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Prolog

In einer Unterwasserhöhle der schwedischen Ostküste zogen sich die Schatten drei vermummter Gestalten über die unebenen Wände. Die Luft war vom Salzwasser getränkt, das Feuer der Fackeln tanzte wild in dem feuchten Raum und leise schwappte kristallklares Wasser gegen das steinige Ufer und spiegelte die Lichtspiele an die Wände. Der Zeiger einer Uhr wies 23.58 Uhr.

Ekstatisch standen diese drei Individuen mit erhobenen Händen im Kreis. Und eingeschlossen von diesen lag ein Mädchen. Ängstlich hatte sie sich zusammengekauert und Tränen überzogenen ihre roten Wangen. Den Willen zu fliehen hatte sie schon längst verloren. Sie blickte ihrem Tod in das bleiche, wahrhaftige Gesicht.

“Wir haben uns hier versammelt, um das neue Zeitalter zu begrüßen und mit ihm, die neue Welt”. Laut schalte die dunkle Stimme des Anführers durch die Schwärze. Mit erhobenem Haupte schlug er seine Kapuze zurück, verschränkte die Finger ineinander und begutachtete dann die restlichen drei Anwesenden.  

“Seid ihr denn komplett wahnsinnig? Das könnt ihr nicht!” schrie das Mädchen in der Mitte verzweifelt. Sie konnte es nicht fassen, dass die Menschen, die sie umgaben, so wahnsinnig bereit waren, etwas so Furchtbares auf die Welt freilassen zu wollen. Jedoch wusste sie es besser. Die drei Verhüllten waren unaufhaltsam.

“Doch und du wirst uns schön brav dabei helfen”, flötete der zweite Mann des Kreises. Sein Gesicht lag vollständig in dem Schatten seiner riesigen Zipfelkapuze. Er war ein Gigant von zwei Metern mit breiten Schultern und breiter Statur. Eine monströse, nicht menschliche Aura ging von ihm aus, die das Mädchen zum Zittern brachte.  

Verbittert biss sie sich auf die Lippen und wandte sich zu der einzigen Frau der Gruppe. Allerdings stand diese nur mit einem breiten Grinsen und einem langen, im Licht funkelnden und mit Edelsteinen verzierten Dolch in der Hand bereit.  

“Gebieter, höre uns an. Wir senden dir dieses Opfer als Geschenk um die Pforten zu öffnen und das Böse freizulassen”, sprach der Anführer und die Frau mit dem Dolch ging langsam auf das am Boden kauernde Mädchen zu. “Du hast das falsche Blut geerbt”, sang sie und schnitt zu. Augenblicklich bildete sich ein langer, blutiger Spalt an der Kehle des Mädchens und ihr Kopf fiel gurgelnd zu Boden.

Still warteten die Drei auf ein Wunder. Und das Übersinnliche geschah. Langsam bildete sich ein Spalt über den toten Mädchen mit ihren angsterfüllten, toten Augen. Ein weinroter, mächtiger Spalt der einen Blick in eine andere Welt gewährte.  

“Es hat begonnen”.

1.

Mit großen Augen starrte das siebzehnjährige Mädchen Amira Langford auf das von ihr erschaffene Wunder. Leuchtend rot spiegelten sich die tanzenden Zungen in den braunen Augen wieder und stahlen ihr den Atem. Der Tanz, den es vollführte, wirkte illusorisch und falsch auf das Kind und obwohl es so klein und zierlich war, strahlte dieses unvorstellbare Macht aus. Als hätte Gott selbst es erschaffen.

Allein mit ihren Gedanken ließ Amira die rot-gelbe Flamme leben und tanzen, so dass sie wie Schlangenzungen zischte und ihren Meister verbrennen wollte. Doch die alten Regeln galten schon längst nicht mehr. Das wusste auch sie. So war es zu ihrem Schicksal geworden, zu tanzen, zu lodern und zu zerstören; wenn das Mädchen es wollte. Einzig und allein durch ihren Willen. Denn die alten Regeln galten nicht mehr.

Fasziniert beobachtete Amira die kleine, rote Flamme auf ihrer Handinnenfläche. Sie hatte sie erschaffen und ihr gehörte sie. Der reine Anblick des kleinen Feuers faszinierte sie so sehr, dass sie nicht einmal blinzeln konnte. Bis sie schlussendlich sich selbst ermahnte und ihre Hand schloss. Die kleine Lichtquelle verschwand genauso schnell, wie sie einst entstanden war. Nur ein letzter Rauchschweif bewies die vergangene Existenz. Faszination und Erleichterung durchströmten den Körper der Braunhaarigen. Ihr pochendes Herz verteilte in Sekunden Glückshormone und Adrenalin, so dass sie augenblicklich auf das Bett hinter ihr fiel.

Sie konnte es noch immer nicht glauben. Sie, Amira Langford, hatte erfolgreich Magie angewendet. Nach so vielen gescheiterten Versuchen, 21 Stück am heutigen Abend, hatte sie es vollbracht. Das Element Feuer war nun ihres. Bloß meistern musste die Siebzehnjährige dies. Doch die Formeln saßen und wie sie Magie in sich sammeln konnte, wusste sie nun auch. Amira fehlte jetzt nichts mehr, um die Magie zu beherrschen. Anfang wollte das Mädchen mit den Elementen, so wie der kleine Avatar aus Nickelodeon.

Gebannt konzentrierte Amira sich auf ihre Handinnenfläche, welche ausgestreckt über ihren Kopf schwebte und suchte das Fleisch nach Brandwunden ab. Die rosige Haut spannte sich gesund über die Knochen und Sehnen. Das Feuer hatte ihr nichts angetan. Schmerzlos ließen sich die kleinen Finger bewegen und problemlos konnte sie sie hinter sich aufstützen.  

"Es war ein guter Tag", sprach Amira voller Euphorie zu sich selbst. Ein breites, selbstgefälliges Lächeln verzog ihre Lippen zu einem Grinsen und berauscht schwang sie die Beine aus ihrem Bett. Leise, aber selbstsicher, glitten ihre Füße über den Boden und führte sie zwischen den Büchern, Kleidungsstücken und Möbeln zu dem Schreibtisch. Das blinkende Smartphone lag stumm gestellt auf dem Holz. Neugierig hob sie das technische Gerät auf und entsperrte es. 63 ungelesene Nachrichten in 6 Chats sprang ihr augenblicklich entgegen. Doch sie interessiert nur ein Chat. Den ihres besten Freundes, Lennard Schuster. Zügig tippte Amira eine kurze Nachricht für ihn ein, in der sie über ihren Durchbruch erzählte. Ihre Finger flogen geschickt über die Tastatur, ohne einen Fehler dabei zu begangen zu haben. Sie drückte auf Absenden und überflog die ungelesenen Nachrichten. Unwichtiges Zeug.

Der Teenager auf der anderen Seite der Stadt sprang begeistert auf, als er die erfreuliche Nachricht las. Er wollte es fast schon nicht wahrhaben, so unrealistisch und unwahrhaftig fühlte es sich an. Sein Kopf war ganz benebelt. Amira hatte es also endlich geschafft.  

Schnell schrieb er als Antwort, er sei auf den Weg zu ihr und schnappte sich seine Sachen. Das der Zeiger seiner Uhr auf kurz vor Eins stand, schien ihn nicht zu stören. Er musste das Wunder durch seine eigenen Augen sehen. Anders konnte er es nicht glauben. Zu surreal und unwirklich klang die Wahrheit.  

Zügig schlüpfte er in eine graue Jeans und obwohl es Mitte Juli war, zog er sich aus Angewohnheit einen grauen Sweatshirt über den Kopf. Sein Herz pochte aufgeregt gegen die muskulöse Brust, während sein Körper vor Aufregung zitterte.  

Mit einem letzten Blick überprüfte er, ob er alles hatte und ließ dann das ordentliche Zimmer hinter sich, in dem sich die Bücher zu hunderten stapelten. So leise wie möglich schloss er ebenso die Haustür hinter sich und sprang in die schwarzen Chucks. Seine geliebte Dunkelheit umhüllte ihn. Er nahm sich die Zeit, um den Kopf in den Nacken zu legen und die kühle Luft zu genießen. Die Geborgenheit der Nacht umhüllte ihn. Schenkte ihm Zuspruch und Mut.

Mit einem schnellen Gebet zu Gott, dass seine Eltern das Verschwinden nicht mitbekommen hatten, rannte er weiter zu der metallenen Garage, um das himmelblaue Damenfahrrad seiner Mutter zu holen. Wie sehr er es bereute, weder einen Führerschein, noch ein neues Fahrrad zu besitzen. Sein altes war gestohlen worden und ein neues konnte er sich nicht leisten.

Mühelos schwang er sich auf das Fahrrad und fuhr in die dunkle Welt hinein.  Er glich einen Schatten, der nur von den gelben Lichtstrahlen der Laternen gesehen wurde. Und all seine Sorgen wurden von der kühlen Brise der frischen Sommernacht verweht.

Amira wartete ungeduldig in der spaltbreit geöffneten Haustür. Sie war so erpicht darauf, ihm alles zu erzählen und vor allem zu zeigen. Gedankenverloren erinnerte sie sich zurück. Keine zwei Monate war es her, dass das rätselhafte Video aufgetaucht war und mit diesem die Magie. Und den Start ihres Lebenswerkes.

Es war ein normaler Dienstagabend gewesen, an dem die Vögel ihre letzten Lieder sangen, die Menschen mit einem kalten Bier in der Hand draußen saßen, das Wetter warm und das Leben das langweilige Leben war. Bis plötzlich ein einfaches Video erschien, welches alle Medienträger unterbrach. Selbst die ältesten Kabeltelefone in Form von Audio-Dateien. Alles, das mit der Welt verbunden war, spielte diesen kleinen Clip ab und jeder konnte es sehen und hören. Den schneeweißen Mann mit hungrigen, blutroten Augen. Seine Stimme tief, seine Worte schlicht und einfach. Mit gebrochenem Deutsch sprach er: "Wir werden uns erheben. Die Unterdrückung ist vorbei". Das darauffolgende Schweigen war lang und hielt auch dann noch an, nachdem die Geräte ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten.  

Es sollte keine drei Tage dauern, bis die Welt verstanden hatte, was die Worte bedeuteten und dass sich etwas geändert hatte. Amira glaubte schon am ersten Tag daran, dass die Magie nun existierte. Und zwar nicht nur in den Büchern und Filmen, sondern in der Realität.  

Vor allem in der Schule vertrat sie ihre Theorien über den Vampir mit den leuchtenden roten Augen, wenn man sie danach fragte. Denn zu Hause hörte ihr niemand zu. Sie war kein Mädchen das versteckt, was sie dachte, auch wenn sie extrem schüchtern war. So kam es das erste Mal seit Jahren, dass sie sich zu diesem einzigen Thema zu Worte meldete, wo sie doch so schweigsam war.  

Lennard bemerkte Amira erst am zweiten Tag. Ein paar seiner Schulfreunde hatten über das seltsame Mädchen mit den wilden Locken gesprochen. Voller Neugier wollte er sie ansprechen und ihren verrückten Geschichten lauschen. Es hatte ihn viel Mut gekostet, nicht nur auf sich Aufmerksam zu machen, sondern vor allen ihren Worten Gehör zu schenken und damit weiteren Schulgerüchten Brennstoff zu bieten - sie zum Teil zu bestätigen. In der kurzen Zeit hatte man viel über sie gelästert.  

Amira war Lennard nie zuvor aufgefallen. Niemand in der Schule hätte viel über sie erzählen können. Sie war nicht außergewöhnlich schön, eher ein bisschen pummelig und klein, noch außergewöhnlich intelligent. Sie war normal. Das einzig Abnormale an ihr war ihre Fantasie und den Glauben darin. Und dies war wohl der Grund, warum er sie angesprochen hatte.

Das Gespräch verlief kurz. Amira hatte zuvor nur von ihm gehört. Aus Erzählungen sollte er ein sportlicher Lesenerd sein, welcher heißer als erlaubt war. Auch wenn sie das anders sah. Zwar war er groß, muskulös und besaß stark maskuline Geschichtszüge, dazu war er sehr belesen, sein Wissen wirkte gigantisch auf sie, doch war er auch Menschenscheu und wies wenig Humor auf. Trotz seiner Beliebtheit, die nicht von seinem Wesenszug stammen konnte, und dem kurzen Gespräch über Vampire, schreckte Lennard sie nicht ab. Wie konnte er auch? Denn sie besaß kein Taktgefühl und war das absolute Gegenteil von ihm. Stattdessen reichte dem Mädchen die kurze Bekanntschaft, um ihn am darauffolgenden Tag, den dritten Tag, anzusprechen. Zu dem Zeitpunkt war die Existenz magischer Wesen, wie sie im Buche standen, bestätigt worden.

Mit pochenden Herzen und schweißgetränkter Kleidung stupste sie ihn an der Schulter an. Er hatte wie sie auf den Bus gewartet. "Du, ich habe da so eine Theorie. Würdest du mir helfen sie umzusetzen?" fragte sie. Kein Hey, Hi oder Hallo, sondern Du. Lennard mochte sie augenblicklich und am selben Tag sprachen sie die komplette Busfahrt über das Thema. Sie setzten sie sich selbst bei ihr zu Hause zusammen und arbeiteten ihre Theorie aus. An diesem Abend begann ihre gute Freundschaft, in welcher sie zahlreich schlaflose Nächte mit Recherchen, Sprachen und Mathematik verbrachten. Und die erst mit dem Tod enden sollte.

Schwer atmend erreichte Lennard das Backsteingebäude. Amira saß wartend auf der Treppe und sprang in demselben Moment auf, als sie ihn kommen sah. Ihre braunen Haare standen durcheinander ab und sie trug schon Schlafkleidung. Darüber schmunzelnd nahm Lennard sie in die Arme und versuchte dann ihre Locken zu richten. "Du siehst verschlafen aus", merkte er an. Jedoch strahlten ihre haselnussbraunen Augen voller Energie. "Ich bin hellwach und haben seit Stunden kein Auge zugetan", bestätigte sie seinen Verdacht breit grinsend, so dass tiefe Lachfalten entstanden. Sie faltete die Arme vor der Brust zusammen.  

"Sagst du", neckte er und stach ihr in die Seite. Leise quietschte sie auf, um ihn darauf gegen den Oberarm zu schlagen. "Also, Lenlen", begann Amira und behielt misstrauisch seine Hände in den Augen. Sie wusste, wie sehr ihn dieser Spitzname reizte und das tat es auch dieses Mal. Er hatte die Augen zu schlitzen verzogen. Rückwärts stieg sie die Treppe hoch und öffnete die schwere Haustür.  

Das Haus war ein schlichtes Zweietagengebäude aus den 80ern. Ihr eigenes Zimmer lag im zweiten Stockwerk. Eine einfach gehaltene Holztreppe führte zu diesem hinauf.  

So leise wie möglich schlichen die beiden die Stufen empor, wobei der vorletzte Treppenabsatz knarrte. In ihrem Zimmer angekommen schloss sie die Tür hinter Lennard und schaltete das Licht an. Warme, gelbe Lichtstrahlen durchflutet das blaue Zimmer. Sie legten die fürchterliche Unordnung offen. Überall lagen Klamottenhaufen verteilt und auf den Schreibtisch Schulsachen. "Okay, jetzt zeigt endlich", forderte er aufgeregt, ohne einen Blick auf das Chaos. Seine Finger zitterten vor Freude. Endlich, nach so vielen schlaflosen Nächten, würde seine Arbeit Früchte tragen.

"Aber raste ja nicht aus", flüsterte sie und ging in die Raummitte. Amira richtete all ihre Konzentration auf ihre bleichen Hände. Tief holte sie Luft und sprach laut die magischen Worte. Sie fielen ihr leicht. Die Wörter wirkten so fremd auf den Jungen, obwohl er selbst sie entdeckt hatte. Es war ein erbitterter Kampf gewesen, die richtige Formel aus Wörtern zwei verschiedener Sprachen sowie Mathematik zu bilden. Die Sprache war eine Mischung aus Latein und Russisch, geschrieben mithilfe des kyrillischen Alphabets. Doch wie sie die Silben aussprach, überraschte ihn. Er bereute es Augenblick, ihr die harte Arbeit überlassen zu haben. Stattdessen hätte er ebenfalls üben sollen.  

Er bereute dies nur noch mehr, als die kleine, rot-gelbe Flamme auf Amiras Handfläche erschienen. Mit einem breiten Grinsen blickte sie auf und erstarrte. Statt vor Freude loszujubeln, blickte der Junge sie mit hasserfüllten Augen an. "Lenlen?" fragte sie zaghaft. Die Flamme in ihrer Hand erlosch. Lennard erwachte aus seiner Starre und sah sie fragend an.  

"Alles ok?" Ihre Stimme war brüchig. Noch nie zuvor hatte Amira ihn so gesehen. "Ich war nur neben der Spur. Also das...", er zeigte auf sie. Sofort hielt sie die Luft an. "War der absolute Hammer! Bring es mir bei", ergänzte er lachend und umarmt das Mädchen stürmisch. Überrumpelt klammerte sie ihre Hände an sich und versuchte zu lächeln. Es glich einer Grimasse.

Sie bemühte sich einzureden, dass sie sich nur getäuscht hatte. Durch das Licht hatten vielleicht seine Augen nur so gewirkt oder er hatte einen plötzlichen Krampf.  

"Hast du nicht geübt?" fragte sie und wich einen Schritt zurück. Der Junge bemerkte es, versucht er es sich allerdings nicht anmerken zu lassen. "Naja nicht wirklich. Innerer Schweinehund und so", murmelte er verlegen und fuhr sich durch das ebenfalls braune Haar.

"Auf was wartest du dann noch?" rief sie lauter, als gewollt, auf und stemmte die Hände in ihre breite Hüfte. "Jetzt? Hier?" stammelte Lennard und blickte sich suchend im Zimmer um. Die Luft war auf einmal zu stickig, der Raum zu warm, die Kleidung zu eng. Er wollte nur noch hinaus, frische Luft atmen. Auf was hatte er sich bloß eingelassen?  

"Natürlich. Wann willst du es sonst lernen?" Ihr barscher Ton ließ ihn zusammenzucken. Obwohl sie Recht hatte, war seine Angst vor dem Neuen; dem Unbekannten, zu groß. Er wusste selbst, dass er alleine es niemals versuchen würde. Denn Lennard zählte zu seinem Unglück zu den Menschen, die das Unbekannte fürchten und nicht wie Amira, die sie mit Freude begegnete. Alleine die Magie zu erforschen, bereitete ihm höllische Angst. Sie nahm ihm die Luft zum Atmen und verwandelte sein Herz zu einem Presslufthammer.

Mit besorgtem Gesicht winkte Amira vor seinem bleichen Antlitz. Lennard schreckte zusammen und blinzelte dann verwirrt. "Hast du mir nicht zugehört?" fragte sie mit einem weiteren, eindringlichen Blick, welche ihn argwöhnisch musterte.  

"Sorry, ich war in Gedanken", erwiderte der Braunschopf und wischte den Schweiß seiner Hände an der Jeans ab. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie dieser entstanden war. Laut holte er tief Luft und sammelte seine Gedanken. Sie hatte Recht. Wenn er es heute nicht versuche würde, wann dann?  

"Dann mal los.”

2.

"Du musst es eher wie ein ‘Kch’ aussprechen", korrigierte Amira ihren besten Freund. Sie hatten fast die ganze Nacht hindurch geübt und doch konnte Lennard das Wunder noch immer nicht vollbringen. Dunkle Augenringe zeichneten sich in seinem gebräunten Gesicht nieder und lustlos müde lagen die Augen in den Höhlen. Seine Haare waren nicht wie sonst hoch gestylt, sondern standen wild ab. Erschöpft reckte er sich und blickte erneut auf den sauber beschriebenen Zettel.  

"Warum nutzen wir eigentlich die russische und lateinische Sprache?" fragte er abwesend. Obwohl er das Genie von ihnen beiden hätte sein müssen, schien sie so viel besser im praktischen Teil, dem Nutzen der Magie, zu sein. Dabei hatte er die anstrengend logische Arbeit geleistet. Und so kam es, dass er mit hochkonzentriertem Kopf immer wieder übte und versuchte, seinen Fehler zu finden, den er längst vermutete, aber nicht wahrhaben wollte. An mangelndem Talent konnte es nicht liegen. Zumindest glaubte er das.

"Du hast das doch entwickelt. Ich war von Anfang an für Deutsch-Englisch", entgegnete sie mit einem Schulterzucken und richtet ihre Konzentration auf das Essen vor ihr. Eine Hühnerbrühe mit gummiähnlichen Stücken von Fleisch.  

"Stimmt. Aber die Griechen haben schon damals die kyrillischen Buchstaben genutzt und ich bin mir sicher, dass hätte sonst so nicht funktioniert. Das russische Alphabet hat 33 Buchstaben. Durch die Zahl Drei, die Zahl des Vaters, Sohnes und des Heiligen Geistes und der Zahl Elf, eine Primzahl, teilbar. Die kleinste zweistellige Primzahl im Übrigen”, erwiderte er und begann hektisch herum zu gestikulieren. “Na und?” Gelangweilt verdrehte Amira die Augen. Sie bereute es unterdessen, ihn gefragt zu haben.  

“Und für Deutsch haben wir Latein, die tote Sprache, welche damals selbst das größte Imperium der Welt und viele bekannte Philosophen genutzt hatten. Bis heute werden in der Biologie und Medizin lateinische Wörter verwendet. Nimmst du dann also den ersten russischen Buchstaben und nimmst ihn hoch.” Genervt unterbrach sie ihn.  

“Ist ja schon gut. Fang bitte erst gar nicht mit so etwas an. Das dort keine vernünftigen Wörter stehen, zeigt doch, dass es schwierig genug ist. Ich würde es selbst nach dem 100 Mal erklären noch immer nicht verstehen.” Amüsiert grinste er auf und schüttelte den Kopf.  

“Und mit wem soll ich dann darüber reden?” “Erklär es leichter und du kannst es mit mir”, scherzte sie und lächelte zurück. Für das Mädchen machte das ganze keinen Sinn und sie wollte es auch nicht verstehen. Amira verglich es eher mit etwas Eingebildeten, das einem half. So wie ein Mantra, welches ein Betender nutzte um seine Energien Gedanken zu leiten. Trotzdem stand sie hinter ihm und zu seiner ‘Wissenschaft’.

Sie spürte seinen exzentrischen Blick auf ihr. “Aber was wäre, also rein hypothetisch gesehen; nun, vielleicht braucht man auch gar keine Formel. Das wäre auf jeden Fall viel praktischer", sagte Lennard verlegen. Das Ergebnis schämte ihn; seine Unfähigkeit. Allerdings setzte ihm auch der Schlafmangel zu. Die Frustration hatte schon längst Besitz ergriffen und so vergrub er verzweifelt sein Gesicht in den Händen.   

"Guck mal. Die Formel kannst du doch schon. Das ist der letzte Feinschliff. Du musst nur noch das mit der Magie lernen", versuchte seine Schulkameradin ihn aufzumuntern. Es wirkte und er hob seinen Kopf mit einem Lächeln, welches einer Grimasse ähnelte.  

"Willst du es trotzdem mal ohne Formeln ausprobieren?" fragte er noch immer errötet. "Nachher", antwortete sie und lächelte ihm zu. Amira würde es am gleichen Abend versuchen, wenn es ihn trösten würde. Etwas Besseres hatte sie sowieso nicht zu tun.  

Müde sah sie sich in der zu lauten Cafeteria um. Es fiel ihr schwerer, die zu schrillen Gespräche zu unterscheiden. Sie nahm nur noch ein Wirrwarr aus den verschiedensten Geräuschen als eine grauenvolle Musik war, die ihr leichte Kopfschmerzen bereitete.  

Das Albert-Einstein-Gymnasium war wie immer voll und laut. Der Geruch von fettigen Essen lag in der Luft und von überall klirrten Messer, die auf Teller trafen. Massen an Schülern hatten sich in den großen Raum gedrängt, verteilt an Tischen oder gereiht in einer Schlange. Wie viele andere saßen Amira und Lennard an einem sechseckigen Tisch, den sie jedoch nur für sich beschlagnahmt hatten. Denn ihr bester Freund konnte ebenso ein launischer Einzelgänger sein. So kam es, dass niemand sich zu ihnen setzen wollte und sie ungestört in den stickigen, überfüllten Raum reden konnten, ohne zu befürchten, jemand hörte zu.  

Still begannen die beiden zu essen, ihr Gespräch war beendet. Immer wenn ihnen die Themen ausgingen oder einer von beiden nachdachte, geschah dies. Doch war diese Stille für keinen unangenehmen. Einzig und allein konnte die Schulglocke das Schweigen unerwünscht unterbrechen, die keine 5 Minuten später ertönte.  

