ich verfolgte gebannt jede seiner Bewegungen. Was hatte er vor? Ich begriff es nicht. Ich war wie gelähmt.

Dann war ich nicht mehr gelähmt – ich war gefesselt. Mein eigener Vater hatte mich gefesselt. Nun stieß er mich in Richtung des Altars. Noch immer wie von Sinnen stolperte ich – so gut es mir gebunden möglich war – zu seinem provisorischen Altar. Ich bemerkte, wie mein Atem sich beschleunigte. Das Seil um meine Brust schnitt mit jedem Atemzug tiefer in mein Fleisch.

Ich starrte hinunter auf den Altar. Meine Knie schlugen bereits an den kalten Stein. Ich verstand meinen Vater nicht. Dann erinnerte ich mich an seine Antwort vorhin – die einzigen Worte, die er mit mir gewechselt hatte seit dem Abend vor unserem Aufbruch: „Gott wird sich sein Opfer aussuchen, mein Sohn.“ Und ich verstand Gott nicht. Warum ich? Sollte Vater mich wirklich opfern? Ich begriff es nicht. Hatten Mutter und Vater nicht so lange auf einen Erben gewartet? Hatte nicht Gott selbst mich ihnen versprochen? Er hatte Vater doch versprochen, dass aus ihm ein großes Volk hervorgehen würde. Ich kannte all diese Geschichten. Vater hatte sie mir nicht erzählt. Er lehrte mich nur das Gesetz – nicht die Geschichte. Aber Mutter hatte sie mir alle Abend für Abend weitergegeben.

Wie sollte also Gott sein Versprechen wahrmachen, wenn er mich als Opfer wollte? Nahm ich mich jetzt wichtig? Zu wichtig? Ich würde wohl niemals eine solche Gottesfurcht besitzen wie mein Vater. Was bedeutete es wohl für ihn, seinen einzigen Sohn zu opfern, auf den er so lange hatte warten müssen?

Mein Vater stieß mich leicht von hinten. Viel zu leicht als dass ich davon auf den Altar gefallen wäre. Aber ich ließ mich fallen, drehte mich und sah ihn an, sah in das von der Sonne braungebrannte und vom Alter gezeichnete Gesicht, die dunkelbraunen Augen, sie sonst stets ein kleines Funkeln in sich trugen – jetzt waren sie wie leer.

Das unebene, knorrige Holz stieß mir in meinen Rücken. Aber schmerzhafter war Vaters leerer Blick – er stieß mir damit ins Herz noch bevor er das Messer auch nur angehoben hatte.

Als es weit über seinem Kopf in seiner Hand schwebte, schloss er die Augen. Aber er zögerte nicht in seinen Bewegungen. Auch ich schloss meine Augen. Ich weiß nicht, warum ich mich noch immer nicht wehrte. Ich hätte weg laufen können. Vater hätte mich ganz sicher nicht einholen können. Doch ich blieb wo ich war – und ich schwieg. Sanhib und Achmal würden mich wahrscheinlich hören, wenn ich schrie, aber gerade das wollte ich merkwürdigerweise nicht.

Ich hörte, wie mein Vater neben mir tief durchatmete. Es war so weit. Jetzt bekam ich Angst. Aber nicht vor meinem Vater, sondern vor Gott. War er enttäuscht von mir? Was hatte ich falsch gemacht? War ich ein schlechter Sohn gewesen? Oder… oder sollte ich mich am Ende geehrt fühlen? Wenn ich jetzt starb und mich zuvor wehrte, würde er mich dann strafen? Ergab es überhaupt Sinn, sich zu wehren? Gegen Gottes Willen?

Mein Körper fühlte sich so starr an wie das trockene Holz unter mir und bald würde er so kalt sein wie der Stein des Altars. Oder würde ich vorher schon brennen um als Brandopfer zu dienen?

„Abraham, Abraham!“ Der Ruf riss mich aus meinen Gedanken und ich meine Augen auf. Wer sprach da? Wir waren allein hier oben. Wer war hier und störte meinen Vater? Ich sah mich um und doch sah ich niemanden. Hatte ich mir die Stimme in meiner Angst nur eingebildet? Aber nein, mein Vater blickte ebenso suchend umher. „Hier bin ich!“ rief er und sank ehrfürchtig auf seine Knie. Langsam ließ er das Messer zusammen mit seinem Haupt sinken. Wie eh war er es, der schneller begriff.