"Dann sehen wir uns noch nach dem Unterricht bei mir?" erkundigte sich Amira und griff nach ihrem Tablett. Das Läuten hatte augenblicklich den kompletten Raum in Aufruhr versetzt. "Klar", antwortete er und entfernte sich zügig ihrerseits. Er hatte es eilig. Lächelnd winkte sie ihm hinterher und ging dann ebenso ihre Wege. Er zum Englischunterricht und sie zum Kunstblock.   

Die restlichen zwei Stunden verflogen für Amira wie im Flug. So realisierte sie das Ende ihres Schultages erst durch das erlösende Läuten und den Abschlussworten ihres Lehrers. Lennard wartete geduldig, mit einem Buch in der Hand, am Schultor auf sie.  

"Was liest du?" fragte sie mit einem neugierigen Blick auf den dicken Wälzer. "Herr der Ringe", antwortete er und schlug diesen zu. Er fand es interessant, wie sie ihm begrüßte. Seitdem sie sich kannten, kam noch nie eine richtige Begrüßung ihrerseits, stattdessen stellte sie ihm Fragen oder erzählte über verrückte Theorien. Manche hätten dies als unhöflich abgetan, aber so funktioniert ihre Freundschaft. Keine dämlichen Begrüßungen oder Verabschiedungen. Und so mochte er es.     

"Heute bekommst du es hin", ermutigte sie den Jungen, während sie durch die heiße Kleinstadt liefen. Es war Ende August und das Wetter hatte es zu gut gemeint. Seit Tagen strahlte die Sonne unerbittlich auf die Menschen hinab. Die Straßen kochten, der Rasen war schon längst verbrannt und die Luft drückte. Es roch nach Schweiß und Hitze.  

Amiras wilden Locken klebten unangenehm auf der Haut und dem weißen Sommerkleid. Sie hatte sich ein Tuch aus dünnem Stoff und farbenfrohen Blumenmustern um den Kopf gebunden, das sie vor dem glühenden Stern schützen sollte. Still kniff sie die Augen zusammen und versucht den Jungen nehmen sich zu erkennen, welcher mit einer langen Jeans bekleidet war. Ihm interessierten die Temperaturen nicht. Es sah es nicht als angemessen an, in kurzer Sporthose zur Schule zu gehen. So blieb er der langen Jeans und dem Polohemd treu. Zu seinem Glück jedoch zählte er zu der Sorte Mensch, die nicht schwitzen und die das heiße Wetter auch nicht kümmern.  

Lennard hatte sein Blick geradeaus auf die Straße gerichtet. Die sturmgrauen Augen waren zu Schlitzen verzogen und seine Lippen zu einem schmalen Spalt. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, um seine Umgebung zu beobachten. Amira vermutete, dass er wieder in seinen genialen Gedankenreich war.   

Die Sonne schien unermüdlich weiter, so dass es einem Marsch durch die Hölle glich. Nach 10 Minuten des Schweigens erreichten sie das Backsteingebäude. Erleichtert atmete das Mädchen auf. Endlich weg von dieser Affenhitze! Für die letzten paar Meter beeilte sie sich und schloss erwartungsvoll die Tür auf. Prompt umhüllte sie die angenehme Kühle des Hauses.  

"Beeil dich", rief sie Lennard zu. Zügig kickte sie ihre Schuhe in die nächstbeste Ecke und lief weiter in die Küche.   

Der Junge trottete mit schlürfenden Schritten zum Haus. Die Sonne war ihm zu intensiv und das Licht zu grell. Als er den Flur erreichte, wartete Amira bereits mit zwei Gläsern kalten Wasser in der Hand auf ihn. Dankend nahm Lennard eins und trank es mit wenigen Schlucken leer, bevor es sich ebenso seinen Schuhen entledigte.  

Gedankenverloren gingen sie in ihr Zimmer hoch. In dem Raum war es stickig und die Sonne hatte vor Stunden hineingeschienen. "Verdammt", fluchte sie auf und lies sofort die Jalousien herunter. Am Morgen hatte sie vergessen, diese herunter zu lassen und das Fenster zu schließen. Sie war noch vollkommen müde und durcheinander gewesen.  

"Verschlafen?" fragte Lennard belustigt. Erneut hatte er das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, massierte sich jedoch dabei die Schläfen. Seine Kopfschmerzen ließen langsam nach. "Hm", murrte sie als Antwort und ließ sich müde in das Bett fallen. "Also ich habe gehört du willst mir ein wunderschönes Flammlein zeigen.” Schadenfroh grinsend faltete sie Hände vorm Gesicht und legte sie schützend vor ihre Augen.  

"Ich gebe mir Mühe", murmelte er. Sein Herz schlug sofort schneller. Ich schaffe das! Mit zitternden Händen stellte er sich wieder in die Mitte des Raumes und schloss seine Augen. Die Worte fielen ihm schwer, die Magie nur noch mehr. Er war ein Mensch der Theorie. Wie sollte er das dann schaffen? Mit einem Seufzen öffnet er die Augen und starrte auf seine leeren Hände. "Ami, ich glaube, ich schaffe das nicht".

Es ist wie mit dem Fliegen, dachte er, manche sind einfach nicht dafür geschaffen. Egal wie sehr sie es sich wünschen.   

“Nein! Du musst einfach mehr Vertrauen haben und ganz viel üben”, rief Amira enthusiastisch und sprang von ihrem Bett auf. Ihre Stimme bebte, ihre Augen funkelten wütend. Ihr fiel es schwer zu verstehen, warum er all das aufgeben wollte. Wobei er doch so hart gearbeitet hatte.  

Mit einem Kopfschütteln legte sie ihre Hände auf die rauen Finger Lennards. Ihr war eine Idee gekommen, wie sie ihn überzeugen konnte. “Glaube! Er kann Berge versetzen”, flüsterte sie und schloss die Augen. Verwirrt musterte er sie. Zuvor waren sie sich nie so nah gewesen und diese Nähe störte ihn; beunruhigte ihn nur noch mehr als seine Sorgen.

Tief atmete Amira ein und versteifte sich. Hoffentlich funktioniert es, dachte sie voller Erwartung. Aber das würde sie nur erfahren, wenn sie es probierte und so sammelte sie all die Wärme und Energie, die im Raum existierte und schloss sie in ihren kleinen Körper ein. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Hände. Los, hilft ihm.  

Lennard begriff schnell, was die angenehme Wärme, welche sich von Amiras Händen in seine ausbreitete und ihn überschwemmte, bedeutete. “Danke”, flüsterte er, schloss seine Augen und sprach die Formel. Einen kurzen Moment geschah nichts. Dann, ganz langsam, bildete sich ein kleines, leuchtendes Etwas. Das war also Magie; Energie, stellte sie fest, während sie ihn dabei beobachtete. Nichts, das Gott verleugnen und vernichten würde. Nichts Blasphemisches.  

Aus dem Leuchten entstand eine kleine Flamme, keine 3 Zentimeter groß und schwach. Doch sie existierte. Die alten Regeln galten nicht mehr. Die Physik war nun vollkommen neu erkundbar, die Chemie voller neuen Möglichkeiten. Wunder wie diese konnten verbracht werden, ohne dass sie Wunder mehr waren. Denn jeder konnte sie erschaffen. Kleine, kümmerliche Wunder wie jenes, das in Lennards Händen lag. So lange, bis sie zum Alltag wurden und dann keine Wunder mehr waren. Denn jeder konnte sie erschaffen. Und doch begriff sie niemand oder erschuf sie. War es die Ignoranz oder die Überheblichkeit der Menschen?

Schnell schlug Lennard seine Augen auf und konnte es nicht glauben. Er hatte Magie angewendet. All die Bücher, die er gelesen hatte. All die Formeln, die er errechnet hatte und die sie gemeinsam ausprobiert hatten. Er hat es geschafft.  

“Siehst du. Geht doch”, flüsterte das Mädchen vor ihm. Der dunkle Raum mit der Flamme zwischen ihnen hatte etwas Geheimnisvolles. Keiner von beiden wagte es, laut zu reden. Selbst wenn sie es wollten, konnten sie es nicht. Lennard würde es als ein Band oder eine Verbindung bezeichnen. Erst musste diese unterbrochen werden.

Mit einem Blick auf ihren besten Freund zog Amira ihre Hand zurück und die Flamme erlosch unverzüglich. Das Band war unterbrochen. “Jetzt musst du es nur noch alleine schaffen. Meditieren hilft dafür super”, flötete sie mit einem breiten Grinsen und schwang sich erneut auf ihren Lieblingsort zurück.

“Aber wie soll ich das schaffen?” In seiner Stimme schwang Zweifel und Frustration. Lennard erinnerte sie ein Wenig an ein bockiges Kind. Wenn etwas nicht so geschah, wie er es wollte, wurde er bockig und quengelnd. Dabei war er 19, dachte sie belustigt.  

Amira überschlug mit einem amüsierten Grinsen ihre Beine und beobachtete ihn bei seinen scheiternden Versuchen. “Ich habe 47 Tage gebraucht. Es dauert nun mal”, bemerkte sie. Ihr war klar, dass er es nicht in der heutigen und auch nicht in den darauffolgenden Nächten schaffen konnte. Seine Ungeduld überraschte Amira, sie war unverständlich. Er war doch der weisere und intelligentere von ihnen.

Lennards Gesicht versteifte sich und er ließ sich auf den Boden fallen. Nun war er nicht mehr das eingeschnappte Kind, sondern der wohlerzogene, stets gut gekleidete Junge, welcher seine Probleme vernünftig und bedacht anging.

“Wie oft und lange?” fragte er mit kühler Stimme. “Immer, wenn du Zeit hast. Bist du keine mehr hast. Konzentriere dich dabei nur auf dich. Lass dich von nichts stören”, antwortete sie begeistert. Er nickte und schloss die Augen. Sein laut rasselnder Atem hallte durch den Raum. Es gibt absolut nichts, dass ich nicht schaffen kann!

Bewunderungsvoll beobachtet Amira ihn mehrere Minuten, bis sie sich ihrem Smartphone widmete. Sie selbst konnte nicht weiter üben, denn sie war sich der Tatsache bewusst, sobald er es mitbekommen würde, könnte es ihm in seinem Training zurückwerfen und zu einem Motivationstief bei ihm führen. Es würde ihn wieder in ein bockiges Balg verwandeln. Denn niemand, den sie kannte, war weniger Herr über seine Gefühle und Emotionen.

Dafür widmete sie sich einem anderen Thema, dass die beiden nebenbei erforschten. Da sie beide kaum, wie in ihren Fall, bis keine Freunde besaßen, wusste sie auch nicht, wie viel der Rest über die Magie wusste. Dabei waren 3 Monate vergangen und doch wurde alles verschwiegen. Wurden zerfetzte Leichen wie die Opfer eines Werwolfes gefunden, brach man die Ermittlungen nach 1 Monat ab. Bei blutleeren Körpern waren es sogar 2 Wochen. Jeder schwieg über das Thema. Eine kleine Todesanzeige und nicht mehr.  

War es Ignoranz oder die menschliche Sturheit?

 

Drei Stunden vergingen, in welchen Lennard nur dasaß und meditierte, während Amira auf ihrem Handy spielte, nachdem sie schon nach der ersten Stunde ihre Nachforschungen beendet hatte. Wie immer erfolglos. Einzig und allein wurde eine Leiche in dem westlichen Wald gefunden; blutleer.  

Der Stundenzeiger der kleinen Uhr des Weckers schwang auf 5 Uhr. Zeitgleich wurde die Haustür aufgeschlossen und eine weibliche Stimme rief ein ‘Hallo’ hinauf. Amira hatte vollkommen die Zeit vergessen und sprang schnell auf. Der Junge regte sich jedoch nicht, denn sein Bewusstsein war an einen anderen, fremden Ort. Mit einem kurzen letzten Blick auf ihm, rannte sie zu der Treppe und rief eine Begrüßung zurück.

“Na mein Schatz. Wie war dein Schultag?” fragte die schlanke Frau sie, währenddessen sie die Stufen hinab lief. “Ganz okay. Nichts besonders. Lennard ist hier”, antwortete sie knapp und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Diese nickte knapp. Sie war eine stattliche, schöne Frau mit langem, gewelltem Haar und ebenso braunen Augen. Ihr Gesicht besaß hingegen schon viele Falten und schritt auf die 50 zu.

“In einer Stunde gibt es Abendbrot. Isst er mit?” “Keine Ahnung. Vermutlich, wenn es okay ist.” Das Gespräch verlief, wie sonst, kurz und so ging Amira zurück in ihr Zimmer. In diesem fiel ihr der unangerührte Stapel von Hausaufgaben auf. Bis sie Lennard zurückholen sollte, hatte sie für den Stapel voll Arbeit genug Zeit. Dabei wäre sie viel lieber an demselben Ort wie er. Die Oase des Geistes, vielleicht aber auch der Kern oder die Seele selbst. Amira wusste das nicht so genau. Nur, dass dieser Ort in ihr und jedem anderen existierte. Sie würde ihn auch wieder diesen Abend besuchen, so hatte es sich das Mädchen vorgenommen.

Laut gab sie ein Seufzen von sich und setzte sich an die Arbeiten. Langweiliges, unnötiges Zeug.

Für Amira gab es keine schönere Zeit als die Nacht und die damit verbundene Stille. Sie war ihre Lieblingszeit und so kam es, dass sich das Mädchen den ganzen Tag nach ihr sehnte. Nach der Dunkelheit, Kühle und Einsamkeit.  

Mit einem knackenden Strecken und einem tiefen Gähnen, das Sauerstoff in ihren Kreislauf brachte, stand Amira auf. Sie wollte in der heutigen Nach erst meditieren und dann hinaus gehen, in den Garten, um ihre Magie besser nutzen zu können. Es kribbelte ihr in den Fingern, das Feuer neu zu beschwören und es zu vergrößern. Sie vermisste das Gefühl, wie ein Süchtiger seine Erlösung.

Das Mädchen setzte sich im Lotussitz auf den Boden und schloss die Augen. Ihre Konzentration lag auf ihrem Bauch. Sammle all dein Qi. Spüre es, wie es durch dich fließt und dort, in der Mitte, sammle all die Wärme, all die Energie. Langsam ging Amira die Schritte in ihrem Kopf ab. Sie sah es. Das Licht ihrer Energie. Ein helles Leuchten wie das der Sonne, genau vor ihr. Aus Neugier streckte sie die Hand hinaus, wollte das Licht berühren, und fiel dann in dieses hinein. Es wurde immer greller und dann war sie auf einer Wiese. Ihre Wiese, die sie in ihrem Herzen trug. Die Oase ihrer Seele, ihr imaginärer Rückzugsort, welcher seit der Existenz der Magie real geworden ist. Der einzige Ort auf der Welt, wo sie sie sein konnte - frei und munter. Wo niemand sie verletzen konnte, denn es war ihr Eigentum, in dem sie die absolute Macht besaß.  

Die Sonne kitzelte Amira auf der Nasenspitze. Sie spürte das saftige Gras unter ihr, das wie immer in den kräftigsten Grüntönen wuchs, eine frische Brise wehte und verteilte ihren geliebten Blumenduft. Es herrschte vollkommene Stille, in welcher man das Gras hätte wachsen hören können. Kein sich bewegendes Lebewesen außer dem Mädchen selbst, existierte in dieser Welt.  

Über ihr lag der wolkenlose Himmel, darunter dominierte eine gigantische Tür ihr friedliches Reich. Amira hatte es zuvor noch nie gesehen. Langsam stand sie auf und ging inquisitiv auf die fremdartig metallene Tür zu. Das Gras strich ihr bei jedem Schritt über die Füße und Beine. Außer ihren Pyjama trug sie nichts.

“Nicht!”

Verwirrt blieb das Mädchen stehen und sah sich um, in der Hoffnung die Quelle der Stimme zu finden. Hatte sie es sich nur eingebildet oder tatsächlich eine Stimme gehört? Mit einem suchenden Blick blickte sie sich weiter um. Doch erkennen konnte sie niemanden und so konzentrierte sie sich erneut auf die Tür.  

Nun, als diese näher war, wirkte sie nicht mehr so, als bestünde sie aus irgendeinem ihr fremden Metall, sondern aus einer Mischung bestehend aus Sandstein, Granit, Gold und Platin. Der Zugang war reich verziert und besaß eine kleine Treppe, die zu den Türflügeln hinaufführte. Das Kunstwerk beeindruckte regelrecht die 17-Jährige. Solch etwas Schönes sah sie selten, in einer Welt aus Betongebäuden und lärmenden Autoschlangen.

Langsam lief Amira weiter auf das torähnliche Bauwerk zu. “Geh nicht weiter!” Dieses Mal war die Stimme lauter und bedrohlicher. Trotzdem konnte sie erkennen, dass die Stimme feminin und hoch war. Statt erneut stehen zu bleiben, strebte Amira weiterhin die Tür an. Sie wollte wissen, was hinter diesen steinernen und metallenen Pforten lag und woher diese Stimme kam. Was sie wollte.

“Kehre um!” Panischer. Das Mädchen schritt jedoch immer weiter auf die Tür zu, bis sie keine 10 Meter entfernt stand. “Warum?” rief sie laut. Sie blickte sich nicht erneut um, denn ihr war klar, was sie sehen würde. Nichts.

"Weil du das nicht sehen darfst”, antwortete ihr die unbekannte Stimme. Geht ja doch. “Warum?” fragte sie erneut mit provokantem Unterton. "Weil es für keinen Menschen zu sehen gedacht ist. Kehre um und komme nie wieder. Du bist zu schwach, um es überhaupt überleben zu können”. Verwirrt schaute Amira gen Himmel. Für keinen Menschen gedacht. Für den Teufel oder wen?

Misstrauisch musterte sie das Gebäude. Es strahlt zwar eine gewisse Macht aus, doch als gefährlich empfand sie diese alle Male nicht. Zumindest nicht genug, um das sie zu schwach sei, das zu überleben.  

“Du findest dort nur deinen Tod. Kehre um und komm nie wieder, Menschenkind”.

Verärgert schnaubte Amira auf, wandte sich aber ab und begann, auf ihren Fingernägeln zu knabbern. Wenn sie zu schwach war, würde es heißen, sie müsse nur stärker werden. Und das war ihr ursprünglicher Plan gewesen. Obwohl sie noch immer das starke Verlangen in sich trug, durch die Pforte zu schreiten, wie ein Toter gen Himmel, so wollte sie es mit voller Stärke und Lennard an ihrer Seite.

Es war ihre Leichtgläubigkeit, die ihr das Leben rettete.

Um der Versuchung zu widerstehen, trottete sie zurück zu ihren Ursprungsort. Wenn sie für einen nicht gedacht ist, was hat sie dann dort zu suchen? Die Tür ließ sie nicht los, faszinierte sie auf allen Ebenen. Irgendetwas musste dahinter sein und es war beeindruckend.

“Okay”, sagte sie und sah kurz zu der Tür, während sie lief. Sie strahlte voller alter Weisheit und Macht. Amira verglich sie mit einer Grabstätte eines alten, weisen Mannes, der das Unmögliche vollbracht hatte oder eine unfassbare Macht besaß und doch friedvoll war. Und irgendwann würde sie wiederkehren und hindurch gehen.

“Darf ich hier trainieren?” rief Amira laut, nachdem sie die Tür weit hinter sich gelassen hatte. Ihr war eine Idee gekommen, die sie versuchen könnte und ein Ort, welcher nicht zerstört werden konnte, kam ihr in diesen Moment recht. Vor allem, weil sie sich hier noch näher der Magie fühlte.  

Schnell huschten ihre Augen über den Himmel, jedoch antwortet die weibliche Stimme nicht. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte Amira sich schulterbreit hin und schloss die Augen. Ihr Atem verlangsamte sich und sie begann in eine dunkle Welt hinter den geschlossenen Lidern abzutauchen. So lange, bis sie ihre innere Ruhe gefunden hatte und vollkommene Leere herrschte. Erst dann konnte sie sie sehen.

Vor ihren inneren Augen bildete eine leuchtende Kugel, welche der Sonne ähnelte. Sie breitete die Arme aus und griff nach dem leuchtenden Etwas. Qi, Energie oder auch Magie. Jeder nannte sie anders. Es war auch die Magie, die sie fast jede Nacht hierher geführt hatte.

Amira füllte ihren ganzen Körper mit dem Licht. So viel, bis es wieder aus ihr heraustropfte und in den Weiten ihrer Seele verschwand.  

Voller Kraft schlug das Mädchen die Augen auf und konzentrierte sich auf das Licht in ihr. Sie leitete es in ihre Hände und spürte eine angenehme Wärme, die es hinterließ. Allein mit dem Bild eines Feuers vor ihrem inneren Auge erschuf sie eine Flamme, die größer, heller und mächtiger war, als jene vom vorigen Abend. Wild tanzte sie auf ihrer Handfläche. Einzig und allein nach dem Willen des Mädchens. Und so stoppte sie auch, als sie es wollte.

Amira konzentrierte sich auf ihre linke Hand, voller Neugier, ob es funktionieren würde. Sie stellte sich ein Abbild der Flamme, welche sie in der Rechten hielt, vor. Schwach und doch existent, bildete und formte sich eine Flamme. Auch wenn sie klein und zierlich war, alles andere als ihre Schwester, lebte sie.  

Vom Adrenalin überrumpelt schloss Amira erneut die Augen und konzentrierte sich auf ihren Körper. Ihr war eine noch verrückte Idee gekommen. Sie versuchte ihren Körper und die Energie in ihr zu spüren und zu sehen. Auf eine andere Art, als jemals zuvor. Und sie konnte es. Das weiche Fleisch und die harten Knochen, die warmen Blutströme, welche vom Herzen ausgingen und dessen Pochen. Jedes einzelne Haar und jede Einwirkung der Außenwelt. Jedoch war die Präsenz des Feuers nur noch stärker. Wie es sich bewegte und flackerte.

Das Mädchen stellte sich vor, wie die Flammen wuchsen und als sie die Augen abermals öffnete, waren sie es. Sie hatten an Größe und Intensität zugenommen. So, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Welt vor ihr und die eigene, innere Welt verschwommen. Wurden zu einer. Was sie sich vorstellte, das taten die Flammen.  Sie bewegten sich ganz nach ihrem Willen, ohne ihre junge Meisterin zu verletzen. Selbst, als sie diese zu flammenden Schwertern formte und ohne Angst in die Hand nahm. Stattdessen fühlten sie sich wie normaler Stahl an, ohne dabei deren Gewicht zu besitzen.

Darauf umschlang das Feuer sie, wie tanzende Drachen. Wild lodernden sie und das Mädchen mit ihnen, denn das Feuer war sie und sie war das Feuer. Sie waren verbunden und niemand hätte sie auseinanderbringen können.

3.

"Amira, aufstehen!” Erschrocken zuckte die Angesprochene zusammen und sah zu ihrer Mutter hinauf. "Was machst du da am Boden? Meditierst du?" fragte die brünette Frau verwundert. Argwöhnisch hatte sie eine Augenbraue hochgezogen und die Arme verschränkt.  

"Ähm ja. Schulprojekt. Aber anscheinend bin ich dabei eingeschlafen", log Amira verlegen. Die Röte schoss ihr augenblicklich in die Wangen, ihr Herz begann schnell gegen ihre Brust zu schlagen. Sie schluckte schwer.

"Okay. Dann wünsche ich dir mal viel Erfolg, meine Maus. Die Schule beginnt aber trotzdem in 15 Minuten. Beeil dich. Dein Vater könnte dich noch fahren.” “Okay.”

Amira stand auf und streckte sich. Die Gleichgültigkeit ihrer Mutter überraschte sie ein wenig, aber andererseits hätte sie damit rechnen können. Ihr ganzer Körper fühlte sich steif und verrenkt an. Anscheinend hatte sie die ganze Nacht meditiert und mit dem Feuer gespielt. Ob sie die Flammen auch hier ohne eine Formel rufen konnte?  

Mit einem Blick zur Tür bemerkte sie, dass ihre Mutter schon gegangen war. Sie spürte noch immer die enttäuschenden Augen auf ihr ruhen, gemischt mit dem falschen Lächeln und der vorgespielten Freundlichkeit. Wahrscheinlich war sie ein regelrechter Schandfleck aus Bianca Langfords Sicht, ihrer steifen Mutter, die nach dem perfekten Leben mit einer perfekten Tochter strebte. Doch das war sie alle Male nicht. Dessen war sich Amira im Klaren. Nein, sie war sogar schlimmer als nicht perfekt. Mit ihrem Geschwärme über Magie, die laut ihrer Mutter gar nicht existiere, und ihrem unreifen benehmen, glich sie einer dummen Gans. Großmutter würde ihre Mutter niemals werden. Ach wünschte sich ihre Mutter ein weiteres Kind, das nicht so verkommen und verzogen war und mit Sicherheit etwas im Leben erreichen würde.  

Vor allem letzteres bekam sie nicht nur oft gesagt, sondern auch zu spüren.  

Amira überprüfte den Flur mit schwerem Herzen und ging dann in ihr Zimmer zurück. Das obere Stockwerk war menschenleer, zu ihrer Freude. Ein erleichtertes Seufzen entflog ihren Mund, als sie die Augen schloss. Es dauerte keine 10 Sekunden, in denen sie sich konzentrierte und die Erinnerungen der letzten Nacht wachrief. Das Leuchten breitete sich vor ihr aus. Ohne zu zögern griff sie nach diesem und schloss es in ihr ein. Ohne eine Formel. Und auch ohne diese, erschuf das Mädchen eine wunderschöne, kleine Flamme. Allerdings gab sie ihr nicht einmal eine Sekunde der Bewunderung. Denn die reine Existenz des Feuers war Wunder genug für sie.  

Schnell schloss Amira die Hand und begann, sich für die Schule fertig zu machen.  

"Du glaubst nicht, was ich geschafft habe!" Verwirrt blickte Lennard von seinem Buch auf und musterte die Braunhaarige neben sich. "Nein", entgegnet er kalt, wie immer, wenn ihn jemand beim Lesen unterbrach. Aufgeregt sprang sie auf und ab. Amira hatte 20 Minuten vor der Tür bis zu dem Unterrichtsschlussklingeln gewartet. Einzig allein um seine Reaktion zu sehen. Er wird sich sooo freuen.    

Und doch tat er das nicht. Nein, stattdessen hasste er es, dass sie so viel besser in der Magie war. Innerlich stöhnte er auf, während sich sein Griff um das Buch verfestigte.

"Ich habe Magie ohne eine Formel angewendet" sprach sie die Nachricht aus, ohne dabei auf ihre Mitmenschen zu achten. Jedoch hörte ihnen auch niemand zu. Einzig und allein ein Klassenkamerad hob zum Abschied die Hand, doch Lennard tat es ihm nicht gleich. Es interessierte ihn nicht.

Stattdessen hielt er abrupt an. Es war also doch möglich. "Wie?" Er richtete all seine Aufmerksamkeit auf sie und lief langsam weiter, zu dem nächsten Unterrichtsraum. "Es ist eigentlich ziemlich einfach. Du kennst doch dieses Leuchten, oder?" Wild gestikulierte sie herum, aber Lennard verstand Amira trotzdem nicht und so kniff er nachdenklich die Augen zusammen. Er wusste nicht, wovon sie sprach. Langsam schüttet er verständnislos den Kopf.   

Wie sehr Lennard es satt hatte, zu warten und zu meditieren. Wie sehr er es als unfair empfand, dass sie so viel besser war. All seine Mühen, all seine Zeit. All das, um immer wieder und wieder zu scheitern und sie nur so mit Erfolgen glänzt.  

"Lenlen?" fragte Amira mit zögerlicher Stimme. Argwöhnisch musterte sie ihn. Er wirkte wie ein Fremder auf sie, so verbittert und wütend wie er erschien. Allerdings war es nicht das erste Mal. Sie kannte den Grund und dennoch hatte sie Angst, ihn darauf anzusprechen und zu verschrecken. Das Mädchen war es leid, allein zu sein.

"Alles okay. Ich habe nur einen beschissenen Morgen hinter mir", antwortete er mit einem engelsgleichen Lächeln, das nicht aufgesetzter sein könnte. "Als wäre nichts gewesen", murmelte sie und beschloss, ihm später über die letzte Nacht zu erzählen. "Was hast du gesagt?" fragte er. Prüfend begutachtete er aus neugierigen Augen.  

"Du bist nicht der Einzige mit nen beschissenen Morgen.” Amira tat es ihm gleich und lächelte aufgesetzt. "Weshalb?" Lennard misstraute ihrem Lächeln, wie sie seinem. Denn wie sie einst mal sagte, "sei die Schule kein Ort des Glückes" und so kam es, dass sie nur selten die Mundwinkel hob.

"Bin im Meditieren eingeschlafen und habe deswegen nen steifen Nacken". Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, legte sie ihren Kopf schief und ein lautes Knacken erklang. Laut lachte er auf und strich ihr freundschaftlich durch die Haare. "Das klang übel.”

"Ist es auch, aber hab selbst dran schuld. Lass uns nach der Schule treffen und üben" schlug Amira genauso lachend vor. Er ist wieder der Alte. "Okay. Ich habe aber heute bis zur Achten", entgegnete er. "Tja, ich hab nur bis zur Vierten. Soll ich dich abholen oder findest du selber den Weg?" scherzte sie. "Jeder Gang macht schlank", konterte er nur mit einem siegessicheren Blick. "Du bist gemein", murrte sie und stach ihm verärgert in die Seite, woraufhin Lennard nichts unternahm.

"Na dann, viel Spaß mit deinen restlichen sieben Stunden", verabschiedete sich Amira nach weiteren 5 Minuten und ging selber in die Richtung ihres Unterrichtsraumes. "Bis später", rief er ihr hinterher. Mit einem Lächeln bog sie in den nächsten Gang ein und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Das sonst so schüchterne, zurückgezogene Mädchen wusste nicht, wie sie ihrer Lehrerin erklären sollte, warum sie eine ganze Stunde verschlafen hatte. Ihr Herz begann schneller zu pochen und als hätte jemand die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht, war ihr nur noch wärmer. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, als sie vor der alten Holztür stehen blieb. Jedoch war sie selber an dieser Situation verantwortlich und das war ihr bewusst.

Langsam umschloss sie mit der linken Hand die warme Klinke und drückte sie hinunter, vor es zum Ende der Pause klingeln würde. Frau Eiser, eine 50jährige Frau mit grauem Haar und hängender Gesichtshaut, saß auf ihren Platz und sortierte Dokumente. Ihre Hände glitten geschickt über die Blätter, während ihren Augen immer wieder zu einem Text auf einem Blatt daneben huschten.

Mit schlürfenden Schritten ging Amira auf sie zu und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. "Guten Morgen, Frau Eiser. Es tut mir wirklich aufrichtig leid, dass ich erst jetzt komme. Ich habe verschlafen", murmelte sie und kratzte sich am Arm. Ihre Haut juckte und sie fühlte sich beobachtet. Als würde die ganze Klasse sie anstarren. Der Druck ihrer Finger nahm zu. Tadelnd blickte die ältere Lehrerin auf und prüfte Amira mit einem ernsten Blick.

"Es ist das erste Mal. So lange das nicht noch einmal vorkommt, kann ich darüber hinwegsehen", antwortete sie nach einem langen Schweigen. "Vielen lieben Dank". Amira kamen fast die Tränen und schnell eilte sie zu ihrem Platz, bevor es klingeln würde. Das unangenehme Gefühl hatte nicht aufgehört.

Warum hatte sie bloß verschlafen? Selbst die Wecker hatten sie nicht geweckt. Wollte ihr Gott etwas damit sagen? Das es etwa falsch war?

Schnell schüttelte sie den Kopf und stürzte sich verärgert über sich selbst auf ihre Aufzeichnungen. Ein Glück ist der Tag kurz.

Der Tag verlief sehr langsam und ziehend für Lennard. So saß er im letzten Unterrichtsblock mit hängendem Kopf auf den harten Stuhl und sehnte sich nach nichts mehr als dem Ende der Stunde. Sein Sitznachbar hatte schon nach dem ersten tadelnden Blick seinerseits den Mund gehalten und so langweilte er sich zu Tode. Kurzzeitig dachte er darüber sogar nach, ein Hörbuch nebenbei zu hören. Jedoch verwarf er schnell wieder den Gedanken. Es gehörte sich einfach nicht. Gelangweilt trommelte er mit den Fingern auf den Tisch und knabberte an seiner Lippe.

Der Gedanke die Magie erneut zu ersuchen, trieb seine Vorfreude ins unermessliche. Jede weitere, verschwendete Sekunde raubte ihm den letzten Nerv. Und das, obwohl er sich bewusst war, dass er heute erneut scheitern würde. Aber davon wollte Lennard nichts hören.

Die Klinge läutete klirrend, wie Metallschalen die ineinander fielen. Erleichtert stand er auf und fühlte sich augenblicklich leichter, aber auch wacher. Er schnappte sich seine Sachen und verließ fluchtartig den Raum. Genug Zeit hatte er in dem alten Gebäude verbracht.

Am Tor wartete, wie er es vermutet hatte, Amira. Sie war auf den Bildschirm ihres Smartphones fixiert, den Rücken an den Zaun gelehnt und achtete nicht einmal auf die Menschenmenge, die zu Massen hinausströmten. Schließlich kannte sie nur Lennard. Und auch als er vor ihr stand, bemerkte sie ihn nicht. Lieber spielte sie ein Spiel und wartete darauf, dass er sie ansprechen würde. Leise holte Lennard ein Buch heraus und legte es ihr auf den Kopf.

"Ließ lieber so etwas, als deine Zeit mit dämlichen Spielen zu vergeuden", begrüßte er sie grinsend. Verwirrt sah Amira auf und fing das herunterfallende Buch auf. Ihr Blick überflog den Titel.

"The End of an Era?" grummelte sie. "Fantasy", entgegnete er und sie widmete sich still dem Klappentext. "Klingt interessant", murmelte sie schlussendlich und schlug die erste Seite auf. "Ließ es. Besser als an dein Handy Zeit zu vergeuden. Ich habe noch viele andere Bücher zu Hause", entgegnete er. "Danke.” Lächelnd sah sie auf und setzte sich in Bewegung. Das Buch musste sie dabei wieder zuschlagen.

"Heute schaffst du’s aber", versuchte Amira das lange Schweigen zu brechen. Lennard schwieg resigniert. Misstrauisch beobachtete sie ihn von der Seite, während sie munter neben ihm herlief. Es schien für sie, als würde er wissen, dass er scheitern würde, aber er es trotzdem versuchen würde. Freiwillig, ohne dass sie ihn dazu zwingen müsste.

"Natürlich. Schließlich kann ich alles", scherzte er nach einer weiteren Minute der Stille. Tief atmete Lennard ein und strafte die Brust. Ja, heute werde ich es schaffen. Er wusste es besser.  

Lachend stupste sie ihm in die Seite und sah die Straße hinauf. Die Sonne schien heute schwächer als die Tage zuvor, allerdings flimmerte die Straße noch immer. Der Asphalt gab einen unangenehmen Geruch von sich und der Himmel war wolkenlos. Wie lange wohl der Sommer so heiß bleiben würde?

Still liefen sie nebeneinander her. Amira bewunderte jeden einzelnen Laden an denen sie vorbei liefen, solche wie Tante Emmas Schmökerecke oder ein typischer Blumenladen. Und so vergaß das Mädchen schnell, dass sie ihm noch etwas erzählen wollte.  

Bei Kaufland holten sie sich noch Kekse, welche sie bei ihr im Zimmer essen wollten. Lennard dachte den ganzen Weg über die verschiedenen Möglichkeiten nach, ebenso Magie erlernen zu können und das so Zeitnah wie möglich. Er verstand nicht recht, wo sein Fehler lag.    

Das Backsteingebäude in der Karl-Marx-Straße lag ruhig und verlassen da. Amira erwartete regelrecht die angenehme Stille, welche von dem Hause ausging. Ihre beiden Elternteile waren wie immer arbeiten, so dass sie das Haus für die nächsten Stunden für sich hatten und ungestört üben konnten. Mit einer Flasche Cola gingen die beiden in ihr Zimmer hinauf. Der Raum war dunkel und kühl. Kein Sonnenstrahl voll Licht oder Wärme hatte sich durch die Jalousie kämpfen können. Amira zog diese hoch und machte es sich augenblicklich danach auf ihrem Bett bequem.

"Also, was willst du machen?" fragte sie und öffnete die Flasche. Klebrige Tropfen spritzen gegen ihre Hand und das vertraute Zischen erklang. Zufrieden trank sie das braune Zuckerwasser und richtete dann ihre Konzentration auf ihn. Der Zucker wirkte fast zeitgleich. Amira fühlte sich gleich viel aufgeweckter und frischer. Nun konnte auch sie sich voller Energie auf sein Vorhaben stürzen.

"Ich weiß nicht recht. Zwar wäre es irgendwie cooler etwas anderes zu versuchen, als zu meditieren. Aber ich weiß nicht was", antwortete Lennard mit einem bedrückten Blick auf den Boden. Gedankenverloren knetete er seine Hände. Ihm fiel überhaupt nichts ein, dass seine Lage verändern könnte. Nachdenklich musterte Amira den deprimierten Jungen dann grinste sie auf. Ihr war eine vollkommen verrückte Idee gekommen.

"Tja, ich schon. Zwar habe ich es noch nie mit Luft versucht, aber was wäre, wenn du statt dich auf das erschaffen eigenen Feuers auf das abwehren davon konzentrierst. Etwas Aktiveres", schlug sie vor und stütze ihren Kopf ab. Ihr gefiel der Gedanke. So musste sie nicht stundenlang herumliegen und Löcher in die Luft starren und er konnte etwas Neues ausprobieren.

"Statt mit Feuer Luft, richtig?" fragte er. "Ja, sonst würdest du dich zu sehr verletzen.” Grinsend sprang er auf und ging auf sie zu. Ihm gefiel die Idee. Seine Hände schmerzten auf Amiras Schultern, als er auf sie schlug. "Du bist genial. Lass es uns probieren". Seine Augen glänzte voller Euphorie. Freudig tat sie es ihm gleich und stellte sich bereit vor ihm. Es freute sie, dass sie ihn so aufmuntern konnte. Vor allem aber konnte sie auch mehr über die Magier lernen, statt wie zuvor, sinnlos herumzusitzen oder Hausaufgaben zu erledigen. Die vier Elemente würden schneller ihr gehören, als sie damit gerechnet hatte.

"Ich bin bereit", sagte Lennard, nachdem er sich in die Mitte des Raumes schulterbreit aufgestellt hatte. Seine Hände lagen zu Fäusten an den Seiten, sein Körper war angespannt und seine Augen leuchteten voller Enthusiasmus.

"Gib mir noch einen Moment", antwortete sie und stellte sich vor ihm. Langsam atmete Amira tief ein und schloss die Augen. Sie verbannte all die Geräusche, jedes einzelne Gefühl; ihre komplette Umwelt. Vor ihr tauchte das gewohnte Leuchten auf und ohne zu zögern, griff sie nach diesem, sperrte es in sich ein. Die gewohnte Wärme breitete sich aus und sie spürte die Energie, welche durch ihren Körper pochte. Doch statt sie nur auf ihre Hände zu leiten und zu konzentrieren, umhüllte sie ihre Gestalt damit.   

Sie öffnete nicht ihren Augen, sondern konzentrierte sie sich auf ihre Umwelt. Wollte sie spüren, sehen und hören. Sie musste alles sein und alles kontrollieren. So wie die Nacht zuvor.  

Langsam hob sie ihre Hände zu einer leichten Verteidigungsstellung und strich dann mit ihnen durch die Luft. Dabei schob sie sich mit den Füßen über den Boden zu einer Umdrehung, in welcher sie mit der Magie die Luft im Raum sammelte. Und obwohl sie nichts sah, sah sie. Sie spürte ihre Umgebung. Jedes kleines Staubkörnchen und jeder Herzschlag, ob nun von ihr oder Lennard.

Als sie wieder vor ihm stand, mit dem Gesicht zu ihm und die Umdrehung vollendet hatte, zog sie schnell ihren Arm nach vorne, wie eine Klinge, bevor sie zum Stillstand kam. Wie erwartet traf die gebündelte Luft den Jungen. Sie erfasste ihn mit voller Wucht, so dass er schmerzvoll gegen die Wand flog. Der Sauerstoff wurde aus seiner Lunge gepresst und keuchend blieb er auf den Boden mehr liegend, als sitzen.   

Amira benötigte einen Moment, um zu verstehen, was geschehen war. Ihr blieb der Atem weg und mit großen Augen konnte sie nur auf Lennard hinabblicken. "Oh mein Gott, alles ok bei dir?" rief sie entsetzt und stürmte zu ihm. Mit schwachen Händen griff sie nach seinem Gesicht. Zitternd, so dass sein Kopf ihr fast wieder aus den Fingern glitt, suchte sie an seinem Hinterkopf nach einer Platzwunde, jedoch besaß er keine. Zu ihrem Glück.

Lennard gab ein gequältes Stöhnen von sich. Flatternd schlug er seine Augen auf. Irritiert versuchte er seine Umgebung zu erkennen. Ihm war leicht schwindelig und ein unangenehmes Pochen ging von seinem Hinterkopf aus. Sein Kopf fühlte sich wie in Watte gewickelt an. Die Welt drehte sich für ihn und alles war verzerrt. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was geschehen war. Wo er überhaupt war.

"Lennard?" fragte Amira erneut und beäugte ihn besorgt. Sie fühlte sich abgrundtief schlecht dafür. Nur wegen ihr war er nun verletzt worden. Nur weil sie etwas Neues ausprobieren wollte. Weil sie es nicht mehr abwarten konnte; das Kribbeln in ihren Fingern nicht zurückhalten konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen und ein leises Wimmern entfloh ihrem Mund.

"Alles okay", brummte er und schüttelte schnell den Kopf. Er wollte das unangenehme Gefühl der Watte loswerden, vergebens. Schwankend stand er auf, gleichwohl es eine ungute Idee war. Mit dröhnendem Kopf lehnte er sich an die Tür. Sein kompletter Körper zitterte voller Adrenalin und den Schmerz nahm er nur dumpf wahr.

"Sicher?" Amiras Lippen zitterten und warme Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Beine glichen Wackelpudding. Sie fühlte sich schrecklich für das, was ihm widerfahren war. Was sie ihm angetan hatte.  

"Natürlich", antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. Er bemerkt ihre Tränen, die ihr zahlreich über di geröteten Wangen liefen. Vorsichtig strich er diese mit den Daumen weg. Dann drückte er sich von der Wand ab, um sie in die Arme zu nehmen. Das erste Mal, seit sie sich kannten. Amira drückte sich fest gegen ihn und genoss die Wärme und Nähe. Sie mochte seinen leicht süßlichen Geruch mit der leichten Würze. Die Umarmung munterte sie umgehend auf, die Tränen versiegten.

Still standen sie so Minutenlang, bis sich Lennard löste und sie erneut aufmunternd zulächelte. "Es ist wirklich alles ok.” Mit den Fingern strich er ihr erneut über die Wange, bevor er zu ihrem Bett ging und sich auf dieses setzte. Zwar drehte sich noch alles leicht um ihn, allerdings fühlte er sich schon viel besser.  

"Es war eine selten dämliche Idee", sagte sie stattdessen und drehte sich zu ihm um. "Gar nicht. Es war schön mal etwas anderes auszuprobieren", entgegnete er und griff sich an seinen Hinterkopf. Unter den Haaren spürte er die wachsende Beule.

"Aber ich habe das noch nie zuvor ausprobiert. Es war dämlich. Mir hätte klar sein müssen, dass das nach hinten losgehen hätte können, was es ja auch ist. Schließlich konnte ich es nicht kontrollieren", murmelte sie und senkte beschämt den Kopf. Ihre wilden, braunen Locken fielen ihr dabei ins Gesicht, so dass er dieses nicht mehr sehen konnte. Ein kleines Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Sie war süß, wenn sie sich schämte.

"Es geht mir gut. Und hey, das hat gezeigt, dass meine genauso dämlichen Ideen noch schlimmer ausarten hätten können.” Er zwang sich zu einem Lächeln und sah sich nach der Flasche Cola um. Als er sie fand, schnappte er sie sich und trank mehrere gierige Schlucke daraus.

"Aber es ändert doch nichts an der Tatsache, dass du", begann sie und blickte auf. "Nein, es ist okay", unterbrach er sie und verschloss das Getränk. "Mir geht es gut und ich will jetzt nur noch meditieren", lachte er und rutschte vom Bett auf den Boden hinab.

"Sicher, dass es dir", setzte sie an, doch er unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. "Sicher.”  

   

4.

Still saßen Lennard und Amira in der überfüllten Cafeteria, welche dieses Mal nach Fisch stank. Die Schule dachte sich jeden Tag neue Ideen aus, wie sie am besten die Schüler foltern konnten, stellte Amira fest und stach in ihrem frittierten Fisch herum. Der Junge versuchte erst gar nicht, das Essen herunter zu würgen. Lieber beobachtete er sie dabei und trank sein Wasser.  

Seit dem vorigen Abend, nachdem Unfall, hatte er starke Kopfschmerzen, die in der Schule nur noch schlimmer wurden. Jedes laute Geräusch stach in seinen Ohren und jede schnelle Bewegung an seinen Schläfen. Die Cafeteria war der falsche Ort für Lennard. Allerdings würde er lieber bei ihr, als seinen Freunden sitzen, die sowieso nur komischen Mist anstellen würden. Er hing allgemein nicht gerne mit ihnen ab.

Müde spielte Lennard mit der Flasche herum und driftete ab.  

“Du siehst wirklich fertig aus. Wie viel hast du heute Nacht geschlafen?” fragte Amira besorgt und sah von ihrem ‘Essen’ auf. “Nicht viel”, antwortete er geistesabwesend. “Wie viele Stunden?” Genervt hob er seinen Kopf und sah sie an.  

“3 Stunden vielleicht.” Sein barscher Ton überraschte das Mädchen, schreckte sie jedoch nicht ab. Sie war es gewohnt, dass er manchmal so bissig war, wenn er mal wieder sehr wenig Schlaf abbekommen hatte. Vermutlich hing das ebenfalls mit ihrem gescheiterten Versuch zusammen. Lustlos ließ Amira die Gabel fallen.

“Hast du denn noch lange Unterricht?” fragte sie und versuchte somit Smalltalk zu führen. Allerdings war sie wirklich schrecklich in so etwas. “Noch 4 Stunden”, murrte er und ließ seinen Kopf hängen. Seine Motivation lag gefühlt tot im Keller und würde auch nicht in 3 Tagen wiederauferstehen.  

“Noch so lange?” versuchte sie es weiter. “Naja, ich schreib doch bald meine Prüfungen. Es ist doch nur noch ein halbes Jahr hin”. Allein bei dem Gedanken verlor er seinen letzten, nicht existenten Rest Motivation.  

“Ach ja, stimmt. Du bist ja schon im letzten Jahr”, murmelte sie und senkte ihren Kopf. Viel lieber wäre Amira mit ihm in einer Klasse, als mit ihren eigenen ihr fremden Klassenkameraden. Sie verstand nicht recht, warum niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Lag es daran, dass sie nichts trank und auch kein Fan von Marihuana war? Oder doch eher, weil sie zu schüchtern gegenüber anderen war und man sie für verträumt und komisch hielt? Vielleicht lag es auch an den vergangenen Gerüchten, die vor Jahren entstanden waren.  Doch egal an was es lag, das Mädchen hatte sich damit abgefunden.

“Wie geht es deinem Kopf?” fragte Amira. Sie fühlte sich immer noch schuldig und schlecht für den gestrigen Tag. “Beschissen. Aber da muss ich durch”, brummte er und begann ebenfalls, in seinem Essen herumzustochern. Er besaß keine Interesse an diesem, sondern wollte sich nur damit ablenken.  

“Und was wirst du heute machen?” “Schlafen und vielleicht trainieren”, entgegnete Lennard. Laut seufzte Amira auf und schob ihr Essen beiseite. “Ruhe dich aber schön aus, ja?” Sie zwang sich ein Lächeln auf, in welchen sie zu ihm aufsah und dann das Buch von ihm herausholte. Es war für sie das erste Mal, dass die Stille für sie unangenehm war.  

“Klar”, antwortete Lennard. Er fand Trost in der Tatsache, dass sie sein Buch las. Denn so könnten sie vielleicht irgendwann über Bücher, seiner wohl größten Leidenschaft, fachsimpeln.  

Suresh Custos war das, was man einen Bad Boy nennen konnte. Er hatte einen ansehnlichen, aber nicht gerade guten Ruf auf der Schule. Mit dem dunklen, wilden Haar und seinen protzigen Muskeln hatte er so manches Mädchen schon ins Bett bekommen und viele weitere warteten auf ihn. Mit Scharfsinn und einer ununterbrochenen Aufmerksamkeit gehörte er zu den Klassenbesten, obwohl er diesen Ruf ganz und gar nicht gut hieß.  

Im Ganzen konnte man sagen, Suresh Custos bestand ein erfolgreiches Leben bevor, welches vor allem durch den Einfluss seines Vaters ermöglicht wurde. Der Familie Custos gehörten große Ländereien und eine gut florierende Metzgerei, die weltweit bekannt war. Er war der älteste, noch lebende Sohn des Familienoberhaupts.

Würde jemand Fragen wie er so sei, so konnte man im groben sagen, er gehörte zu der Sorte Mensch, mit der man nichts zu tun haben sollte, war einem sein Leben oder seine Zukunft wichtig. Schließlich waren Probleme sein stetiger Wegbegleiter und Prügeleien sein bester Freund.  