„Strecke deine Hand nicht aus nach dem Jungen, und tu ihm nichts! Denn nun habe ich erkannt, dass du Gott fürchtest, da du deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast.“ Wieder sprach die Stimme. Mein Herz raste nun umso schneller. War es Gott selbst, dessen Stimme ich hörte oder war es einer seiner Boten? So oder so fürchtete ich mich. Lag ich doch gefesselt und konnte weder knien noch meinen Blick senken. Noch nie hatte ich einen solch beeindruckenden und zugleich beängstigenden Augenblick erlebt. Die Stimme schien von überall zu kommen und zugleich aus meinem Herzen. Sie vibrierte in meinem ganzen Körper. Im ersten Moment begriff ich gar nicht, was die Stimme da sagte, was GOTT da sagte. Ich spürte seine überwältigende Anwesenheit, spürte heiße und kalte Schauer und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.

Und dann begriff ich, woher die Stimme kam – sie kam direkt aus dem Himmel – und ich konnte den Blick nicht abwenden. Zu beeindruckend war die Erscheinung des Engels, der dort schwebte. Würde man mich nach seinem Aussehen fragen, so könnte ich nicht antworten. Er war unbeschreiblich. Ich wollte ihn nicht anstarren, aber ich konnte einfach nicht anders. Aber es schien ihn nicht zu stören. Es war, als wäre ich gar nicht da. Nur mein Vater war es, mit dem er redete. Wie könnte es auch anders sein. Ich konnte froh sein, dass ich noch lebte. Ich glaube, es war ganz gut, dass er mich nicht weiter beachtete. Solange mich niemand beachtete, wollte mich auch niemand opfern und solange fiel auch niemandem auf, dass ich alles andere als ehrfürchtig dalag und in den Himmel starrte.

Während ich noch darüber nach dachte, ob ich mich befreien durfte, begann wieder der Engel zu reden: „Ich schwöre bei mir selbst, spricht der HERR, weil du deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, werde ich dich reichlich segnen und deine Nachkommen überaus zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand, der am Ufer des Meeres ist.“

Da sprach tatsächlich Gott durch seinen Boten. Und wieder sprach er meinem Vater Segen zu. All die Geschichten, die mir Mutter einst erzählt hatte, wurden lebendig vor meinen Augen. Sie alle waren wahr. Ein Teil von mir hatte immer geglaubt, dass Mutter übertrieben hatte – wie Mütter nun einmal sind. Dass mein Vater sich immer wieder direkt mit Gott unterhalten hatte, erschien mir einfach zu fantastisch. Ich hatte mir nie vorstellen können, wie es war, Gottes Gegenwart zu erleben. Und ich hatte recht damit: Es war unvorstellbar. Aber jetzt wurden die Geschichten fassbarer, bekamen eine neue Farbe.

Aber bei aller Begeisterung und Faszination war ich doch auch traurig und hatte Angst – große Angst. Noch immer lag ich gefesselt auf diesem bedrohlichen Altar. Ich wollte fort. Wollte, dass Gott mich durch seinen Boten frei sprach. Aber der Bote sprach nur zu Vater.

Vater. Noch immer hielt er sein Gesicht gesenkt. Ich konnte nicht erkennen, ob er erleichtert war. Aber ich hoffte es. Dann hob mein Vater seinen Blick und sah auf. Aber er sah nicht zu mir, sondern zu den Büschen und Hecken am Rande des Platzes. Seine Augen weiteten sich und auch ich drehte so gut es ging den Kopf um erkennen zu können, was ihn so verwunderte. Da stand ein Widder bei den Büschen. Ein prächtiges und großes Tier. Wohlgenährt wie es für diese Gegend alles andere als üblich war. Auch er rannte nicht weg. Als ich genauer hinsah, erkannte ich auch, weshalb er nicht floh. Auch er war gebunden: Er hatte sich im knorrigen Gestrüpp der Büsche verfangen. Mein Vater erhob sich und ging vorsichtig auf das Tier zu. Es erinnerte mich daran, wie er zuvor auf mich zugeschritten war. Er schlich um den Widder nicht zu erschrecken. Ich konnte mir denken, was in ihm vorging. Er wollte ihn um jeden Preis fangen. Wollte ein Opfer haben, dass er an meiner statt hingeben konnte. Als Dank für mein Leben.