Und so kam es, dass Suresh verwundert aufsah, als eine kräftige Hand ihn an der Schulter packte. Die emotionslosen Augen Lennards durchstachen ihm. Fast schon überkam ihn ein kalter Schauer, jedoch schüttelte er nur den Kopf und ließ damit die Gefühlsregung an sich abprallen. Sein Interesse glitt einen kurzen Augenblick zu seinen Klassenkameraden. Er spürte ihre neugierigen Blicke, die wie Mückenstiche auf seiner Haut zwickten. Wütend funkelte er sie an, jeden einzelnen direkt in die Augen, und wendete sich erst dann an den naiven Jungen. Im Hintergrund griffen die meisten, mit Ausnahme seiner Freunde, ihre Taschen und suchten das Weite. Es war keine schlaue Idee, ihn zu provozieren.  

„Was willst du?“ fragte er dünkelhaft. Voller Arroganz hob er den Kopf, um Lennard ansehen zu könne. Die Arme verschränkte er vor der Brust, ohne überhaupt die Hand losschütteln zu müssen, denn der leichtgläubige Junge vor ihm zog sie automatisch zurück. Lennard kannte Suresh, wie auch dieser den anderen kannte. Wer auch nicht? Allerdings nur vom Sehen. Nie zuvor hatte es Suresh interessiert, denn Lennard war ein Bücherfanatiker und die waren in seinen Augen nerviger als die Lehrer selbst. Sie teilten sich ein paar wenige Kurse, mehr aber auch nicht.  

„Ich weiß was du bist.” Die Worte hätten den Jungen hart treffen sollen, jedoch taten sie es nicht. Langsam setzte er ein Lächeln auf und legte den Kopf schief. „Wie bitte?“ „Du hast mich schon verstanden, Werwolf“, knurrte dieser.  

“Raus!” Aggressiv bellte Sureshs Stimme durch den Raum und vertrieb damit all seine Freunde. Sie wussten, wann etwas nicht für ihre Ohren gedacht war. Denn ein weiterer Ruf von ihm war, dass er viel mit illegalen Organisationen aller Art zu tun hatte.

Unerwartet wurde der ‘Bad Boy’ gegen die Wand geschoben. Lennards Augen schimmerten gefährlich nah vor seinen, neben seinem Kopf stütze der linke Arm und versperrte ihm damit jede Fluchtmöglichkeit. Schnell fing er sich, um darauf aus vollem Halse loszulachen. Suresh nahm den fragenden Blick des Jungen war, welcher inzwischen mehrere Schritte zurückgewichen war. Mit einem Kopfschütteln verstummte er. Ist dieser schwache Junge wirklich so bescheuert? Niemand hatte ihn gesagt, was für ein Narr dieser Lennard war, welche doch angeblich solch ein Genie war. Ob nun in Wissenschaften, Sprachen oder sogar Sport.    

„Hat dir deine Mommy nicht beigebracht, dich nicht mit Größeren anzulegen? Du kommst also zu mir, schubst mich gegen die Wand und behauptest dann, ich sei ein Werwolf. Was wäre, wenn es wahr wäre? Was würdest du dann tun, bevor ich die in tausend Stücke reiße?“ Erneut verschränkte er die Arme und musterte ihn. Spott glänzte ihn seinen Augen, das Lächeln überheblich.

Lennard ließ sich allerdings auch nicht einschüchtern. Mit zusammengekniffenen Lippen warf er die gleichen Blicke zurück. Was er tun würde? Nun, dass wusste er. Er spürte es.  

„Das.” Vor seinem inneren Auge tauchte ein Licht auf und er griff danach. Umwob damit seinen Körper. Die plötzliche Energie überströmte Lennard, ließ ihn überschwänglich werden. Mit seiner reinen Gedankenkraft erschuf er eine kleine Flamme, keine 10 Zentimeter groß. Sie war sein Ass, mehr besaß er nicht. Größer würde sie nicht werden. Es war Leichtgläubigkeit, doch sie funktionierte.

Erstaunt riss Suresh seine Augen weit auf.  

Magie. Dieser Vollidiot beherrscht wirklich Magie! Erstaunt sah er zu Lennard auf. Er war wohl doch nicht auf den Kopf gefallen, aber ob der Junge lange leben würde, war eine andere Sache.

Suresh setzte sein Pokerface auf, straffte die Schultern und schloss den Mund. Seine eigene Reaktion beschämte ihn, aber er war Suresh Custos. Er würde nach seinem Vater eines der größten und mächtigsten Rudel der Welt leiten. Er würde zu dem hohen Magierrat gehören. Niemand würde es auch nur wagen, sich über ihn lustig zu machen.  

„Allerdings würden dir die Flammen trotzdem nicht das Leben retten. Zuvor würde ich dich in viele Teile gerissen und gefressen haben.” Suresh war jedem überlegen. Der Hohn verzog erneut seine Lippen zu einem gehässigen Lächeln, welches nur so vor Selbstvertrauen und Überheblichkeit strotzte.  

„Wer weiß, vielleicht beherrsche ich auch noch mehr, andersartige Magie“, entgegnete Lennard nur. Langsam schloss er seine Hand, um sich vollkommen auf sein gegenüber konzentrieren zu können.  

„Respekt. Du kommst nicht aus einer Magierfamilie, oder?“ Suresh interessierte die Drohungen des Jungen nicht. Schlussendlich war er auch nur ein unerfahrener Schüler, der etwas gelernt hatte, wovon er noch nicht einmal wissen durfte. Das würde seinen Vater ganz und gar nicht gefallen.  

„Nein. Die Magie gibt es ja erst seit circa 3 Monaten“, antwortete Lennard. Suresh musste augenblicklich fast laut loslachen. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Der junge ‘Magier’ wusste absolut nichts über die magische Welt und war somit auch alles andere als eine Gefahr. Vielleicht konnte er sich so vor einer Unterhaltung mit seinem Vater drücken. Entweder der Junge starb demnächst, wobei er sich sicher war, oder sein Vater würde selber darauf stoßen.

„Du weißt nicht wirklich viel über die magische Welt, oder?“ Ein breites Grinsen bildete sich auf seinen vollen Lippen.  

„Nein, aber du. Deswegen bin ich hier. Ich will, dass du mir alles erzählst.” „Okay. Aber merk dir eins. Du hast mich weder herumzukommandieren noch zu unterschätzen. Ich will als Ausgleich deine Geschichte hören.”

„Einverstanden.”

Amira wartete mit einem Buche in der Hand am Tor. Der Wind wehte eine angenehme Brise durch ihr Haar und die leisen Gespräche von Schülern herüber. Nicht weit entfernt schien auch jemand zu rauchen. Es war ein wolkiger, nicht ganz so heißer Tag als die vorigen. Dieser Sommer war ein langer Sommer gewesen. Mit vielen Waldbränden und kranken Menschen. Die Seen hatten viel Wasser verloren, der Rasen war überall verbrannt und eine kleine Dürre hatte geherrscht, welche die Nahrungspreise leicht erhöht hatte.

Obwohl ihr Lennard gesagt hatte, dass er heute direkt nach Hause gehen würde, wollte sie noch ein wenig mit ihm reden und auf ihn achtgeben. Vielleicht stürzte er auf dem Nachhauseweg oder etwas anderes passierte ihm. Schließlich war sie der Grund dafür und deshalb wollte sie wollte ihm auch entgegenkommen; wenigstens etwas für ihn tun. Selbst wenn sie nur auf ihn aufpasste.  

“Auf wen wartest du?” fragte Lennard mit emotionsloser Stimme. Amira glaubte, dass es ihn verwunderte, auch wenn sie es ihm nicht ansah. Sie hoffte es. Prickelnd und unangenehm spürte sie seinen Blick. Manchmal kam Amira zu dem Entschluss, dass er einfach nur vergessen hatte, wie seine Gesichtsmuskeln funktionierten. So wie jetzt. Statt das er miesepetrig war.  

“Ich wollte dich ein Stück begleiten”, antwortete die Siebzehnjährige verlegen und strich sich durch das braune Haar. Dann legte sie mit feuchten Händen das Buch zurück in die Tasche. Ihre Nervosität ließ ihr das Herz unangenehm gegen die Brust pochen und ihr wurde unangenehm warm. Ob er sie dafür hassen würde?

Ihm entging nicht, wie ihre Hände zitterten. Oft fragte Lennard sich, ob sie eine soziale Angststörung besaß. Darauf hatten ihn auch schon paar seiner wenigen Freunde, für ihn waren die meisten nur Bekannte, angesprochen und schließlich hing er mit dem wohl ´größten Opfer der Schule´ ab. Allerdings hatte er sie nie gefragt. Denn es war ihr Problem, statt seines.  

“Das brauchst du nicht”, entgegnete er mit verbissener Miene. “Aber ich will. Ich mein schließlich bin ich an deinen Kopfschmerzen schuldig und irgendwie hege ich den Verdacht, dass du eine Gehirnerschütterung hast. Stell dir doch mal vor, wie du einfach auf der Straße umkippst und ein Auto dich überfährt.” Die Sorgen waren ihr in die dunklen Augen geschrieben. Gequält blickte sie zu ihn auf und hoffte auf ein Ja.

Laut Seufzte er auf. “Na gut. Aber nur bis zum Industriegebiet. Schließlich musst du auch nach Hause und ich möchte noch ein wenig Musik hören und nachdenken”, gab er nach und schenkte ihr ein Lächeln. Erleichtert atmete Amira auf. Ihr fiel ein gigantischer Brocken vom Herzen. Dabei war ihr noch nicht einmal aufgefallen, wie sie erwartungsvoll die Luft angehalten hatte.  

“Super”, sagte sie und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. “Das passt eigentlich sogar. Kennst du Suresh Custos?” fragte Lennard sie, während die beiden losliefen, Richtung Bahnhof. “Nein. Ich kenne so gut wie niemanden aus der Schule”, entgegnete sie. “So ein großer Junge”, er hielt seine Hand knapp über den Kopf, “stark gebräunt mit dunklem Haar und goldenen Augen. Er soll ein ziemliches Arschloch sein. Sicher, dass du nicht schon von ihm gehört hast? Er geht in meine Klassenstufe” “Goldene Augen?” Nachdenklich legte Amira den Kopf schief. Sicherlich hatte sie von ihm gehört, wenn er solch einen schlechten Ruf hatte, jedoch hatte sie kein Bild von ihm im Kopf.  

“Ja, goldene Augen. Du weißt was das heißt?” fragte Lennard Amira grinsend. Verwirrt schüttelte sie den Kopf, so dass ihre Locken ins Gesicht fielen und kickte einen Stein beiseite. Eine kalte Brise wehten ihnen entgegen. Über ihnen hingen dichte, dunkle Wolken und es roch nach so vielen trockenen Tagen endlich nach Regen.  

“Er ist ein Werwolf”, sagte er grinsend und wartete auf ihre Reaktion. Abrupt hielt Amira an und blickte ihn mit großen Augen an. “Sicher?” “Natürlich. Ich habe schon länger das Gerücht verfolgt und heute dann zur Rede gestellt. Er hat mit ein paar interessanten Dinge erzählt.”  

Lennard gefiel es, wie sie erstaunt zu ihm aufsah. Endlich hatte er auch etwas erreicht, auch wenn er sein Wissen mit ihr teilen wollte. Denn zu beeindruckend und mächtig war dies, dass es der Junge nicht für sich behalten können. Seinen Erfolg mit der Magie wollte er jedoch für sich behalten. Noch einmal konnte er sie nicht einsetzten und so wollte er sie erst richtig erlernen und nicht nur Situationsbedingt.  

“Erzähl!” forderte Amira ihn voller Neugier auf. Ihr Herz machte Sprünge vor lauter Freude. “Okay, aber du darfst es niemanden weitererzählen”, sagte er verschwörerisch. “Wen denn bitte?” entgegnete sie sarkastisch mit gehobener Augenbraue. “Stimmt auch wieder”, ärgerte er sie und schwang seine Hände hinter den Kopf, schenkte ihr jedoch noch ein breites Grinsen.

“Okay, also zum einen hat er mir etwas über die magischen Wesen erzählt und deren Regeln. Werwölfe und Vampire sind laut ihm nur Erkrankte, welche zu einem kleinen Teil Dämonengene in sich tragen und diese Gene über bestimmte Weisen weitergeben. Werwölfe haben meist goldene oder blaue Augen, während Vampire blutrote besitzen und ziemlich bleich sind. Sie wenden Magie auf sich an, um in die Sonne gehen zu können, während Werwölfe als einzige Schwäche wohl den Neumond und Vollmond besitzen.”

“Heißt das, dieses eine Mädchen mit den roten Augen und bunten Haaren ist auch ein Vampir?” fragte Amira aufgeregt. “Nein, bezweifle ich. Bestimmt trägt sie nur Kontaktlinsen”. “Schade. Aber glaubst du, wie viele sind aus der Schule magische Wesen?” “Keine Ahnung. 2 Prozent vielleicht. Er meinte es seien nicht viele. Wir dürften eigentlich gar nichts über diese Welt wissen, was übrigens auch erklärt, warum man uns für verrückt hält”, scherzte er.  

Lennard räusperte sich. “Zumindest darf kein magisches Wesen einen Menschen mit Mordabsichten angreifen. Sie müssen uns sogar beschützen und sich vor uns geheim halten. Aber noch krasser sind die Dämonen. Erinnerst du dich noch an das Unglück vor einen Monat in München?”   

“Ja. Starben da nicht 700 Menschen?” Amira konnte sich noch gut an den Tag erinnern. Es war Mitten in den Sommerferien. Ein schöner Dienstagnachmittag, an welchen sie sich eine ganze Serie, Merlin, angesehen hatte. Plötzlich kam ihre Mutter ins Zimmer gestürzt und redete davon, dass ihre Großtante schwer verletzt sei. Es seien ein Einkaufszentrum sowie ein Stück der U-Bahnstrecke eingestürzt. Ihre Großtante überlebte ohne bleibende Schäden, als einer der wenigen. Den ganzen Tag hatte sie an Gott für ihre Großtante gebetet.

Ein tragischer Tag, der auch noch Wochen danach im Fernsehen, Internet und in der Zeitung heiß diskutiert wurde. Man einigte sich darauf, dass es ein terroristischer Akt gewesen war, jedoch hatte er dafür zu viel Schaden angerichtet und zu wenige Beweise und Beweggründe hinterlassen. Des Weiteren sprachen Augenzeugen von einem gigantischen Wesen, dass diese Zerstörung vollbracht hatte.  

“Ja, genau das. Es waren aber keine Terroristen, sondern ein einziger Dämon. 15 Meter hoch mit pechschwarzen Augen und roter, schuppenartiger Haut”, schwärmte er. Amira musste darüber laut loslachen, über seine Geschwärme und den fast schon verliebten Worten.  

“Was?” entgegnete er skeptisch. “Nichts”, flötete sie mit einem Lächeln. Lennard war ein Mensch, den Tragödien nicht abschreckte. So tat es ihm auch nicht leid, als letztes Jahr sein Großvater gestorben war. Amira hatte sich schnell an sein Wesen gewöhnt, doch selber könnte sie so etwas nicht ab. Wie traurig sie über den Unfall ihrer Großtante, die sie seit 3 Jahren nicht mehr gesehen hatte, gewesen war.

“Aber das noch interessantere ist, sie kommen durch Dimensionsrissen und zerstören alles, was sie finden. Von ihnen stammt auch eine weitere, nicht existente Rasse. Man hat diese augenblicklich ausgelöscht, als sie entstanden war. Die verbotene Rasse, die blasphemierte Rasse oder auch die ausgelöschte Rasse. Er nannte sie auch Miseria. Das leidige Unglück”.  

“Klingt gefährlich.” Amira wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und ihr Lächeln war verblichen. Die Dämonen bereiteten ihr Sorgen. Wer könnte solche Wesen denn auch töten? Menschen sicherlich nicht.  

“Natürlich. Die ganzen großen unglücklichen Ereignisse. Das alles geht auf die Kappe der Dämonen und doch redet niemand über sie. Denn die Regierung belügt uns.” “Und was willst du jetzt mit dem ganzen Wissen machen?” Amira musste über seine Aussage die Augen verdrehen. Er klang nicht gerade besser als die eines Verschwörungstheoretiker, den man nun mal nicht ernstnehmen konnte. Wie sollte man bitte auch die magische Welt so erfolgreich, wie er behauptete, vor der normalen fernhalten?  

“Nichts. Ich finde es einfach faszinierend. Wir müssen ja so viel wie möglich über diese neue Welt lernen, oder?” “Ja”, seufzte sie. Manchmal war er für sie ein Schwachsinniger mit merkwürdigen Interessen, doch es hob seine Laune und so nickte sie lächelnd.  

“Aber komm ja nicht auf blöde Ideen”, scherzte Amira mit einem unguten Gefühl in ihrem Herzen. Lennard nahm es als ein Witz und bejahte lachend.  

“Aber stell dir doch mal vor, wie so ein Wesen aussieht”, begann er weiter zu reden. Mit einem Kopfschütteln lauschte sie verträumt seinen Worten, während sie sich den Fabriken, große Betongebäude, geschaffen für mehrere tausend Arbeiter um ihr Leben in diesen zu verschwenden, näherten.  

Lennards Verstand lief in Hochtouren. Mit zügigen Schritten durchquerte er immer wieder und wieder den Raum. Ruhig sitzen konnte er nicht. Er hatte es geschafft, das Wunder vollbracht, und gleichzeitig auch nicht. Die Frage war, wie er es nun nochmals schaffen würde. Erneut solch eine Situation herbeirufen? Riskant, aber ihm gefiel der Gedanke. Es wäre soviel einfacher als das dauerhafte Meditieren.  

Tief atmete Lennard ein und blieb stehen. Ja, das ist das sinnvollste. Das war er nicht.

Er würde in den Wald gehen und seiner Angst stellen. Gegen sie mit aller Kraft kämpfen, damit die Magie erneut in ihm erwachte.  

So leise wie möglich zog der Junge sich seine Klamotten an. Wieder das gleiche graue Sweatshirt, wieder die gleichen Schuhe. Stille herrschte im Hause Schusters, als Lennard dieses verlies. Es war erst 22 Uhr abends, die Sonne war vor einer Stunde erst untergegangen, doch die Welt lag schwarz da. Die Luft drückte schwer über der Stadt und kündigte ein nahendes Spätsommergewitter.  

Statt nach dem himmelblauen Damenfahrrad seiner Mutter zu greifen, lief er durch die kleinen, verzweigten und doch teilweise symmetrischen Straßen, bis zum Stadtrand. Die Bäume stachen wie Speere in den Himmel, kein Mond schien und absolute Stille herrschte. Als würde die Welt die Luft anhalten.  

Langsam bahnte er sich mit der Taschenlampe seine Handys vor sich, einen Weg durch die dunkle Welt. Kein Tier gab ein Laut von sich. Einzig und allein das Knacken der Bäume war zu hören.  

Lennards Herz begann zu pochen, Er hatte Angst man könnte es auch Kilometer weit hören. Fester umgriff er sein Smartphone, härter trat er auf. Ich habe keine Angst. Was ist Angst? Wer besitzt schon so etwas?

Er hatte Angst.  

Ihm folgten zwei rote, hungrige Augen. Lennard spürte sie, sah sie immer wieder im Dunkeln. Die mahnenden Worte Sureshs hallten in seinen Kopf wieder und wieder. Als wollten sie ihn verhöhnen.  

Der Moment der Wahrheit war gekommen. Seine Schritte verstummten, sein Blick funkelte voller Entschlossenheit. Entweder ich sterbe oder ich lebe. Aber dafür bin nur ich selber zuständig.  

Lennard schloss die Augen und suchte nach dem Licht. Jedoch existierte es nicht mehr in ihm.  

Zwei grobe Hände packten ihn, hielte ihn fest in dessen Griff. „Was macht denn ein so junger Bursche zu solch einer Zeit hier draußen?“ säuselte die dunkle Stimme. Sie widerte ihn an. Sofort griff der Junge nach den Händen, doch ohne Erfolg. Das Monster hinter ihm war stärker.  

„Spazieren. Die Luft ist hier so schön“, log er ohne darüber nachzudenken. Ihm überraschte die Festigkeit seiner Stimme. Keine Spur von Angst in ihr. „Lügner.”

Langsam ließ Lennard die Hände sinken. Es war hoffnungslos. Stumm sah er zu den dunklen, von dichten Wolken überzogenen Himmel. Er war ein Narr. Solch ein großer Narr.  

Als der Schmerz eintraf, war der Junge so gut wie tot. Sein Kopf sackte nach unten, die Augen sahen für ihren letzten Augenblick des Lebens die leuchtenden, goldenen Augen. Keine Augen eines Werwolfs, sondern die eines Gottes. Das Bild brannte sich in seinen Kopf nieder. Seine Lippen formten sich zu einem ewigen Lächeln, welches noch nicht einmal der Thanatologe korrigieren konnte.

Lennard Schuster starb im Antlitz Gottes.  

Das laute Leuten schreckte das Mädchen im Backsteingebäude der Karl-Marx-Straße auf. Voller Neugier schluck sie den Roman zu, sprang auf und durchquerte das Zimmer binnen Sekunden. Sie hörte die leicht aggressiven Schritte ihrer Mutter bereits vom Treppenabsatz. Doch statt hinunter zu gehen, wartet die Siebzehnjährige and der obersten Treppe. Ihr Herz fühlte sich schwer an, Unmut breitete sich aus. Jemand würde die schlechten Nachrichten, die sie schon den ganzen Tag erwartete, überbringen und sie konnte nur erahnen wer. Keinen Bissen vom Essen hatte sie über den ganzen Tag hinunterwürgen können. Sie wusste es, fühlte es, dass etwas schlimmes heute Nacht passiert war.  

Ihre Mutter öffnete mit dem falschesten Lächeln der Welt die Haustür. “Guten Abend meine Herren. Kann ich etwas für Sie tun?“ In ihrer Stimme lag trotz der höflichen Fälsche ein Funken Verärgerung. Sie trug schon ihr Nachthemd, ein teurer Stoff der ihre Brüste umrahmte und ihre Figur schmeichelte. Leichte röte lag auf ihren Wangen, sie versuchte vergeblich so viel wie möglich zu bedecken, denn nur ihr Mann durfte diesen Anblick genießen. Auf diesen hatte sie gewartet und diesen galt ihr ärger.  

„Entschuldigung Sie uns für diesen wirklich sehr späten Besuch“ bat der vordere der zwei Männer. Er war ein kräftiger Typ mit einer großen Wampe und auf die 60 Jahre zu ging. Sein Haaransatz war schon stark gewichen, stattdessen versuchte ein Drei-Tage-Bart das breite Doppelkinn zu verbergen. Über seinen Bauch spannte sich die Uniform der örtlichen Polizei.  

Er war sehr über die Freundlichkeit der Frau verwundert, welche ihnen trotzdem um Mitternacht die Haustür geöffnet hatte. Vor allem aber genoss er den Anblick, den sie erfolglos zu verbergen versuchte. Er spürte wie sich unten rum alles bewegte und sich zusammenzog. Dass der sich überhaupt noch regen konnten, erstaunte selbst den Mann.

„Was gibt es für ein Problem?“ fragte Bianca Langford und zog das Hemd enger zusammen, vergeblich. Sie hatte nicht vor, die Männern hereinzubitten, noch lange zu ertragen. Eher war es eine Unverschämtheit, so spät noch zu klingeln.  

Mit einem skeptischen Blick musterte sie die zwei. Der zweite Polizist war ein Jüngling, gerade einmal 20 Jahre jung und absolut unerfahren. Seine Gesichtsfarbe glich der einer Leiche, genauso weit waren seine Pupillen. Er trug eine andere Uniform, welche ihn als Kriminalpolizisten auszeichnete. Was auch immer der Bursche gesehen hat, er wird nächtelang davon schreiend aus den makabersten Träumen aufwachen.

„Wir müssen Amira Langford sprechen“, antwortete dieser. Augenblicklich zog sich Amiras Magen noch mehr zusammen. Ihre böse Vorahnung war Realität geworden.  

„Warum? Was hat meine Tochter getan?“ Das falsche Lächeln war gewichen. Stattdessen blickte absolute Kälte aus den eigentlich schönen Augen wieder. Langsam schluckten die beiden Polizisten.  

„Ihre Tochter hat nichts verbrochen. Wir haben einfach nur ein paar Fragen zu einem Mord“, versuchte er sie zu beschwichtigen und trat einen Schritt näher. Ein freundliches Lächeln nahm auf den bleichen, angsterfüllten Gesicht Platz. Seine Augen erreichte es nie.  

Verwirrt starrte die Frau ihn an und schien langsam zu realisieren, was der Mann vor ihr gesagt hatte. „Was für ein Mord?“  

„Lennard Schuster“ antwortete der Polizist zögerlich. Stille. Entgeistert blickte sie die beiden an. Den Sohn, den sie sich immer gewünscht hatte - tot. Langsam ließ sie sich die Worte auf der Zunge zergehen. Der Geschmack von etwas Bitterem breitete sich aus. Doch egal wie sehr sie es versuchte, akzeptieren konnte sie es nicht. Fassungslos starrte sie die Polizisten an.

„Könnten Sie nun bitte ihre Tochter holen? Es ist dringend.” Leicht zuckte die Frau zusammen, bevor sie sich umdrehte und zur Treppe lief. Auf der letzten Stufe stand Amira. Steif und starr. Ihre Augen weit geöffnet, die Hände zu Fäusten verkrampft

„Schatz, kommst du bitte runter?“ flöte sie voller Angewohnheit. Doch statt auf ihre Tochter zu warten, ging sie zurück in das Wohnzimmer. Von weitem konnte Amira den Fernseher hören.

„Stimmt es?“ fragte Amira mit brüchiger Stimme. Fast schon konnten die beiden Männer sie nicht verstehen. Sie sahen sich an und nickten dann voller Bedauern. Amira spürte das Mitleid, wie Kaugummi haftete es an ihr. Es war ihr unangenehm. Schlussendlich konnte dieses Mitleid ihr nicht helfen. Er war tot. Einfach tot.

„Ich bin keine Angehörige seiner Familie. Warum seid ihr also hier, kurz nach null Uhr?“ Ein Klumpen schnitt ihr die Kehle zu und ihre Augen schmerzten. Doch sie wollte nicht weinen; nicht vor ihnen.  Nie mehr könnte sie in einen Spiegel blicke und voller Stolz sagen, das war sie. Nein, sie könnte sich nicht ertragen. Es war ihre Schuld. Das mussten die zwei Polizisten vor ihr erst gar nicht sagen. Es war immer ihre Schuld.

„Sie waren die letzte, angerufene Nummer und zwar im Moment seines Todes. Entweder er oder der Angreifer haben versucht, Sie zu erreichen. Haben Sie es sich den letzten Tagen mit irgendwem verscherzt oder wissen Sie, ob er es hat?“ „Ich habe bis gerade eben ein Buch gelesen und mein Handy auf Stumm, also habe ich den Anruf nicht mitbekommen und soweit ich weiß, hatte er keine Feinde. Aber er war auch keine gesellige Person“, antwortete Amira. Alles drehte sich. Schnell versuchte sie sich an der Türklinke abzustützen, bevor sie stürzte. Sie konnte das einfach nicht glauben. Er soll tot sein? Unmöglich! Menschen sterben nicht einfach so von einem Tag auf den nächsten. Er ist stark, wie könnte er also nur?

„Sind Sie sicher?“ fragte nun auch der Ältere. „Ja, mir fällt wirklich niemand ein und ich habe sicherlich auch niemanden verärgert“, entgegnete sie. „Und wenn Sie zurückdenken? Vielleicht haben Sie einen bloß angestoßen“, drängt der Kriminalpolizist voller Hoffnung, dass man zumindest die Mörder finden könnte. Schlimmer als die Leiche waren die kläglichen Schreie der Mutter und der traurige Blick des Vaters, als sie ihnen die tragische Nachricht überbracht hatten und die gleichen Fragen, sowie weitere gestellte hatten. Der Anblick hatte sich in den Kopf des jungen Polizisten eingebrannt. Wie sie dastanden, absolut fassungslos, und nur weinen konnte. Voller Schmerzen schrien, über das Kind, das sie verloren hatten und nie wiederkehren würde. Es war wirklich eine Tragödie, dachte er und beobachte das Mädchen. Sie sah nicht viel besser aus, mit ihren zusammengepressten Lippen und den glasigen, gequälten Augen. Wenn er und sein Kollege gehen würden, würde das Mädchen augenblicklich in ihrem immer zusammenbrechen. Die Eltern des Jungen hatten sie über die enge Freundschaft in Kenntnis gesetzt.

„Er war der einzige Freund den ich in den letzten Jahren hatte. Abends verlasse ich auch nicht das Haus, deswegen bin ich mir sehr sicher.” Amiras Stimme bebte voller Festigkeit. Entschlossen hatte sie die Arme verschränkt, jedoch den Kopf gegen die Tür gelehnt und sich damit eine Schwäche eingestanden. Sie vertraute nicht mehr auf ihrem Gleichgewichtssinn.  

Die beiden Polizisten sahen sich an. Es war zwecklos.  

„Vielen Dank für ihre Kooperation. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend und geben Sie auf sich acht“, verabschiedete sie sich mit dem gleichen Wort, die sie immer benutzten. Der jüngere nickte seinen Kollegen zu, worauf sie still zu dem parkenden Wagen gingen, mit dem Gedanken, dass es noch ein langer, fürchterliche Abend werden würde.

Amira schloss mühselig die Tür ab. Ihr Kopf fühlte sich wie Leergefegt. Das Herz nicht mehr vorhanden, stattdessen ein klaffendes Loch. Blutend schlug es die letzten Funken Leben aus ihr heraus.

Mehr stolpernd als laufend kroch das Kind die Stufen hinauf, den Weg zu ihrem Bett. Sie ließ sich auf das Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Langsam lösten sich die ersten Tränen aus den Augen und versickerten in den dünnen Stoff. Er war tot, ihr einziger Freund, den sie seit nicht einmal 3 Monaten besessen hatte.  

Es dauerte Stunden bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der Anfang vom Untergang der Welt

Und du bezeichnest dich als einen gnädigen Gott? Du verursachst mehr Leid als alles andere. Du bist nicht mehr als ein schwärmerischer Gott, der Gnade mit Folter verwechselt.

 

Dafür gebe ich der Welt die Chance, die ihr sonst niemand gibt.

 

Um zuzusehen, wie sie langsam, qualvoll stirbt? Das ist keine Gnade, das ist Blasphemie. Ich werde es Vater erzählen.

 

Sie haben ein Recht dazu, um ihr Leben zu kämpfen, um ihr Wichtigstes zu beschützen. Du willst also Vater sagen, dass ich ein Kind in den Tod geschickt habe? Er wird dich auslachen und mich loben.  

 

Du hast den Zufall zerstört und durch deinen eigenen Plan ersetzt. Dazu besitzt du nicht das Recht.

 

Oh doch, das kann ich und das habe ich. Es ist meine Welt, also halte dich daraus. Sie alle besitzen das Recht zu leben.

 

Es gibt keine Rechte, Regeln und Gesetze. Genauso wenig, wie es ein Leben danach gibt. Erfülle Vaters Befehl und lösche diese Welt aus, oder er tut das gleiche mit dir!

 

Niemals.

 

Dann lass uns drum spielen.

Kapitel 1

Der 16. September war ein warmer Spätsommertag mit einer fast genauso warmen Nacht. Der Himmel war wolkenlos, so dass tausende und abertausende kleine Sterne den dunkelblauen Himmel übersäten und der leuchtende Halbmond voll und grell stand.

Es war die erste Nacht, in welcher Amira Langford keine Ruhe fand. Sonst hatte ihr stetiger Begleiter, der Kummer, sie in den Schlaf gewogen und ihr den Schmerz für einen kurzen Moment genommen. Jedoch nicht zur heutigen, späten Stunde.  

Amira fühlte sie eingeengt, als würden die Wände ihres Zimmers immer näher rücken. Die Luft zu stickig, das Bett zu warm. Mit Tränen auf den Wangen hatte sie ihren Kopf auf das kalten Fensterbrett gebettet, ihr Blick galt dem Himmel. Wie schön er doch in der heutigen Nacht schien.

2 Wochen waren seit dem Mord an Lennard Schuster vergangen. Die Ermittlungen waren schon nach 3 Tagen erfolglos als beendet erklärt worden. Offiziell hieß es, es gäbe nicht genug Beweismaterialien. Allerdings war in den Nachrichten auch nicht die Rede von einem blutsaugenden Monster, noch einen Vampir als Mörder. Lennard Schuster war einer von hunderten solcher Fälle, die niemals abgeschlossen werden sollten.

Amira kannte die Wahrheit, welche nur allzu traurig, aber die Realität, war. Die Menschen waren hilflos gegenüber den Vampiren und Werwölfen. Selbst wenn sie den Mörder finden und stellen würden, fangen hätten sie trotzdem nicht können. Eher wäre das Einsatzkommando ausgelöscht worden. Des Weiteren gab es keine Gesetze für solch ein Wesen. Lebenslang einsperren? Nun, wie lange ist schon lebenslang für einen Vampir? So kam es, dass die Menschen in einer falschen, ihnen aufgetischten, heilen Welt lebten; für den Schutz der Ordnung.

Am 17. September sollte Lennards Körper, eingeäschert in einer Urne, im Stadtfriedhof beigesetzt werden. Morgen war es soweit. Ihr Herz begann am alleinigen Gedanken vor Schmerz zu bluten. Warum auch er? Wenn es wirklich ein Gott gab, war er ein Monster.   

Ein leises Wimmern kroch ihrer Kehle empor. Ihre Sicht verschleierte erneut. Langsam lösten sich die ersten Tränen und die salzigen Tropfen fielen so gut wie lautlos auf die steinerne Fensterbank. Auf viele andere, getrocknete Tränen. Niemals hätte sie gedacht, dass ein Verlust sie so hart hätte treffen könnte. Was für ein Narr sie doch gewesen war.  

Verzweifelt schlug ihr Kopf auf den Stein, schmerzen breiteten sich augenblicklich aus. Doch sie genoss es. Endlich fühlte sie etwas anderes, als diesen unerträglichen Herzschmerz. Ihr Hände klammerten sich verbittert an den Fensterrahmen. Sie wollte hier einfach nur noch weg. Raus! Weg aus diesen 4 Wänden!

Es drängte sie nach draußen, zu einen bestimmten Ort. Seinen Todesort. Noch nie zuvor war ihr drang so stark, so nah wie möglich bei ihm zu sein. Und damit wäre sie an dem Ort; ein erneutes lautes Wimmern. Schluchzend ließ sie sich auf den Boden fallen. Warum er? Warum habe ich es nicht verhindert? Es ist meine Schuld!  

Ohne einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden, zog sie sich am Fensterbrett hoch und schwang sie aus dem Fenster. Es war kein langer Fall, keine Sekunde lang. Mit einem lauten Knacken kam sie auf den Boden auf, liegend in einen Busch. Kleiner Kratze zogen sich über ihre Arme und Beine, allerdings hatte sie sich nicht mehr zugetan. Es war nicht ihr erstes Mal gewesen, dass sie so das Haus verlassen hatte. Ganze 4 Mal hatte der Busch dies schon überstehen müssen. Jedoch war das wieder hineingelangen anspruchsvoll und anstrengend.

Träge rappelte Amira sich auf und zupfte sich die Äste aus den Haaren. Ohne Schuhen und stattdessen in bequemen Jogginganzug ging sie auf die asphaltierte Straße, welche schon längst abgekühlt war und tausende von spitzen Kieselsteinen auf ihr lagen. Von weitem hörte sie einen Hund bellen, in der Nähe sang eine Eule. Weit oben in einer Tanne saß eine pechschwarze Katze und beobachtete das Mädchen aus goldenen Augen.

Noch immer liefen dem Kind die Tränen. Schnodder hatte sie über den Mund verteilt und ihre Haare waren total durcheinander. Ein kleines Kind würde sie augenblicklich für ein Monster halten. Und genauso fühlte sie sich auch. Sie hatte es geahnt und doch nichts getan. Es war ihre Schuld!

Amira folgte den schwach beleuchteten Straßen, quer durch die Stadt hindurch bis sie sich der Stadtgrenze näherte. Ihre Tränen waren versiegt und mit dem Handrücken hatte sie die letzten Überreste ihres Dilemmas verwischt. Es hatte mehrere Kilometer gedauert, doch nun genoss sie die kühle Luft der Sommernacht. Der kalte Boden unter ihren Füßen schenkte ihr Kraft und Energie - die Freiheit Hoffnung.  

Den beleuchteten, asphaltierten Straßen wichen Römerstraßen und die Laternen schwanden, bis schlussendlich die Steine einen Sandweg blieben und die letzte Laterne am Waldesrand leuchtete. Amiras Herz begann schneller zu pochen. Nicht aus Angst oder Trauer. Nein, es pochte voller Neugier und Freude. Noch nie zuvor hatte sie sich so sehr zu einem Ort angezogen gefühlt, wie in diesem Moment.  

Blind tastete die Fremde sich durch den Wald. Sie besaß keine Orientierung, kannte nicht den Ort und nur ihre Hände und Ohren halfen ihr dabei, nicht gegen die Bäume zu rennen. Kälte und Steine hatten ihre Füße schon vor langer Zeit zu tauben Klumpen verwandelt. Spitze Äste oder sogar Glasscherben spürte sie schon längst nicht mehr. Und die Magie, die hatte sie in den tiefsten Tiefen ihres Herzens verbannt. Etwas hilfloseres und zierliches existierte in diesem Wald nicht mehr.

Nach 10 Minuten stand Amira Mitten im Wald. Das Mondlicht kämpfte sich schwer durch die dicken Äste und Blätter der Bäume. Die Schatten wirkten gespenstisch auf das Mädchen, so dass ihr Herz laut in ihrem Kopf wiederhallte. Ein leichter Schauer überkam sie. Zitternd umschlang sie sich selbst mit ihren Armen, ihre Augen suchten ihre Umgebungen ab. Sie spürte die Blicke von etwas auf ihr. Wie es immer wieder liebevolle Blicke auf sie warf und in den Wind flüsterte. Sich mit diesen bewegte und sie umkreiste.  

Als bestände die Rinde aus tausenden von Augen und zwischen all diesen unsichtbaren Augen, existierten  rote, hungrige. Das war eine dumme Idee.  Das Mondlicht durchbrach das dichte Gestrüpp, flutete es den Ort mit Licht und schenkte der Suchenden einen atemberaubenden Anblick. Tausende und abertausende Sterne standen weit oben gen Himmel und strahlten, der volle Mond daneben.  

Langsam schleppte Amira sich zu durch die Büsche hindurch zu der Lichtung, seinen geheimen Rückzugsort. Einmal hatte Lennard sie mitgenommen und ihr diesen Platz gezeigt. Ihr alles über die einzelnen Bäume und Pflanzen erzählt und dann hatte er von der magischen Präsenz geschwärmt. Als würden Feen über die Gräser tanzen und Elfen ihre Lieder singen. Jetzt sah sie sie. Die Wesen der Nacht. Glühwürmer die Feen ähnelte und leise Musik erklang in ihren Ohren.  

Der Mond stand genau über der Lichtung und tauchte sie in einem angenehmen Licht. Die schwarzen, dürren Bäume bewegten sich sanft im Wind, laut raschelten die Blätter. Es war für sie ein wahrhaftig magischer Ort.

Mit glänzenden Augen lief Amira zur Mitte der Lichtung und drehte sich mehrmals um ihre eigene Achse, um ja alles zu sehen. Endlich verstand sie seine Faszination. Dieser Ort hatte etwas Magisches an sich und er hatte ihn so gut wie vor der Haustür. Einen schönen Ort zum Sterben. Allerdings konnte sie nicht wissen, dass er alleine, im dunklen Wald, starb und nur die goldenen Augen sein letzter Trost waren.  

Amira ließ sich in das saftige Gras fallen und genoss die Stille. Noch nie zuvor hatte sie sich ihm so nah gefühlt. Ihre Trauer und Leid schwanden, stattdessen fand sie innere Ruhe. Sie roch sogar seinen Duft, direkt neben ihr.  

Langsam drehte sie den Kopf. Doch statt den sturmgrauen Augen blickte sie blutrote an.  

„Guten Abend, junge Dame“, schnurrte es. Geschockt sprang das Mädchen auf, den Mund erschrocken geöffnet, ihr Herz flatternd. Schnell schloss sie ihn wieder und schluckte ihre Überraschung hinunter. Entspannt blieb das Wesen liegen und lächelte sie an. Die langen, tödlichen Reißzähne deutlich sichtbar. Seinen Kopf hatte er auf den Arm abgestützt und sah somit alles andere als gefährlich aus. Misstrauisch beobachtete Amira ihn, die blutroten Augen taten es ihr gleich. Das bleiche Gesicht schimmerte im Mondlicht, seine Klamotten wirkten alt und waren genauso mitgenommen.  

„Was…wer sind sie?“ stotterte sie. Sein Erscheinen überraschte sie. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass er wirklich gekommen war. Jedoch spürte sie noch mehr ihr klopfendes Herz, das gegen den Brustkorb hämmerte. Als wolle es fort, weg von diesem Monster.  

„Sie waren die letzte, angerufene Nummer und zwar im Moment seines Todes. Entweder er oder der Angreifer haben versucht, sie zu erreichen. Haben sie es sich den letzten Tagen mit irgendwem verscherzt oder wissen sie, ob er es hat?“

„Christian“, antwortete er und stand geschmeidig – unmenschlich - auf. Mit freundlichem Lächeln sah er sie an, als wäre dieses Treffen das normalste auf der Welt. Höflich streckte der Vampir ihr die Hand entgegen, welche sie langsam vor lauter Verwirrung annahm. Sein Griff war nicht zu fest, aber auch nicht locker. Locker fiel das gewellte Haar, jedoch nicht in das kantige Gesicht, sondern schmeichelten seine Schläfen und Wangen. Die Wangenknochen stachen deutlich heraus, doch nicht zu sehr, das Kinn war lang, doch nicht zu lang. Er war groß und dünn, doch nicht zu groß und nicht zu dünn. Er war perfekt. Das Wesen war perfekt.

Mit einem Lächeln ließ er los und schnell zog Amira ihre Hand zurück. Noch immer hörte sie die lauten, schnellen Schläge in ihren Ohren. Starr sah sie ihn an, war nicht mehr in der Lage sich zu bewegen, noch etwas zu sagen. Angst? Sie war sich nicht sicher, was sie empfand.  

„Hast du Angst vor mir?“ Seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. Ihre Gesichtsfarbe glich seiner.

„Angst vor dem bösen, bösen Vampir?“ säuselte er. Statt zu laufen wie ein Mensch, glitt er um sie. Musterte sie von jedem Blickwinkel, als wäre sie ein Rind auf einer Versteigerung. Dann blieb er stehen, mit einem Lächeln, welches seine scharfen Reißzähne zum Vorschein brachte.  

Wütend biss sich Amira auf die Zunge und schüttelte den Kopf. Der Geschmack von Eisen breitete sich augenblicklich aus. Angst? Nicht sie! Das einzige, das sie fühlte, war Wut. Wut auf ihr eigenes Versagen, über Lennards Tod und ihrer ignoranten Mutter, die sie im Stich gelassen hatte. Sie hatte es den ganzen Tag gespürt; gewusst, und doch hatte sie nichts unternommen. Aus Angst, ihn zu verlieren. Aber vor allem galt ihre Wut ihm. Dass er nicht der Vampir war, der ihn umgebracht hatte. Der Lennard das Leben ausgesaugt hatte. Sie spürte es; wusste es.

„Warum sollte ich?“ Amira sah ihm direkt in die Augen, mit aller Kraft und Entschlossenheit die sie aufbringen konnte. Aber auch mit all dem Hass und der Wut. Belustigt funkelten seine auf.  

„Weil ich ein Monster bin. Der größte Albtraum von allen. Und deswegen werde ich dich nun umbringen. Dir dein langes Leben mit jedem einzelnen Tropfen aus dein Leib saugen.” Grinsend schlich er weitere Kreise um sie herum, wie eine hungrige Hyäne. Und schutzlos war sie ihm ausgeliefert. Ihr Herz blieb für sie stehen, die Welt setzte aus. Regungslos beobachtete sie ihn. Sah durch seine Augen hindurch, direkt in die Seele. Erkannte seine Lust. Die Lust zu töten und verschlingen. Und plötzlich empfand sie Mitleid mit dem Wesen, das nicht mehr Herr über sich selbst war.  

„Du hast ihn nicht umgebracht, oder?“ fragte sie mit dem schmerzlichen Gedanken an ihren besten Freund; ihrem einzigen Freund.  

Misstrauisch drehte Christian eine weitere Runde. Er war es gewohnt, dass die Menschen schreiend vor ihm wegrannten, um ihr Leben bettelten oder geschockt dem Tode entgegenblickten. Aber sie. Sie nicht.  

„Wen?“  

„Lennard Schuster.” Ihre Stimme war leise, schwer verständlich. Jedoch besaß der Vampir übermenschliche Fähigkeiten und verstand jedes Wort. Er hörte ihr klopfendes Herz und roch das Salz der nahenden Tränen. Sah das Pochen ihrer Halsschlagader und das leichte Beben ihrer Lippen.  

„Ich habe viele getötet. Woher solch ich das also wissen?“ entgegnete er mit einem Achselzucken. Er konnte die Braunhaarige nicht verstehen. Wie sie vor ihm stehen konnte, ohne in Tränen auszubrechen oder vor Angst wegzurennen. Ihre Tränen galten einzig und allein ihren verlorenen Freund. Ach hätte ihn ein Weib so sehr geliebt. Er hätte ihr sofort einen Diamantring an den Finger gesteckt und die Fragen aller Fragen gestellt. So ein Weib wollte er begegnen. Eines, das wie das Mädchen vor ihm war. Bloß älter und dann noch leben würde. Dieses würde er trotzdem umbringen.  

„Hast du, oder hast du nicht?“ zischte sie. Ihr Herz schmerzte, voller Trauer, und ihr Blut kochte. Verbittert biss sie die Zähne aufeinander. Amira konnte ihn nicht verstehen. Wie er, ein menschliches Wesen, so über Leben und Tod reden konnte, als wäre es nichts wert.  

„Der Junge aus der Zeitung? Nein, aber dich“, antwortete er nach einer langen Stille. Er genoss ihre Trauer. Jeden Tropfen, wie feinsten Wein. Seine Lippen verzogen sich zu einem lüsternen Grinsen. Allein die Vorstellung, wie sie weinte und flehend den Namen des Jungen rief. Tropfen um Tropfen. Ihr süßlicher Geschmack auf der Zunge, ihr leidendes Gesicht. Manchmal pflegte er zu scherzen, er würde von Leid, satt dem Blut, leben.  

Mit begierigen Blick griff er nach ihrer Hand, zog sie sich heran. Amiras Arm schmerzte unter den festen Griff, jedoch war der Gestank, welcher von dem Wesen ausging, tausend Mal schlimmer. Er roch nach Verwesung und Krankheit. Nach Tod.  

In ihrem Kopf hallten noch immer seine Worte. Nein. Immer wieder und wieder. Warum hat er es nicht einfach sein können?

Regungslos stand das Mädchen da. Schien sich noch nicht einmal wehren zu wollen. Dem Mann war es recht. Solange sie nicht beginnen würde, loszuschreien. Frauen haben immer solch hysterisch laute Stimmen.  

Der Schmerz traf Amira wie ein Schlag in den Magen. Überrascht zuckte sie zusammen und wollte sich losreißen. Vergeblich. Die Welt drehte sich viel zu schnell für sie, bis sie schlussendlich schwarz wurde. Amira schwamm in einem dunklen Meer und konnte nichts tun. Jedoch fühlte sie noch alles. So wie das Monstrum, welches ihr langsam die Kraft raubte. Bluttropfen um Bluttropfen.  

Vor ihren Augen tauchte etwas Leuchtendes auf. Sofort, ohne überhaupt darüber nachzudenken, griff sie nach diesem. Wärme umhüllte sie, stärkte sie, schenkte ihr Kraft und schlug impulsartig aus.  

Als sie wieder ihre Augen öffnete, lag noch immer der sternenüberzogene Himmel über ihr. Bin ich tot? Die Welt war still, die Bäume verstummt. Nur ein Windzug unterbrach das Schweigen.

Langsam richtete sich das Mädchen auf. Sie fühlte sie schwach und nackt. Als hätte sie ihr schützendes Schild verloren. Prüfend blickte sie an sich hinab und erkannte viele, verkohlte Löcher in ihrer Kleidung. Der Geruch von verbrannten lag in der Luft und das Gras um sie herum war versenkt bis komplett verbrannt.  

Vorsichtig ließ sie sich wieder auf den Boden fallen. Ihr Kopf dröhnte. Was ist passiert? Minuten vergingen, ohne dass ihr eine Antwort einfiel. Und weitere Minuten strichen davon, bis sie sich die Tatsachen zusammenreimen konnte und die Wahrheit realisierte. Sie war weder tot, noch davor zu sterben. Allerdings konnte es Christian sein, ihr Herz stockte; oder genauso wenig wie sie.

Schnell sprang Amira auf und suchte ihr Umfeld nach ihm ab. Links, am Waldesrand, lag er und über ihm stand ein gigantischer Wolf, wie sie ihn zuvor noch nie gesehen hatte.

Ängstlich wich sie mehrere Schritte zurück. Zu schwach und nackt fühlte sie sich, als dass sie etwas gegen das Ungeheuer ausrichten hätte können. Das Tier schien es zu amüsieren, denn die riesigen Reißzähne kamen zum Vorschein und bildeten ein gefährliches Grinsen. In einer fließenden Bewegung, die der des Vampires glich, verwandelte sich der Wolf in einen Menschen. Einen Jungen, keine 15 Jahre alt.  