So wie zuvor ich blieb auch der Widder wie erstarrt stehen. Mein Vater packte ihn und schnitt ihn von den Ästen los, die ihn bereits begonnen hatten zu verletzen. Er schien mir weit entfernt in diesem Augenblick. Er hatte mich völlig ausgeblendet. Er hatte ein neues Opfer für den Herrn gefunden – eines, das er eher bereit war geben.

Plötzlich war ich mir sicher: Wenn ich jetzt nicht aufstünde, so würde er das Tier am Ende auf mich werfen. Ich wollte gegen meine Fesseln drücken um sie zu lockern, doch als ich an mir herab sah, da waren die Fesseln fort. Ich sah zum Himmel, doch der Engel war nicht mehr da. Ich war wieder frei!

Vorsichtig stieg ich vom Altar. Ich wollte das Holz nicht herunter werfen. Es hatte Vater so viel Mühe gemacht, es auf zu schichten. Meine Beine fühlten sich weich und kraftlos an. Als wäre ich seit Monaten nicht mehr gelaufen. Vorsichtig und etwas zittrig ging ich zu den Felsen hinüber und sah zu wie mein Vater den Widder schlachtete, so wie er mich beinahe geschlachtet hätte. Wieder konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Ich war froh, dass nicht mehr ich es war, der dort auf dem trockenen, knorrigen Holz lag. Ich war froh, dass es nicht mein Leben war, das heute hier sein Ende fand. Aber es stimmte mich traurig, dass Vater kein Wort des Widerspruchs gegeben hatte um mich zu retten. Wie hatte er früher Sodom und Gomorra retten wollen? Wie sehr hatte er für diese fremden Menschen gekämpft. Ich wusste noch genau, welch großer Stolz in den Augen meiner Mutter lag, als sie mir davon erzählte. Und heute? Wo war da sein Widerwillen geblieben?

Oder tat ich ihm Unrecht? Hatte er für mich gekämpft, aber verloren? Ich hatte es nie gewagt, das Urteil meines Vaters laut anzuzweifeln und auch stumm tat ich dies nur selten. Aber von dem, was in den letzten Minuten geschehen war, zitterten mir noch immer die Knie. Es fühlte sich an, als hätte ich jeden Knochen neu geschenkt bekommen und mich an meinen neuen Körper noch nicht gewöhnt. Gott hatte mich gerettet. Er wollte mich nicht als Opfer. Vielleicht war das gut, vielleicht war das schlecht. War ich ihm zu kostbar um zu einem Opfer zu werden oder war ich ihm nicht würdig genug? Ich sah zu meinem Vater und seinem Widder. Konnte Gott wirklich den Widder dort für würdiger halten als mich? Oder war es mein Leben, das mehr wert war als das des Widders? Das klingt vielleicht vermessen, aber nur so war ich in der Lage, das Geschehene zu akzeptieren, denn es bedeutete, dass Gott mich liebte und am Leben wissen wollte. Er hatte nicht mich prüfen wollen, sondern Vater. Er hatte die ganze Zeit über mich gewacht und hatte mich nie als Opfer gewollt.

Mein Vater trat seinen Rückweg an ohne nach mir zu sehen. Er war ein stolzer Mann und würde sich nicht die Blöße geben, mich nun anzusehen. Das wusste ich. Ich verstand sein Schweigen. Jetzt verstand ich es. Die letzten Tage über auf unserem Weg hierher hatte mich sein Schweigen mehr gequält als jetzt. Ich wollte auch nicht mit ihm reden. Es gab nichts zu sagen. Nichts, das wir nicht auch so gewusst hätten.

Er ging vor mir den Berg hinab. Ich war nicht einsamer als auf dem Hinweg, den wir nebeneinander beschritten, als ich ihm nun folgte. Sanhib und Achmal warteten mit dem Esel auf uns. Trotz ihrer Müdigkeit hatten sie Wache gehalten. Vielleicht hatten sie befürchtet, dass etwas geschehen würde. Als wir sie erreichten, sah ich Erleichterung in ihren Gesichtern. Ich lächelte zurück.

[Mary Cronos, 3.168 Worte]

Impressum

Texte: Mary Cronos
Bildmaterialien: Mary Cronos
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2013

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