Noch nie zuvor hatte Amira einen Werwolf in seiner Verwandlung gesehen. Es faszinierte sie.  

„Guten Abend, Mylady“, begrüßte der nackte Junge sie. Misstrauisch musterte sie ihn. Seine Worte wirkten nicht sehr überzeugend, denn er war noch ein Jugendlicher, besaß noch nicht einmal einen Bartwuchs. Vielleicht 15 Jahre jung, aber nicht älter. Sein fast schwarzes Haar stand wild ab und leuchtete im Mondschein. Doch das erstaunlichste an ihm waren die goldenen Augen, welche gefährlich funkelten. Er besaß ein recht maskulines, eckiges Gesicht, das untypisch für sein alter war. Seine Haut war stark gebräunt, so dass sie Karamell ähnelte. Das wohl auffälligste jedoch war, dass er absolut nichts trug. Röte schoss in ihre Wangen und schnell wandte Amira den Blick ab.  

„Du bist kaum älter als ich“, stellte sie laut fest, ihre Stimme noch immer brüchig und heiser. Überrascht öffnete der Junge seinen Mund, sagte allerdings nichts.  

„Und du hast echt nen Ding weg“, brummte der Vampir unter den nackten Füßen des Jungen. Belustigt trat dieser zu. Ein leises Ächzen war zu hören, doch der Blutsauger beschwerte sich nicht weiter.  

„Stimmt gar nicht“, warf Amira ein, nachdem sie realisiert hatte, dass Christian sie gemeint hatte. Seine Worte konnten sie nicht verletzten, zu Gut hatte sie gelernt sie zu ignorieren, jedoch zwang die Angewohnheit sie dazu, zu antworten. Ihr Blick glitt beschämt zu Boden.

„Und du hast kein benehmen, Blutsauger.“

„Sagt genau der Richtige, Drecksköter.“

„Mörder haben kein Mitspracherecht. Sie sind nämlich Freiwild.” Erneut trat der Junge auf den Vampir ein, als wäre es das normalste auf der Welt. Das Monstrum schwieg.  

„Du kannst doch nicht einfach auf ihn eintreten“, murmelte Amira. Besorgt sah sie den am Boden liegenden. Obwohl er sie angegriffen und verletzt hatte, bestürzte das Verhalten des Jungen sie. Schließlich waren die beiden auch nur Menschen, der eine davon ein Kind. Wieso trat er also zu?

Christian zog allerdings nur eine spöttische Grimasse, die so viel bedeutete, wie: “misch dich nicht in fremde Dinge ein, wenn du keine Ahnung von ihnen hast.”

„Er ist Freiwild, also ist das irrelevant. Ich kann mit ihm machen, was ich will. Oder möchtet Ihr sagen, dass er Euch nicht angegriffen und das Blut ausgesaugt hat?“ Zufrieden grinste der Bursche auf und verstärkte das Gewicht auf seinem Bein. Amira verstand nicht recht, was er von ihr wollte. Fragend legte sie ihren Kopf schief.  

„Ja, er hat mich angegriffen, aber warum macht ihn das zu Freiwild? Und was ist damit gemeint?“ „Na dann müsst ihr euch bei mir bedanken“, entgegnete er nur und ignorierte ihre lästigen Fragen. „Warum? Ich habe mich doch selber gegen ihn Gewehrt; glaube ich.” Letzteres fügte sie leise hinzu.  

„Aha, du glaubst es also nur, aber sicher bist du dir nicht. Da ich gerade dieses Monster von die fern halte, schuldest du mir einen Dank und eine Belohnung“. Genervt verdrehte der Vampir seine Augen und drehte seinen Kopf so, dass er den Jungen ebenso erkennen konnte.  

„Was stimmt mit dir nicht? Sie hat mich in die Luft gejagt und du kommst hier an mit Belohnung…warte, bist du nicht der Bursche von Aron?“ „Mit mir stimmt alles. Und selbst wenn, hat dich das trotzdem nichts anzugehen. Die Gesetze sind gleich und du kennst sie, Blutsauger.“ Verächtlich trat er erneut zu.  

„Aron? Gesetzte?“ Amira verstand nur Bahnhof.  

„Später. Also Mädchen, beanspruchst du dein Hinrichtungsrecht?“  

„Hinrichtungsrecht? Was soll das sein?“ Ihre Stimme wurde schrill. Obwohl Amira es sich denken konnte, klang dies absurd und falsch in ihren Ohren.

„Du weißt gar nichts, oder? Dann pass jetzt auf. Mit der Wiederkehr der Magie gelangten die uralten Wolfs- und Vampirclans an ihre Macht zurück. Um das dabei entstandene durcheinander zu beseitigen, trafen sich die mächtigsten Familienoberhäupter und schrieben die 13 Gesetz nieder, die jedes magische Wesen einhalten muss. So darf kein Mensch getötet werden oder mit Mordabsichten angegriffen werden. Tja, ich hab’s getan und damit darf ich von jeden hingerichtet werden, wenn er es beweisen kann. Der Geschädigte, also du, darfst als erstes dein Urteil vollführen. Das ist dein Recht“, erklärte Christian. Er war den Vollidioten von Werwolf, der auf ihm stand, satt. Und noch mehr sein Gerede. Wenn dem Mädchen schon niemand die Welt erklären wollte, warum nicht er? Eine letzte, gute Tat, bevor er starb. Verbittert atmete er aus. Wann war er bloß solch ein Monster geworden? Er bereute es, jedoch nicht den Tod. Das war ihm recht. Damit konnte er niemanden mehr eine Gefahr sein. Wer wusste schon, wie lange er noch bei klarem Verstand bleiben würde, bevor der Blutdurst ihn erneut treiben würde.

„Korrekt. Du kennst ja doch die Gesetze. Warum hast du sie dann angegriffen?“  Verwundert sah der Junge auf ihn hinab, vermutlich über seine Freundlichkeit verwundert. Vor dem Tod wird so manches ungezähmtes Monster noch einmal zum Gentleman. Müde zuckte er mit den Schultern.  

„Warte! Das heißt, ich soll dich umbringen?“ Amira verstand die Welt nicht mehr. Was war aus dem grünen Planeten geworden? Was war vor 3 Monaten wirklich geschehen?  

„Ich bin doch sowieso schon tot“, brummte Christian gleichgültig. Die Situation war absurd, aber sie gefiel ihm. „Sarkasmus rettet dich auch nicht mehr.” Grinsend ließ sich der Junge auf ihn fallen. „Mal ernsthaft, was stimmt mit dir nicht? Selbst ich komme mir vernünftiger vor, als du, Sohn von Aron“, murmelte er genervt. Wenn er schon sterben sollte, dann doch bitte nicht in Anwesenheit dieses Balges. Wie nervig.  

„Ja, du sollst ihn umbringen. Aber das mache ich auch liebend gerne für dich.” Hochnäsig ignorierte er die genervten Worte seines Gefangenen.  

„Du bist doch verrückt. Man kann doch nicht einfach jemanden für nen Mordversuch umbringen?! Wir leben hier in einem zivilisierten Land.” Wütend funkelte Amira ihn an. Lennard war nie der große Moralapostel gewesen und sie selber interessierte sich nicht für die Taten anderer, jedoch ging die Lockerheit des Jungen ihr zu weit. Er war ein Kind und sprach von dem Töten, wie über das Essen. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Gott wäre erzürnt.

„Doch, kann man. Du verzichtest?“ fragte er. „Natürlich.” Wütend drehte sie sich um und verließ den Wald mit Tränen in den Augen, die den sterbenden Wesen galten. Das fünfte Gebot – du sollst nicht töten.

Armir hatte die Menschen satt. Jedoch noch mehr hasste er die wandelnden, blutsaugenden Toten; Vampire. Er verstand nicht, wie ein ehemaliger Mensch zu solch einen Sünder mutieren konnte, während die Menschen wegsahen, an ihrer ach so verlogenen Moral festhielten und so taten, als wäre nichts, wenn ihresgleichen starb. So wie dieses dumme Mädchen. Und für so etwas musste er sein Leben riskieren. Ihren langweiligen Alltag retten.

Als er sie sah, dachte er, es wäre für sie schon gelaufen. Allerdings hatte sie sich selbst gerettet und war den Tod nur knapp entronnen. Mit Magie. Das Mädchen beherrschte Magie. Noch nie zuvor hatte er von einem normalen Menschen, wie sie es war, gehört, welcher von sich aus die Magie gemeistert hatte. Vor allem der Flammenzauber beeindruckte ihn. Fast hatte sie den Blutsauger in Staub ausgelöscht. Die Brandspuren zeichneten sich noch immer auf seiner bleichen Haut ab und hatten den größten Teil seiner Klamotten zerstört. Und trotzdem war sie wie ein verwöhntes Kind in Tränen ausgebrochen und davongerannt.

Mit einem erzwungenen Grinsen sah er auf den Vampir hinab. „Ganz schön viel von ihr eingesteckt. Bereit noch einmal zu sterben und deinen Schöpfer ins Gesicht zu schauen?“ fragte er hämisch. Auch wenn ihn das Mädchen beeindruckte, so war sie trotzdem schwach und naiv. Und das störte ihn am meisten. Nun musste der Vampir für sie hinhalten und er konnte sein Vater endlich stolz bereiten.

„Hm“, gab Christian nur von sich und richtete sich still auf. Er hatte keine Angst. Schon lange nicht mehr. Diese 3 Monate waren seine persönliche Hölle gewesen. Der Junge purzelte von ihm herunter. Was für ein Fliegengewicht. Hoffentlich bereitet er Aron keine Schande.  

Auch wenn sie seine persönliche Hölle waren: „waren es die 3 Monate wert.” Langsam kniete er sich hin, den Blick starr geradeaus auf den Ort, in dem er die letzten 3 Monate verbracht hatte, gerichtet.  

Armir hatte noch nie solch eine Entschlossenheit in den Augen eines zu Tode Verurteilten gesehen. Solch einen Stolz und Kraft. Beeindruckt richtete er sich auf. Ausdruck hin oder her, der Blutsauger würde immer noch durch seine Hand sterben. Nichts konnte ihn davon abbringen. Schließlich musste er seinen Vater stolz machen.  

Von Ehre erfüllt griff er nach dem Kopf. Achtete, dass jeder Finger genau richtig saß. „Verkack es nicht, Junge“. Ein lautes Knacken ertönte, der Nacken war gebrochen. Darauf folgte die Schädelplatte. Der Kopf brach zusammen und zurück blieb ein Haufen Staub. Christian Waldau existierte nicht mehr.  

In kürzester Zeit hatte Amira den Wald hinter sich gelassen. Ihr war schlecht und sie wollte nur noch zurück nach Hause, in ihr kuschlig weiches Bett. Mit aller Kraft versuchte sie den Werwolf und den Vampir aus ihrem Kopf zu verbannen. Erfolglos. Immer wieder fanden seine Worte zurück. Die Hoffnung auf ein wenig Schlaf sank, doch sie brauchte ihn. Morgen war die Beerdigung.  

Mit vielen Schwierigkeiten schaffte sie es schließlich auch in ihr Zimmer zurück. Dabei hatte sie sich Arme und Beine aufgeschürft, teilweise bluteten die Wunde ziemlich stark, jedoch interessierte es das Mädchen nicht mehr. Das Bett rief nach ihr. Müde ließ sie sich in den abgekühlten Stoff fallen und vergrub ihr Gesicht in ihm. Mit einem fertigen Stöhnen, sie fühlte sich abgrundtief schrecklich, kroch sie unter die Decke. Ihr Kopf pochte noch immer leicht, durch die Worte des Vampires. Amira konnte einfach keine Ruhe finden.

Zögernd streckte sie die Hand über sie aus, versuchte sie zu erkennen. Jedoch war es zu dunkel in dem Zimmer. Amira schloss die Augen. Vor ihr war erneut das Leuchten, welches sie wochenlang ignoriert hatte und ihr doch das Leben gerettet hatte. Es fühlte sich falsch an, nicht nach diesem zu greifen. Und trotzdem blutete ihr Herz. Die Trauer drohte sie wieder zu stürzen. Die Krallen in ihren Brustkorb zu versenken.

Schnell griff Amira nach dem Licht und hüllte sich damit ein. Die angenehme Wärme breitete sich augenblicklich aus, ihre dauerhafte Lethargie schwand vollständig. Aber mit ihr schwang etwas Bitteres. Augen. Augen, die sie beobachteten. Sie musterten und durchstachen.

Amira entfachte nach mehr als 2 Wochen wieder das Feuer und ließ es schweben. Langsam glitt es durch den Raum, beleuchtete jede kleinste Ecke und potenzielle Versteck. Problemlos konnte sie sie steuern, dabei hatte sie doch die Magie und alles damit Verbunde aus ihrem Herzen verbannt.

Von der Lichtquelle angeleuchtet, funkelten zwei goldene Augen aus der dunkelsten Ecke ihres Zimmers. Mit einem kleinen Handschlenker lenkte sie die Flamme darauf zu.  

„Bitte nicht verbrennen!“ Die Stimme kam ihr bekannt vor, allerdings konnte sie sie nicht durch den hellen Ton einordnen. Der Junge aus dem Wald trat mit einem beschämten Lächeln aus dem Schatten hervor.  

„Du brichst in mein Zimmer ein“, bemerkte sie. Ihr Blick glitt kurz über den nackten, muskulösen Körper bevor sie sich peinlich berührt seinem Gesicht widmete. Sie steuerte die Flamme zu ihr zurück und ließ sie über ihren Kopf schweben. Der Raum wurde in ein sanftes Licht eingehüllt. Die Schatten wuchsen und schrumpften unter dem Flackern des Feuers. Erleichterung überkam sie, nun, wo sie die Quelle der Augen kannte.

„Weil. Nun. Es wäre sinnvoller, mit dir zu reden“, antwortete er. Sein Behagen konnte Amira deutlich erkennen und sie bewunderte ihn für seinen Mut. Allerdings vertraute sie ihm nicht, schließlich hatte er sehr wahrscheinlich den Vampir umgebracht. Nachdenklich wog sie den Kopf. Andererseits konnte er auch all ihre offenen Fragen beantworten, die Lennard und sie sich nicht erklären konnten. Sein Werk wäre dann vollbracht, in Form von ihr. Die Vorstellung beflügelte ihr Herz.  

„Über was willst du mit mir reden?“ fragte Amira skeptisch und setzte sich aufrecht hin. Als wäre sie eine Klägerin vor Gericht, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, hob das Kinn und die Brust. Mit einem aufmerksamen Gesicht faltete sie die Beine übereinander, wodurch sie viel erwachsener wirkte. Und so fühlte sie sich auch. Ihr Blick galt nur seinem Gesicht.

„Zum einen solltest du die 13. Gesetze kennen und zum anderen möchte ich wissen, wer dieser Lennard Schuster ist?“  

Das bedrückende Gefühl breitete sich sofort, alleine durch den Klang seines Namens, aus. Ihre Haltung fiel ineinander und schnell verkroch sie sich unter der Decke. Amira wollte nicht über ihn reden. Es fühlte sich falsch für sie an. Noch nie zuvor hatte sie mit irgendwen über ihn und ihre besondere Beziehung gesprochen. Vor hatte sie es nun auch nicht mehr.  

Armir bemerkte zeitnah, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Es beschämte ihn, überhaupt eingebrochen zu sein, allerdings hatte er es auch nicht gewollt. Das Mädchen war dumm, naiv und nervig. Jedoch würde ihn sein werter Vater die Visiten lesen, wenn er erfuhr, dass sein Sohn einer jungen Magierin nicht die Gesetze erklärt hatte und dazu, weil sie nun mal auch ein Mädchen war, ihr nicht beistand nachdem sie einem Vampirangriff überlebt hatte.  

„Er war mein bester Freund. Leider auch mein einziger, den ich seit langem hatte. Er war es auch, der mit mir die Magie erforscht hatte“, begann das Mädchen mit schweren Herzen zu erzählen und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Magie ist eher weniger eine Forschungssache, als eine geistige Sache“, bemerkte er spitz. Sein Mund verzog sich zu einer Linie, als er mitbekam, dass dies gerade der falsche Moment war, sie zu verbessern. Still ließ er sich auf den Boden fallen. Sie war dumm.  

Amira schreckte von dem dumpfen Geräusch auf und erinnerte sie zum Weiterreden.  

„Wir haben fast 3 Monate gebraucht, bis zu unserem Durchbruch. Er schaffte es aber weiterhin nicht. Nur ich. Und so kam es, dass er eines Abends verbittert in den Wald ging, um zu trainieren. Am selben Abend stand die Polizei vor meiner Haustür. Sie hatten seine blutleere Leiche gefunden.” Bei jedem Wort wurde sie immer leise, bis es ihre Stimme einem Flüstern glich. Armir musste sein gutes Werwolfsgehör nutzen, um überhaupt noch etwas zu verstehen. Stumm flossen ihre Tränen über die Wangen und glitzerten in dem seichten Licht. Dem Jungen rutschte das Herz in die Hose. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen? Mit weinenden Mädchen konnte er nicht gerade umgehen. Leise seufzte er auf und strich sich durch das Haar.  

„Das tut mir leid“, murmelte er und stand auf. Langsam ging er auf sie zu, unschlüssig, was er nun mit ihr anstellen sollte. Er verstand Frauen nicht. Weinende nur noch mehr nicht. Sachte berührte er ihren Scheitel und strich langsam durch die Haare.  

„Hätte ich doch bloß mehr auf ihn Acht gegeben und wäre ihm eine bessere Freundin gewesen“, schluchzte sie. Automatisch, weil er es jeden Monat einmal zu seinem Bruder sagen musste, sagte er: „es ist nicht deine Schuld“. Ohne weiter darüber nachzudenken nahm er sie in die Arme. Wer tut das auch nicht, jede Nacht? Erst bei jemand Fremdes einbrechen und sie nun trösten. Stumm schüttelte Armir darüber nur den Kopf. Nie wieder würde er so etwas für eine fremde Person machen, schwor er sich entschlossen. Sein Bruder reichte ihm vollkommen.  

Obwohl Amira die Wahrheit kannte, wollte sie sie nicht wahrhaben. Es lag einfach nicht in ihrer Natur, andere zu hassen. Lieber könnte sie sich selbst ihr ganzes Leben lang nicht mehr in die Augen sehen, als irgendeinen die Schuld an seinen Tod zu geben.

„Er war alt genug, um für sich selbst zu entscheiden. Und das war nun mal seine Entscheidung. Nur er und sein Mörder tragen als einzigen die Schuld daran.” „Lennard war gerade einmal 19!“ Leise wimmerte sie auf. Sie konnte seinen Namen nicht ertragen.  

„Warum? Warum gibt’s du dir daran die Schuld? Ein Vampir hat ihn umgebracht und er ist auf eigene Verantwortung in den Wald gegangen. Warum hasst du ihn nicht? Warum forderst du nicht sein Leben?“  

Stille.

Armir wusste, dass es falsch war. Sie war nicht so aufgezogen worden, wie er. Der Tod gehörte zu seinem Leben, aber nicht zu ihrem. Er durfte sie eigentlich gar nicht weiter in diese Welt hineinziehen, denn dieses Leben, wie er es nun mal führen musste, als Sohn eines Anführers einer der größten Klans der Welt, war seins und nicht ihres. Diese Welt war seine und geriet sie erst einmal richtig in diese, würde kein einziger Weg das Mädchen zurückführen. Es würde sie zerbrechen, zerstören. Sie würde in dieser Welt untergehen und als ein Monster wiederkehren. Vielleicht ein schrecklicheres als er es selbst war. Allein der stetige Verlust von Freunden und Familie wäre wohl Grund genug. So hatte er selbst erst vor 3 Monaten seinen älteren Bruder wegen einer Schießerei und seine jüngere Schwester durch einen Kampf gegen die Vampire für immer verloren. Armir hatte seine halbe Familie begraben müssen und noch mehr Freunde. Der Kampf gegen die Dämonen war zwar erfolgreich, aber alles andere als ruhmreich. Und es war sein Kampf, nicht ihrer. Aber würde sie sich trotzdem für diese grauenvolle Welt entscheiden, müssten vielleicht so viele weniger leiden. Er wollte sie in dieser Welt teilhaben, zum Schutz anderer, das wurde ihm inzwischen ziemlich deutlich bewusst.

„Weil es falsch ist“ antwortete Amira verbittert und riss ihn damit aus seinen Gedanken und der leichten Trauer. „Und wer richtet dann über sie? Nach wie vielen Tagen wurden die Ermittlungen eingestellt? Das hier ist eine gottlose Welt! So etwas wie Karma gibt es nicht und erst recht kein Gott, der das für dich erledigt. Das musst du schon selber.” So wie ich. Erzürnt war Armir aufgesprungen, die Augen zornig zusammengekniffen. Stumm kuschelte sie sich an ihr Kissen und dachte über seine Worte nach.  

„Tut ihr das nicht? Ihr Clans?“ „Ja, aber wir sind nicht allmächtig und allsehend. Wir brauchen Beweise, die wir nun mal nicht suchen können, weil wir uns noch um andere Dinge kümmern müssen“, entgegnete er aggressiv. Seine Stimme bebte, krampfhaft hielt er seinen inneren Wolf zurück. Ihm gefiel es überhaupt nicht, dass sie ihm die ganze Arbeit und somit auch Verantwortung aufzwang. Für ihre heile Welt.  

„Ein Drittel unseres kompletten Klans wurde ausgelöscht und Monat für Monat sterben mehr. Wir sind nun mal nicht stark genug, um gegen die Dämonen zu bestehen. Aber du, du könntest was zumindest gegen die scheiß Blutsauger ausrichten. Du bist stark. Du beherrschst die Magie.“ Mit großen Augen wies er auf die Flamme, welche noch immer über ihren Kopf loderte.  

Still sah Amira ihn an.  

„So wird das nichts“, brummte Armir wütend. Er verstand nicht, warum sie so stumm blieb. Dabei hatten seine eigenen Worte ihn so sehr mitgenommen und all die tiefen Wünsche und Erinnerungen hatten den Weg zurück in sein Gedächtnis gefunden. All die sinnlosen, irrationalen Gefühle. Wenn er sie überzeugen wollte, dann anders. Wollte er sie in dieser Welt teilhaben, dann musste er halt etwas über sie erzählen.

„Was weißt du über die Magie?“ fragte der Junge furios.

„Nicht viel“, murmelte Amira nach einer kleinen Ewigkeit. Sie hatte sich inzwischen so gut wie vollständig unter der Bettdecke, welche ihr Wärme und Sicherheit schenkte. Das Thema hatte sie hinuntergezogen, in einen elegischen Zustand versetzt.  

„Du weißt wie man sie anwendet. Also besitzt du schon mal die wichtigsten Dinge. Vorstellungs- und Willenskraft.“ „Und eine Formel im Kopf“, bemerkte sie. „Die braucht man nicht. Das einzige was du brauchst sind nur die zwei Dingen und damit kannst du die ganze Welt verändern. Naja, wenn du genug Magiereserven besitzt. Aber für einfache Magie besitzt die jeder, bloß bei hochrangiger, zerstörerischer Magie sieht das anders aus.“ Still dachte sie über seine Worte nach. Lennard hatte also wirklich komplett umsonst, für nichts und wieder nichts, eine Formel entwickelt. Mit erneuten Tränen in den Augen, biss sie sich auf die Lippen. Vielleicht könnte sie, auch wenn es unmöglich ist, ihn wiederbeleben.  

„Kann man seinen Magiespeicher, oder so ähnlich, erweitern?“ Es wäre hochrangige Magie dafür zuständig, das war ihr bewusst.

„Ja, aber auch nur bis zu einem gewissen Punkt. Man kann diesen zwar auch noch durch verschiedene Dinger hinausziehen oder verringern. Zum Beispiel können Vampire und Werwölfe niemals mehr Magie nutzen als Menschen.” „Kann ich die Toten wiederbeleben?“ Amira hielt den Atem an. „Nun ja, es gibt da paar Methoden. Aber sie sind schwer“, brummte er. Still fügte er in Gedanken hinzu: „und nur an vor kurz Verstorbenen anwendbar“.

„Wo kann ich das lernen?“ Armir bemerkte das Funkeln in ihren Augen. Als hätte er ihr einen neuen Lebenswillen eingeschenkt. Aufrecht saß sie im Bett und hing wortwörtlich an seinen Lippen. Innerlich grinste er auf. Er hatte es geschafft. Sie würde ihn in seine Welt folgen und alles dafür tun, um ihren Lover zurückzuholen. Dazu zählte auch gegen Dämonen kämpfen.

„Mein Da…mein Vater kennt ein paar Magier. Vielleicht würde er sie dir vorstellen und einer von denen würde dich zum Lehrling nehmen. Vermutlich möchte er sowieso ein Auge auf dich werfen. Es ist ja seine Aufgabe.” Begeistert nickte Amira. Sie bemerkte nicht einmal seine niedergeschlagene, fast schon erbitterte Stimmenlage. Er verzog schwach das Gesicht.  

Wann lerne ich ihn kennen?“ Ihre Stimme stieg ein paar Oktaven höher.

„Musst du irgendwo morgen früh hin?“  

„Ja, zu seiner Beerdigung.“

Erneute Stille. Ihre Freude war erloschen. Langsam sank ihr Kopf und frustriert blickte sie auf ihre Hände hinab, um an ihnen sein Blut heftend zu erkennen. Doch der Vampir hatte ihn alle seines geraubt. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Schnell schüttelte sie den Kopf und versuchte jede kleine, negative Erinnerung an ihn zu verbannen. Allerdings schmerzte es sie nur noch mehr. Morgen war es soweit.

„Okay. Wir werden da sein und dich danach abholen“, entgegnete Armir schnell. Ein aufrichtiges Lächeln zierte seine Lippen und fast schon fürsorglich streichelte er einen kurzen Moment ihren Kopf. Dankend versuchte sie ebenfalls zu lächeln, jedoch glich es eher einer schauderhaften Grimasse.  

„Danke. Das wäre lieb von euch. Ich kann seinen Eltern einfach nicht in die Augen schauen“, murmelte sie. „Immer doch.” Kurz strich er ihr nochmals über die Haare, bevor er seine Hand zurückzog und sich von ihr entfernte.

„Ich habe noch ein wenig Zeit. Soll ich dir noch paar weitere Dinge über die magische Welt erzählen?“ fragte Armir. Wenn er sie wirklich dort hineinziehen wollte, musste er sie besser überzeugen. Ihnen fehlte es einfach an Kriegern und sein Vater würde stolz auf ihn sein, endlich einmal. Doch erst einmal musste er ihm davon erzählen.

Amira nickte begeistert. Sie kam sich zwar etwas lächerlich vor, allerdings wollte sie ihre Friede-Freude-Eierkuchen Maske aufsetzen. Die, welche niemanden Sorgen bereitete. Und vor allem das wollte sie. Der Junge setzte sich so stark für sie ein, half ihr mehr als jeder andere in diesen zwei Wochen. Und nun wollte sie ihn ein wenig entgegenkommen. Sie hatte genug vor ihm geweint. Er wollte sich mit ihr über die Magie unterhalten, also wollte sie ihm auch den Gefallen tun und mitspielen. Noch einmal in einer einfachen, banalen Welt leben, die so falsch und naiv war.

„Okay, also ehrlich gesagt kenne ich mich nicht viel mit Magie aus. Aber, ähm, es gibt zwei Arten von Magiern. Kampfmagier und Naturmagier“, versuchte er zu erklären.  

„Und was ist der Unterschied? Zu was zähle ich eigentlich?“ Neugierig stützte Amira ihren Kopf ab und suchte seinen Blick, wobei ihre Wangen zu glühen begannen. Sie versuchte vergeblich, ihre Augen auf seinem Gesicht zu belassen.  

„Zu den Kampfmagiern und vor du etwas sagen willst. Ja, mir ist schon klar, dass das auch zur Natur zählt. Aber der Unterschied ist der, dass die Naturmagier friedvoll sind. Sie nutzen ihre Magie nicht zum Kämpfen, sondern leben friedvoll mit der Natur und allen Lebewesen. Du könntest sie also auch als Weisen oder Heiler ansehen. Manche bezeichnen sie deswegen auch als Druiden oder weiße Hexer. Andere zählen auch die Alchemisten als Magier. Nun ja, die Magie ist erst jetzt zurückgekehrt, deswegen kann man sie zurzeit schlecht Unterteilen. Aber in 100 Jahren sieht das alles noch einmal anders aus…vermutlich“.  

„Und die Magier deines Vaters? Was sind das für Magier?“ „Sie sind Naturmagier. Allerdings beherrscht auch einer von ihnen die Kampfmagie ausgezeichnet.“

„Und die 13 Gesetze?“ Amira war so neugierig wie noch nie. Tausende Fragen brannten auf ihrer Zunge und sie wollte alles über die magische Welt erfahren. Angefangen mit der Magie, den Gesetzten, ihre Bewohner und endend mit dem Clan und den Dämonen.

„Das sind unsere Grundsätze, die jedes magische Wesen, die du als Magierin natürlich auch, befolgen muss. Vielleicht wäre es schlau, wenn ich dir morgen eine Kopie von den Gesetzen mitbringe.“ Armir verschränkte die Arme und legte den Kopf schräg. Nachdenklich begann er auf seiner Lippe zu kauen, wie auf einen Kaugummi.  

„Und was besagen sie?“ Innerlich stöhnte der junge Werwolf auf. Wie sehr er doch ihre Unwissenheit, aber vor allem die Gesetze hasste. Nicht als diese, weil sie existierten, sondern seine Mutter ihn sie stundenlang auswendig lernen lassen hatte. Er, als Sohn Aron Custos, musste sie ja können.  

„Also, das erste Gesetz besagt, dass man keinen Menschen töten oder ihn mit diesen Absichten angreifen darf. Zweitens, jeder muss in Gefahr geratene Menschen schützen und retten. Naja daran hält sich aber niemand. Drittens, kein Mensch darf in die Konflikte der magischen Welt hineingezogen werden. Die Existenz der magischen Welt muss verschwiegen werden. Viertens, man darf keinen Menschen einfach verwandeln. Zuvor muss man sich die Erlaubnis von einen der 13 großen Clans abholen. Danach muss man natürlich auch die volle Verantwortung für diesen tragen und ihn schützen. Fünftens, man muss bei einem der Clans oder Unterclans gemeldet sein und immer erreichbar. Sechstens, das Clanoberhaupt darf über seine Mitglieder verfügen und selber die Strafen festlegen, jedoch neutral. Siebentens, Gleichberechtigung. Achtens, Toleranz. Neuntens, Recht auf Hinrichtung und Rache. Zehntens, Recht auf Revier. Elftens, Recht auf zustehender Beute. Zwölftens, Recht auf Krieg. Und Dreizehntens ist ein verbot über schwarze Magie und spezielle Experimente“, zählte er gelangweilt auf. Stumm hörte Amira zu und versuchte sich jedes einzelne Gesetz einzuprägen. An sich waren diese auch einfach, allerdings fühlte sich ihr Kopf wie leergefegt an. Kein einziges blieb wirklich hängen.

„Aller verstanden? Wenn nicht kannst du dir morgen in aller Ruhe nochmal alles durchlesen. Meine Mutter beantwortet dir auch liebend gerne alle Fragen. Schließlich hat sie die Gesetze für die deutsche Sprache niedergeschrieben.“ Er seufzte laut auf. Der alleinige Gedanke an seine Mutter versetzte ihn in schlechte Stimmung.

„Ähm okay“, gab Amira nur von sich. „Ich weiß. Langweilige, eigentlich natürliche Regeln, aber naja.” „Und die muss ich auch alle befolgen?“ Ihr wurde schwer ums Herz. Wenn sie auch nur einen Menschen, warum auch immer, mit Mordabsichten angriff, hieß das für sie der Galgen. Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf den Armen aus. Das hier war nicht mehr die normale Welt, wie sie sie einst kannte.  

„Jup. Zwar wirst du nicht direkt hingerichtet, weil du ein besonderer Fall bist, aber ja, du musst sie befolgen.” Erleichtert atmete die Siebzehnjährige augenblicklich auf. Armir legte laut lachend seinen Kopf in den Nacken. Obwohl er wusste, sie würde die Regeln sowieso befolgen, fand er ihre Reaktion doch sehr amüsant.  

„Sag mal, hattet ihr von irgendwen Hilfe? Also um naja, das zu lerne“ Er wies mit einer leichten Handbewegung auf die noch immer leuchtende Flamme über dem Bett. Es war eine rein theoretische Frage, ohne Logik, für seinen Vater. Dieser würde ihn die Visiten lesen, würde er nicht alle Vorkehrungen befolgen.  

Amiras Stimmung sank und still sah sie auf ihre Hände hinab. „Nein. Wir haben uns das vollkommen alleine beigebracht“, antwortete sie mit zitternder Stimme.  

Still schüttelte er den Kopf. Er war wirklich grottenschlecht in trösten. Nun würde sie gleich wieder heulen und dann konnte er wieder nichts tun. Ein Teufelskreis.

„Weswegen warst du eigentlich vorhin im Wald? Es sah nicht gerade so aus, als wolltest du gegen den Vampir kämpfen.“ Eine weitere dämliche Frage, die sie verletzte. Laut stöhnte er auf. Er konnte seine eigene Dummheit und die nicht vorhandene Sentimentalität manchmal nicht fassen. Dabei hatte es sich selbst noch vor kurzem über das Mädchen beschwert.  

„Als ob ich irgendwen töten könnte. Ich wollte einfach nur raus, mir die Beine vertreten. Und sie haben mich halt dorthin geführt.“ Statt wie erwartet noch trauriger zu wirken, funkelten ihre Augen ihn wütend an. „Vielleicht solltest du dir einen Psychologen suchen?“ bemerkte er spitz. Und da war sie wieder. Ihr Blick fand Armir einfach nur zu lustig, als dass er sich das Kommentar hätte knöpfen können. Mit dem Trösten hatte er es sowieso aufgegeben.  

„Einer fremden Person alles anvertrauen? Damit breche ich doch gleich Gesetz Nummer Drei, wenn ich mich richtig erinnere. Aber was ist mit dir? Du tickst doch auch nicht ganz richtig im Kopf! Stachelst Leute zum Mord an, tötest mit Freude einen Vampir und brichst danach einfach in mein Zimmer ein!“ entgegnete sie noch immer aufgebracht. Ihre Stimme war schrill, die Augenbrauen wütend zusammengezogen. Laut schnappte sie nach Luft.

„Angst?“ Belustigt hob er eine seiner dicken Brauen.  

„Wer bitte flehte hier darum, nicht verbrannt zu werden.“ Sie senkte die Flamme zwischen ihn. Bedrohlich leuchtete das Feuer auf und gewann an Größe, bis sie den Jungen umhüllte, ihn jedoch nicht verletzte.  

„Du bist lustig.“  

„Und du komisch.“

Amira ließ mit dem Feuer von ihn ab und formte es erneut zu einer kleinen Leuchtkugel. Dankend ging er in Richtung Fenster. „Nun dann, Mylady. Euer Schönheitsschlaf ruft, Eure Stimmung ist reizvoller als die einer Katze und ich muss auch noch ein paar Dinge verrichten. Wir sehen uns morgen auf der Beerdigung. Gute Nacht.“ Ohne dass sie etwas erwidern konnte, hatte es sich mit den Rücken voraus und laut lachend aus dem Fenster fallen lassen. Stumm sah Amira ihm hinter her. Hoffentlich hat er sich etwas gebrochen. Er hat es verdient.

Die dunkle Nacht, der kleine Zeiger einer Uhr schlug 3 Uhr morgens, verschluckte den Jungen vollständig und machte ihm zu einen seines Gleichen. Er glich mehr einem Schatten, als einen Menschen.


 

Kapitel 2

Mit trüben Augen musterte Amira sich in dem Wandspiegel. Das schlichte, schwarze Spitzenkleid lag locker an der Haut, betonte jedoch noch immer die unvorteilhaften Stellen. Sieben Kilogramm hatte sie allein in den letzten zwei Wochen abgenommen, die Trauer schnürte ihr die Kehle zu, und trotzdem wog sie laut ihr noch immer zu viel. Das Kleid ließ sie klein und dick wirken. Ihre kurzen Arme und Beine zu dick, der Bauch zu sichtbar. Jedoch besaß sie nichts besser.

Unwohl zupfte sie ein weiteres Mal an dem Kleidungsstück herum, ohne ein erfolgreiches Ergebnis zu erlangen, bevor sie sich dann um eine anständige Frisur nötigte. Vielleicht konnte sie wenigstens so ihren zu rundem Kopf schön und anmutig wirken lassen.

Schlussendlich entschied Amira sich für einen einfachen Dutt, aus welchen zwei Strähnen heraushingen und ihr Gesicht umrahmten. In seichten Wellen fielen sie ihr auf die Schultern. Sie hob den Kopf, straffte die Brust und versuchte etwas Schönes an sich in ihrem Spiegelbild zu finden. Vergeblich. Selbst ihre sonst so fröhlichen Augen sahen ihr schmerzerfüllt und voller Trauer entgegen. Es war sein Tag.  

Ein leichtes, gezwungenes Lächeln formte sich auf ihren schmalen Lippen, während es ihr restliches Gesicht nicht erreichte und so schaute sie eher einer Puppe entgegen, als einem Menschen. Möge Gott mir beistehen.

Im Hintergrund erklang der Wecker ihres Handys. Schnell drehte Amira sich zu ihm und schaltete ihn ab. Es war so weit. Heute würde sie ihm die letzte Ehre erweisen.  

Mit dem gleichen Lächeln auf dem Gesicht schritt Amira die Treppe hinunter und suchte ihren Vater. Er wollte sie zum Friedhof fahren, denn ihre Mutter hatte keine Zeit. Sie musste arbeiten, wie so oft.

„Papa, ich bin soweit“, murmelte Amira leise, nachdem sie ihm am Esstisch mit Unterlagen gefunden hatte. Er drehte sich verwirrt um. Seine Augen musterten sie so gut, wie es mit der dicken Lesebrille, die schief saß, ging. Erst dann verstand er, was sie von ihm wollte. Sein Haar schwand stetig, stattdessen wuchsen welche an seinen Ohren. Amira grauste es davor, alt zu werden. Ihre Mutter sah noch bildhübsch aus, mit ein paar Faltern, doch er... Schnell schüttelte sie den Kopf.

„Super. Dann lass uns gehen.“ Zügig stand er auf und ging zur Haustür. Er griff zu einer alten Lederjacke, die er schon seit Ewigkeiten besaß. Die ausgeblichene Jeans war ihm ein wenig zu groß war und einen weinroten Pulli versuchte den breiten Gürtel zu verstecken. Seine Kleidung war alle Male nicht für eine Beerdigung geeignet. Er wollte sie nur hinfahren, aber nicht mitkommen.  

Die Fahrt verlief kurz und Problemlos. Amira hatte sich von ihrem Vater mit einem knappen Kuss auf die Wange verabschiedet und war den alten Steinpfad zu Kapelle hinauf gefolgt. Neugierig sah sie sich um. Nicht wenige Menschen waren erschienen und immer mehr folgten ihnen. Jeder trug die Farbe der Trauer – schwarz. Mattes Schwarz, Schwarzblau oder auch dunkles Schwarz. Die Frauen in Kleidern oder Hosenanzügen, während die Männer in schwarzen Anzügen oder gleichfarbigen Jeans und Hemd gekleidet waren. Die Gesichter der Anwesenden waren gleich. Trauer und entsetzen, darüber, dass ein so junger Mensch so früh schon gegangen war.  

In der Mitte der Menge konnte Amira Herr und Frau Schuster ausmachen. Frau Schuster trug ein einfaches, schwarzes Kleid mit einer schlichten Hochsteckfrisur. Ihr Gesicht war weich, den schmerzlichen Verlust deutlich ins Gesicht geschrieben. Herr Schuster hatte das Reden für sie übernommen. Er wirkte wie ein strenger, fast schon militärischer Mensch. Seine Gesichtszüge waren hart, allerdings die Augen blutunterlaufen. Seine Wangenknochen stachen hervor und zeugten von einer Nahrungsuntersagung.  

Tief atmete Amira ein, bevor sie einen Schritt nach dem anderen setzte, um Herr und Frau Schuster zu grüßen. Ihr war übel. Nicht nur ein wenig. Stattdessen wollte sie sich am liebsten gleich hinter den nächsten Busch verschwinden und ihr komplettes Frühstück wieder ausspeien. Wie sollte sie das bloß überstehen?

Der alleinige Anblick der trauernden Eltern schnürte ihr erneut die Kehle zu. Ihr Herz fühlte sich augenblicklich tausendmal schwerer an. Die Schuld lastete auf ihren Schultern. Sie konnte nicht. Es ist sein Tag.  

Amira setzte einen Schritt nach den anderen. Eine einzige Windböe würde reichen, um sie umzuwerfen. Zitternd schlugen ihre Knie gegeneinander und wütend biss sie sich auf die Innenseite ihrer Wange. Der Drang wegzulaufen, war selten so stark gewesen.  

Sie erreichte die ersten, einzelnen Personen. Jugendliche, kaum älter als sie selbst, mit heiteren Gesichtern. Leise rissen sie Scherze, oder redeten über die neusten Schulgerüchte. Amira vermutete, dass sie seine Klassenkameraden und Bekannte gewesen waren. Lennard hatte ihr nur selten von seinen Freunden erzählt, er hielt sie nicht für allzu wichtig, doch sie wusste, dass sie existierten und es nicht gerade wenige waren. Auch wenn sie diese mehr als Bekanntschaften betrachtete.

Die Gruppe bestanden aus ein paar wenigen Mädchen, doch der größte Anteil wurde von Jungen dominiert. Aufmunternd lächelte ihr einer dieser Jungen, sie hatte ihn sicherlich schon einmal gesehen, zu. Mit großen, lockeren Schritten ging er auf sie zu.

„Hey, du bist Amira, oder?“ begrüßte er sie. Seine Haltung war lässig, die Hände hatte er in einer dunkelblauen Jeans vergraben. „Ja“, brachte sie nur hervor. Das Mädchen wusste nicht ganz recht, was er von ihr wollte und fühlte sich augenblicklich nur noch unwohler in ihrer Haut.

„Ich bin Phillip und bin in seiner Klasse. Wir sind uns manchmal über den Weg gelaufen, falls du dich noch erinnern kannst?“ Erwartungsvoll sah er zu ihr hinab. Er kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht woher.  

„Sorry, nein.“ Ihr Blick glitt abermals über ihn und blieb dann hinter jemanden hängen. Nicht weit entfernt stand Armir mit einem älteren Jungen und anscheinend seinen Vater. Sie waren also wirklich gekommen.

„Nicht schlimm. Dafür kann ich mich noch an dich erinnern. Weißt du, Lennard und ich waren Freunde. Er hatte manchmal von dir erzählt…uns sogar ein wenig oft für dich hängen gelassen“, erzählte er.  

Amira hörte ihm kaum zu. Ihr Blick galt den Werwölfen, deren goldenen Augen sie schon von hier aus erkennen konnte. „Entschuldige mich, ich muss noch ein paar Leute begrüßen“, wimmelte sie den Jungen ab und ließ ihn damit stehen. Mit einem seichten Lächeln lief sie zu Herrn und Frau Schuster. Sie hatte die beiden nicht oft gesehen, nur manchmal, wenn sie bei ihm gewesen war. Alle 2 Wochen einmal. Trotzdem hatte sie das Paar ins Herzen geschlossen.

„Hallo“ begrüßte sie die beiden. Ein warmes Lächeln bildete sich auf Frau Schusters Lippen und Herr Schusters Gesichtszüge wurden weicher. „Hallo Amira. Schön, dass du gekommen bist“, erwiderte Herr Schuster. „Das ist das wenigste, was ich für ihn noch tun könnte.“  

Traurig schwiegen sie. Amira wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Gut genug kannte sie seine Eltern auch nicht, um mit ihnen über irgendetwas zu witzeln oder eine Unterhaltung zu führen. Sie hob den Kopf.

„Ich…ich muss weiter. Wir sehen uns drinnen?“ Nervös biss sie sich auf die Lippen und wartete auf eine Antwort. „Klar, Herzchen.“ Dankend lächelten sie sich an und dann bewegte Amira sich weiter durch die Menschenmengen. Ihr Blick galt den Custos‘. Mit zügigen Schritten ging das Mädchen auf diese zu, während ihr Magen sich zusammenzog.  

Der junge Armir lächelte sie fröhlich an, welches sie nicht erwidern konnte. Ihr war dafür nicht zumute. „Hey. Ihr seid wirklich gekommen“, stellte Amira fest, nicht wissend, was sie sonst sagen sollte.  Ihre Stimme bebte unter ihrer Nervosität.

„Klar, wie versprochen.“  

Still musterte Amira die Drei. Armir kannte sie bereits mit Leib und Seele. Ersteres ließ ihr erneut die Röte in die Wange steigen. Den Jungen jedoch im Tageslicht zu sehen, war noch mal etwas anderes. Seine Haut wirkte gebräunter, die Augen leuchteten nicht mehr so extrem. Es war ein dunkleres Gold, das man mit einen sehr hellen braunen verwechseln könnte. Der Junge neben ihm kam ihr ebenso bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Bloß wo? Sein Haar hing ihm tief in das Gesicht, die langen Locken waren noch dunkler als die Armirs und gingen ihm bis zu den Augen. Sein Gold glänzte heimtückisch.

Stumm musterte Amira ihn an, zu schüchtern um ihn zu fragen.

Armir verfolgte mein Blick und sein Lächeln wurde größer. „Das ist Suresh, mein älterer Bruder“, erklärte er. Der Angesprochene hob den Kopf und blickte sie an. Seine Augen flogen über jedes kleinste Detail, bis er ihr solide zu nickte. Sie wusste nun auch woher. Lennard hatte seinen Namen in einen ihrer Gespräche erwähnt.

„Du kanntest Lennard!“ rief sie ihren Gedanken aus, bevor sie ihre Hände vor dem Mund schlagen konnte. Verwundert hob er eine Braue und schaute ihr direkt in die Augen. „Du irrst dich.“ Seine Stimme war dominant, für keine Widerrede ausgelegt.

„Nein. Er hat mir von dir erzählt“, entgegnete Amira entschlossen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf leicht schief. Nun, wo ihr Ersteres herausgerutscht war, fiel es ihr leichter, weiter zu sprechen.  

Interessiert trat Aron heran. Missbilligend hatte er die Lippen geschürzt und betrachtete seinen ältesten, noch lebenden Sohn. „Ist das wahr?“ Seine raue, tiefe Stimme ließ sie alle innerlich erzittern.  

„Ich weiß nicht, ob Lennard Schuster über mich geredet hat, Vater“, antworte Suresh mit ruhiger Stimme. Sie war dunkler als die seines Bruders. Seine Gesichtszüge waren ebenso erwachsener und die Augen leuchteten in einem intensiveren Gold, noch immer der tückische Glanz in ihnen.

„Kanntest du ihn?“ Suresh verzog keine Miene. „Ja“, antwortete er. Seine Stimme war gefasst.  

Amira zog wütend die Luft ein, obwohl ihr das Atmen schwerfiel. Die aktive Anwesenheit des Vaters schüchterte sie ein, ließ sie klein fühlen. Nicht nur was sein kräftiger, großer Körperbau dafür verantwortlich. Die Jahre als Anführer umgaben ihn nun als ein dauerhaft ausstrahlendes Gefühl der Macht und Einschüchterung.

„Warum lügst du dann?“ Arons Augen leuchteten bedrohlich auf und sein Kiefer spannte sich merklich an. „Um Fragen ihrerseits aus dem Weg zu gehen.“ Mit einem Kopfnicken wies der Junge auf sie. Aron spannte sich merklich an, sein Blick galt kurz der Menge. Die Muskeln unter dem Anzug traten stark hervor und ein leises Knurren war zu hören.

Darauf versenkte er seine eiserne Faust in Sureshs Magen. Laut keuchte der Junge auf. Er fühlte sich benebelt von dem Schlag. Die Welt drehte sich einen kurzen Augenblick, dann hob er das Kinn und blickte seinen Vater, so gut wie er es noch konnte, kalt in die Augen. Still sahen sie einander an. Sein Vater schien nicht die Geduld zu besitzen und löste den Augenkontakt.  

„Was hatte denn Lennard über meinen Sohn erzählt?“ fragte Aron mit bedrohlichem Interesse. Amira zuckte zusammen. Es überraschte sie, angesprochen zu werden. Schnell schüttelte sie den Kopf und schaute zu ihn auf. „Nicht viel. Suresh ist ein Werwolf und dass sie ein Gespräch geführt hätten, über die magische Welt. Über die Regeln und ihre Bewohner. Und über die Dämonen“, murmelte sie. Schweiß bildete sich an ihren Händen. Sie fühlte sich recht unwohl in seiner Nähe.

Arons Kopf glitt ganz langsam wieder zu seinem Sohn. Laut knackte sein Kiefer vor lauter Anstrengung. Ihm umgab keine Mordlust, soweit würde er niemals gehen, aber purer Zorn. Suresh sah auf seine Schuhe. Er spürte die blanke Wut seines Vaters mit jeder Zelle seines Körpers. Sie rieten ihn zu fliehen, so lange er das noch konnte. Doch er war der älteste Sohn seines ehrenwerten Vaters und damit der Erbe des Clans. Der nächste Anführer. Er konnte sich keine Schwäche leisten. Durfte keine Angst zeigen.  

Ohne Emotionen sah er auf, direkt in die brodelnden Augen seines Vaters, die in einem intensiven Gold leuchteten „Warum hast du nichts gesagt? Armir hat es doch auch geschafft.“ Die freundlichen Worte waren Fassade. Wenn er nach Hause kommen würde, würde ihm sehen und hören vergehen. Dem war sich Suresh bewusst. Sein Vater hielt sich wegen Amira zurück. Vermutlich sollte sie nicht denken, was für ein Monster er war, was er nun einmal war. Sie lebte in einer anderen, glücklichen Welt.

„Ich bin dein ältester, noch lebender Sohn. Seit Airans Tod habe ich Verpflichtungen und einen Platz, den ich in naher Zukunft einnehmen muss. Dafür brauche ich Erfahrungen. Ich habe nur versucht, dir die Arbeit ein wenig abzunehmen“, antwortete Suresh. Stolz hob er das Kinn und die Brust. Egal was sein Vater ihm auch antun würde. Egal wie hart er ihn bestrafen würde. Er würde seinen Platz einnehmen und ein mächtiger Anführer werden. Er würde dafür alles ertragen.  

„Nun, den hast du nicht. Habe ich dir jemals gesagt, es auch nur angedeutet, dass du mein Nachfolger wirst. Nein, das habe ich nicht. Wenn du es auch noch ein einziges Mal wagst, dann wird dir kein Gott mehr beistehen können.“ Die Worte lagen schwer in der Luft. Hass funkelte in Sureshs Augen auf.  

„Natürlich.“ Mehr konnte er nicht sagen. Sein Kopf dröhnte, sein Herz schmerzte. Er war von seinem eigenen Vater abgelehnt worden. Aggressiv schüttelte er den Kopf. Wen wollte er sonst als nächsten Anführer nehmen? Seine Schwestern? Laut hätte er loslachen können. Seine Schwestern waren schwach; nutzlos. Lebten in ihrer scheinheiligen Welt, genauso wie Amira Langford, und drückten sich vor jeder Verpflichtung.  

„Schön zu wissen, dass ich der Familie Custos‘ und dem Clan keine größere Schande bringen könnte, als du sie bringen wirst.“ Mit diesen Worten drehte sich Suresh um. Er kannte die Konsequenzen, jetzt sollte er lieber die Beine in die Hände nehmen. Und das tat er. Mit einem Ruck verwandelte er sich in einen riesigen Wolf, die Kleidung riss und hing ihm als Fetzen am Körper, und rannte los. Fort von seinem Vater, Amira und den trauernden Gästen.

Amira konnte nicht anders, als fasziniert zu sein. Der Anblick des Wolfes, mit seinen hasserfüllten, fließend goldenen Augen, hielt sie im Bann. Ließ sie das Atmen vergessen.  

„Es tut mir leid, dass du diesen kleinen Familienstreit miterleben musstest. Eigentlich bin ich nicht so“, wandte Aron sich an sie. Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Sie fühlte sich winzig neben ihn, wie ein Nichts. Stumm nickte Amira nur.  

„Ich muss mich um wichtige Angelegenheiten kümmern, deswegen lasse ich dir meinen dritten Sohn da. Er bringt dich später zu mir. Ich muss mit dir noch reden.“ Seine Stimme ließen keine Widerworte zu und so nickte sie erneut. Sie wusste nicht, ob es Angst war oder höchster Respekt, die sie spürte, doch sie war deutlich eingeschüchtert. Er nahm ihr die Luft zum Atmen, die Stimme zum Sprechen und den Mut ihre Gedanken laut auszusprechen - dass er wahrhaftig ein Monster war.

Ohne ein weiteres Wort stapfte Aron die Böschung hinab, zum Friedhofsausgang. Manche sahen ihn verwundert hinterher, doch Amira war es recht.  

„Ist…ist er immer so?“ stotterte sie. Verlegen zupfte sie an ihrer Kleidung und versuchte den Blick zu heben. Missmutig biss sie sich auf die Unterlippe. Ihr war das alles nicht so wirklich recht. Aron war gruselig, Suresh war ein Lügner und sein jüngerer Bruder…nun ein Einbrecher und Mörder.

„Er kann manchmal echt gruselig und streng sein, aber du darfst nicht vergessen, dass er zurzeit viel erlebt. Suresh war auch nicht gerade nett. Zwei meiner Geschwister sind vor kurzen gestorben, der Älteste und darauffolgend meine älteste Schwester. Er; wir alle, haben das noch nicht so wirklich verkraftet. Aber du darfst es ihn nicht vorrechnen. Ihn trifft keine Schuld.“ Sie spürte seinen warmen Blick auf ihr. Zögerlich hob sie den Kopf und versuchte etwas zu erwidern; vergeblich. Er war auf einmal ein anderer Mensch. Nicht ganz so aufgedreht und viel erwachsener.

„Trotzdem ging das zu weit“, murmelte Amira. Obwohl sie nicht das Recht besaß, über ihn zu urteilen, so konnte sie nicht wegsehen. Nicht noch einmal.

„Komm, lass uns reingehen. Es scheint gleich los zu gehen“, bemerkte Armir  heiter, ein neues Lächeln zierte seine vollen Lippen. Leise stimmte Amira ihn zu, auch wenn sie lieber draußen bleiben wollte. Sie schluckte. Heute war sein Tag. Stumm lief sie neben Armir her und setzte sich in dem Kirchengebäude in die erste Reihe, ihren zugewiesenen Platz.  

Das Holz war glatt, die Polster dünn und in einem einfachen Schwarz gehalten. Leise lief die Trauermusik im Hintergrund. Für Elise von Beethoven, allerdings abgewandelt und mit mehr Instrumenten. Die zarten Klänge der Violine bereiteten Amira Gänsehaut. Durch die bunten Glasfenster der Kapelle schien ein eigenes Lichtspiel, als wollen sie sich ebenso von ihm verabschieden. Und vorne, am Altar stand die schwarze Urne, verziert mit goldenen Schnörkeln.

Neben Amira saßen seine zwei Cousinen, zwei dreizehnjährige mit blonden Haaren, und weinten ununterbrochen. Die Trauer steckte sie an, fraß sich ganz langsam durch ihr Herz. Doch sie verbot sich jede einzelne Träne. Er hätte es so nicht gewollt.

Mit zitternden Händen richtete Amira sich auf und lauschte den Worten des Pfarrers, begleitet von dem leisen Schluchzen der Trauernden. Es dauerte für sie nicht lange, bis das Abschlusslied If I die young gelaufen war und die Gäste aufstanden, um seinen Leichnam zum gewählten, letzten Ort zu begleiten.

Die Sonne strahlte noch immer, als sie mit dem Trauermarsch das Gebäude verließ und den schmalen Wegen zu einer braungrünen Wiese. Ein kleines, klaffendes Loch lag schon bereit offen. Rosenblüten und Erde lag fein säuberlich in zwei Schalen und hinter all dem stand ein prächtiges Marmorkreuz. Weiße Schrift auf glatten, schwarzen Stein.  

Lennard Schuster

6.6.1996 - 1.9.2015  

Und wenn du gehst, bleibst du - tief in aller unsrer Herzen.  

Amira konnte nur fasziniert und gleichzeitig beängstigt auf seinen letzten Ort blicken. Selbst die erneut traurigen Worte des Pfarrers bekam sie nicht mit, bis sich 2 Leute in ihr Bild drängten und den Grabstein, sowie die Aushöhlung. Die Urne wurde von zwei Männern an Seilen in die Erde gegeben, wo sie 20 Jahre lang ruhen sollte, vielleicht auch eins zwei Jahrzehnte mehr. Amira wurde schlecht.

Seine Eltern traten heran und warfen Erde und Rosenblätter zu ihm, die engsten Gäste folgten ihnen. So auch sie selbst. Ihre Hände bebten, ihr Atem ging schnell, als sie nach diesen griff. Sie bekam keine Luft mehr. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft zum Atmen ab. Schnell ließ sie beides in das ausgehobene Grab fallen und wandte sich dann ab.

Doch statt zu Armir zurück zu gehen, lief sie eilig zu Lennards Eltern, welche Arm in Arm standen und die Menge beobachteten. “Herr Schuster, Frau Schuster, es tut mir leid, aber ich kann das nicht mehr. Ich...diese Beerdigung...es schmerzt zu sehr. Ich muss hier weg.” Ohne weitere Worte drehte sich Amira um und lief los.  

Manche wollten sie aufhalten, oder sie ermuntern, jedoch lief Amira einfach nur weiter. Erst als sie das Tor erreichte und sich zitternd an diesem abstütze, konnte sie durchatmen. Und damit vielen auch die ersten Tränen. Sie hatte sie so verbittert verdrängt, gegen sie angekämpft. Schluchzend sank sie auf den Boden zusammen. Alles war umsonst gewesen. Nicht nur hatte sie ihn beschützen können, nein, sie hatte ihn auch zu dämlichen Ideen gebracht und damit seinen Tod beschworen. Könnte sie ihn doch nur zurückholen. Sie würde alles dafür tun.  

Amira konnte diese Leere in ihrem Herzen nicht weiter aushalten. Sie fühlte sich aufgebraucht, konnte nichts mehr essen und ihr fehlte die Kraft zu allem. Sie fühlte sich toter als die Toten selbst. Wäre da nicht dieser Hoffnungsschimmer gewesen. Armir. Er könnte ihr helfen und irgendwann könnte sie dann die Toten beschwören - ihn.  

Schnell drehte sich Amira um und sah ihn gerade den Weg herunterlaufen. Das Zittern ihres Körpers hörte auf, ihre Tränen versiegten. Sie hob den Kopf und zwang sich ein Lächeln auf.  

“Es tut mir leid, dass ich so plötzlich losgelaufen bin, aber ich konnte das nicht mehr aushalten”, entschuldigte sie sich und versuchte nicht erneut deprimiert auf den Boden zu blicken. Alles würde besser werden.  

Armir lächelte ihr warm entgegen. “Alles gut, lass uns jetzt lieber zum Rudelhaus gehen. Vater wartet bestimmt schon”, erwiderte er und berührte sie kurz am Arm. Sie nickte und so verließen sie zügig die Grabstätte.  

Armir führte sie die Straße hinunter, bis durch die Innenstadt und wieder hinaus und weiter, bis zum Stadtrand. Vor dem dichten Mischwald blieb er stehen.  

“Sie sind alle ein wenig...speziell. Aber egal was passiert, wir tun dir nichts an und Vater...nun er ist streng; zu jedem. Aber er tut dir auch nichts, egal wie viel Gift er speit”, lächelnd blickte er sie an. Sie würde so etwas von unter den harten Worten seines Vaters untergehen, jedoch interessiert es ihn nicht.

Amira war bei jedem weiteren Schritt in Richtung des Waldes, bleicher geworden. Ihr ganzer Körper strebte danach, umzudrehen und wegzulaufen. So weit, wie ihre letzte Kraft und ihr Körper sie tragen konnte. Stattdessen nickte sie. Zum Reden war ihr allerdings zu schlecht.  

“Gut, dann folge mir.” Sie nickte erneut und zusammen betraten sie den Wald.  

Augenblicklich schlug ihnen der Geruch des Waldes entgegen. Der Duft nach Harz und Holz, nach dem Laub und der frischen Luft der Freiheit, obwohl diese das Mädchen einengte und zittern ließ. Bilder der vorigen Nacht stiegen ihr in die Gedanken. Schnell schüttelte sie wieder ab und folgte Armir tief in den Wald hinein. Das leise Vogelgezwitscher begleitete sie tief in den Wald hinein.

Amira brauchte nichts zu befürchten, das war ihr klar. Schließlich war sie immer noch eine Magierin, oder Hexe, wie man es nahm. Egal wer sich ihr in den Weg stellen würde, sie könnte ihn in Flammen aufgehen lassen oder mit den anderen Elementen fernhalten. Vielleicht könnte sie auch Blutbändigen? Alleine bei den Gedanken wurde ihr schlecht. Menschen in Flammen aufgehen lassen oder ihren Körper kontrollieren, durch dessen Blut. Nein, das war nicht sie. Gott wäre enttäuscht von ihr.  

“Ist es noch weit?” fragte Amira, um sich von den verlockend sündhaften Gedanken abzubringen.  “Nein. Nur noch nen Kilometer.” Verwirrt sah sie zu ihn auf. Nur? Ob er das ernsthaft gemeint hatte? Aber als ihr Blick bei seinem angespannten Gesichtsausdruck hängen blieb, realisierte sie, dass er es wirklich so gemeint hatte.  

“Nur?” fragte Amira leise, doch er hörte es nicht. Wiederholen wollte sie es allerdings auch nicht. Sie war es nicht gewohnt, soviel zu laufen und vor allem in den Schuhen war dies nicht leicht. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht die ganze Zeit mit den Hacken in der Erde verschwand. Langsam breiteten sich auch das Ziehen von Blasen und der brennende Schmerz an den Zehen aus.  

Sie liefen weitere 20 Minuten bis ein prächtiges Anwesen vor ihnen auftauchte. Es glich einer Villa, mit seinen 3 Stockwerken, den Balkone, einer gewaltigen Eingangstür aus dunklem Holz und der Fassade. Über der Tür prangte eine Triskele, fein in das Holz eingearbeitet. Als sie näher herantraten, konnte Amira Tiere und Menschen fein hineingearbeitet erkennen.  

Mit großen Augen blieb sie stehen und konnte nicht ihren Blick von dem Haus reißen. So etwas Wundervolles und Prächtiges hatte sie noch nie zuvor gesehen.  

“Gigantisch, oder?” fragte Armir belustigt und blieb neben ihr stehen. Er war stolz auf das Vermächtnis seiner Familie. Langsam ließ sie den Blick zu ihm sinken. “Nein, wunderschön”, hauchte sie, dann hob sie erneut den Kopf Armir lachte darauf amüsiert auf.  

“Komm, lass uns reingehen.”

Mit einem kräftigen Stoße öffnete er die Tür und trat hinein. Amira blieb regungslos stehen und starrte nur hindurch. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihr Atem ging hektischer. Würde ihr wirklich nichts geschehen? Würde sie nun alles über die Welt erfahren? Doch vor allem war sie dafür bereit? Sie wollte ihn zurückholen. Musste ihn wiederbeleben. Keinen weiteren Tag könnte sie ohne ihn es nicht aushalten. Keinen weiteren Tag voller Einsamkeit, Trauer und den verlorenen Funken der Magie.  

Tief atmete Amira ein und überquerte die Türzarge. Für ihn.  

Armir wartete schon ungeduldig auf das Mädchen. Er hegte die Befürchtung, dass sie davonlaufen würde. Verwundern würde es ihn zumindest keineswegs. Schließlich war sie trotzdem ein schwaches, zart besaitetes Mädchen und die liefen nun mal fort. Trotz alledem wünschte er sich, dass sie ihm folgen würde. Zu dem Stolz seines Vaters und zu seiner eigenen Interesse. Sie war anders und das war das einzig besondere an ihr. Auch wenn sie nicht wirklich mutig war, so besaß sie den Mumm, sich zu verteidigen. Mit ihr würde es niemals langweilig werden. Nicht so, wie mit seinem Bruder und dessen Sandkastenfreundin, welche andauernd beschäftigt und vor allem so ernst waren. Zumindest er. Und sie folgte ihm.  

Amira trat, zu seiner Erleichterung,  mit einem erstaunten Gesichtsausdruck zu ihm heran. Ihr Blick glitt über die dunklen Holzwände und den Tafelboden. Keine Bilder waren zu erkennen, mehrere Mäntel hingen am Haken und fein säuberlich breiteten sich Schuhe und Stiefelpaare aus. Sein Vater hatte anscheinend noch immer Besucher.  

“Das ist einfach...wow”, murmelte Amira und versuchte die passenden Worte zu finden. Jedoch vergeblich. Sie bemerkte, wie Armir stolz die Brust hob und sich ein Grinsen nicht verbergen konnte. “Lebst du hier?” fragte sie neugierig. Nun, wo die Angst langsam verflog, setzte die Interesse ein. Tausende Fragen verfestigten sich in ihrem Kopf und wissbegierig sah Amira sich um. Ihre Finger glitten über das glatte Holz der Wände und die Jacken. Langsam drehte sie sich im Kreis, um die vollständige Pracht des Hauses einfangen zu können. Unmöglich. Es besaß die Wildheit des Waldes, die Freiheit der Luft und die Eleganz der Bäume, aus denen es gefertigt wurde. All die Schüchternheit und Diskretion waren verschwunden.  

Armir räusperte sich und schnell blickte sie zu ihm. ”Ja, aber fass lieber nichts an. Vater hat das nicht so gerne.” Mit einem deutenden Blick sah er zu den Jacken, welche sie noch immer berührte. Amira schoss augenblicklich das Blut in den Kopf und peinlich berührt zog sie sofort ihre Hand zurück, als ob sie ein Blitz getroffen hätte.

Das Grinsen des Jungen wurde nur noch breiter, jedoch wandte er sich dann um, zu den Durchgang hinter ihm. Er führte sie weiter, in eine Art Wohnzimmer, welches zu einer halben Bar mit allem dazu umgebaut worden war. Aus dem gleichen Holz stand genau neben der Tür ein Tresen, mit den verschiedensten alkoholischen Getränken dahinter. 3 Barhocker reihten sich direkt an diesem an. In der rechten Ecke lag eine Couchecke mit den verschiedensten Sitzmöglichkeiten und daneben breitete sich eine riesige Fensterfront mit Glastür aus. Entsetzt musste Amira feststellen, dass es sich paar Jugendliche auf den weichen Stoff bequem gemacht hatten. Direkt daneben hing eine Dartscheibe und auf der anderen Raumseite ein riesiger Fernseher. Doch den meisten Platz im Raum raubte der riesige Billardtisch.  

Armir hob freudig die Hand und tänzelte auf die zwei Anwesenden zu. Beide drehten nun das Gesicht vollständig zu ihnen. Amira erkannte den braunhaarigen Jungen augenblicklich wieder. Suresh. Das dunkle Haar und die intensiven Augen gab es kein zweites Mal. Doch das Mädchen neben ihm sagte ihr nichts. Sie hatte langes, blondes Haar, welches ihr in prachtvollen Locken über die Schulter fiel. Ihre Haut war leicht gebräunt und ihr Körper trainiert. Sie trug eine Hot Pant mit einem weißen, bauchfreien Shirt. Amira verspürte einen Stich im Herzen. Das Mädchen vor ihr war das, was sie niemals sein würde. Wunderschön.

“Und wie lief es?” fragte Suresh mit rauer Stimme, als hätte er gebrüllt und getobt. Amira traute es ihm zu. “Ganz ok. Vater hatte nicht mehr viel gesagt. Er wollte stattdessen, dass sie hierher kommt”, antwortete er und wies dabei auf sie. Suresh nickte nur anerkennend und wandte sich dann dem Mädchen wieder zu. Jedoch konnte diese sich nicht von Amira abwenden. Ihre Augen verzogen sich zu schlitzen und dann lächelte sie plötzlich auf. Ohne Vorwarnung sprang sie auf.  

Amira konnte nur regungslos dastehen, selbst als das Mädchen genau vor ihr war. “Hi, ich bin Laetitia, aber du kannst mich ruhig Titia nennen. Das machen alle”, stellte sie sich vor. Ihre Stimme war hoch, ziemlich aufgeregt und quietsche ein wenig, so fand sie. Erwartungsvoll reichte Titia Amira die Hand. Verwirrung und Enttäuschung schimmerte in ihren Augen auf. Schnell griff Amira nach der Hand und versuchte das Lächeln zu erwidern, das allerdings in einer Grimasse endete. “Amira. Ich habe keinen Spitznamen”, murmelte sie zwanghaft. Ihre Schultern sackten zusammen und ihr Blick glitt erneut auf den Boden.  

“Wir denken uns schon einen für dich aus. Setz dich doch erst einmal, du siehst ja ganz bleich aus.” Freundlich wies Titia auf die Couch. Amira verwunderte die Fröhlichkeit des Mädchens. Sie war es nicht gewohnt, dass Menschen so freundlich zu ihr waren. Meist wurde sie nur ignoriert, oder sogar beleidigt. Aber sie, sie war komplett anders.  

Wortlos ließ sie sich von dem Mädchen zu dem Sofa mitziehen, auf den auch schon Suresh saß. Sie schmiss sich regelrecht auf dieses und erwischte ihn mit. Statt sich zu beschweren, rückte er nur ein Stück zurzeit und verkniff sich ein Lachen. Amira setzte sich bedacht neben sie.

“Also, erzähl. Was machst du hier? Ein Werwolf bist du wohl nicht, aber ein Mensch dürfte hier auch nicht so leicht herkommen und ich habe noch nie von dir gehört. Dabei bekomme ich alles mit. Wirklich alles. Wohl man sagen muss, dass Suresh, der süße Junge neben mir, schon ein wenig seit gestern verstimmt war. Wusstest du etwa was?” Ohne auch nur Luft zu holen, sprach sie weiter und ließ niemanden die Zeit, zu antworten.

“Was frage ich da noch? Natürlich wusstest du es.” Sie wandte sich von Suresh ab. “Aber nun erzähl, was bist du?”  

Stille.  

Amira räusperte sich und versuchte die rechten Worte zu finden. “Ich bin ein Mensch...und eine Magierin, oder so”, antworte sie zögerlich. Allein bei den Gedanken an die Magie wurde ihr schlecht. Nicht, weil sie sie wirklich verabscheute, sondern weil es sie schmerzte. Sie erinnerte sie an ihn.  

Schnell senkte Amira erneut den Kopf und versuchte den neugierigen Blicken aus dem Weg zu gehen. Obwohl sie Suresh von vorhin kannte und Armir sie begleitet hatte, so konnte sie die Aufmerksamkeit beider spüren. Von dem Mädchen, Titia, brauchte sie erst gar nicht anfangen. Aufgeregt sprang diese auf und klatschte in die Hände.  

“Du beherrscht Magie?! Das ist voll cool. Willst du sie uns einmal vorführen?”  

Schwer hing die Frage in der Luft. Jeder einzelne von ihnen war von der Magie gefesselt. Jeder wollte sie so oft sehen, wie sie nur konnten. Außer Amira. Ihr war speiübel. Sie spürte regelrecht, wie sich die einzelnen Schweißtropfen auf ihrer Haut bildeten und den Schmerz ihrer Fingernägel, die sich in ihre Handballen bohrten. Sie konnte nicht. Nicht noch einmal. Nicht so lange er nicht wieder an ihrer Seite war und sie weitermachen konnte, wie zuvor.  

Schnell schüttelte Amira den Kopf.  

“Ach komm schon. Bitte. Eine kleine Flamme oder irgendetwas cooles. Es muss auch nicht beeindruckend sein, bloß etwas Kleines”, quengelte Titia. Doch Amira schüttelte nur den Kopf. “Ich würde es gerne auch einmal sehen”, bemerkte Suresh. Seine raue Stimme lag schwer in der Luft und sie schüchterte die junge Magierin ein.  

“Ich möchte nicht”, murmelte sie und senkte den Kopf noch weiter. “Hör auf dich an ihn so festzufressen. Er ist tot. Also komm, zeig was du kannst”, mischte sich nun auch Armir ein. Ihr Kopf schoss nach oben und wütend funkelte sie ihn an. “Sprich nicht so über ihn.” Ihre Worte glichen ein Zischen.  

“Und wie willst du dann jemanden helfen? Sei Erwachsen”, brummte Suresh. Statt das seine Worte sie zum Toben brachten, beruhigte sich langsam ihr Herz. Ihr Kopf sank, die Fäuste lösten sich und sie ließ sich auf ihren Platz fallen. “Ich bin einfach noch nicht bereit”, murmelte sie stattdessen.  

“Woher willst du das wissen, wenn du es nicht probierst.” Die Energie war aus Titias Stimme verschwunden. Sie klang eher einfühlsam und niedergeschlagen. Zögernd strich sie Amira über den Rücken. “Wir wissen alle, was es bedeutet jemand Geliebtes zu verlieren. Du sitzt hier im Club der gebrochenen Herzen und verlorenen Seelen.”

Die Worte erreichten Amira mehr, als sie es jemals erwartet hätte. Wärme breitete sich von den zarten Fingern des Mädchens aus und sie fühlte sich akzeptiert. Das erste Mal in ihrem Leben. Diese Leute verbanden etwas mit ihr. Den Schmerz der Toten, das Leid der Einsamkeit und den stetigen Verlust. Langsam hob sie die Schultern und drehte ihren Kopf zu Titia. “Ich versuche es”, murmelte sie. Es klang nur halb so entschlossen, wie sie es war.  

Zitternd stand sie auf und ging zur Raummitte, jedoch weit genug weg von dem Billardtisch. Fast schon automatisch schloss Amira die Augen und genoss die Stille. Die Dunkelheit. Dann breitete sich das Licht aus.  

Als Amira wieder die Augen aufschlug, tänzelte ein chinesischer Drache aus Feuer um sie. Ihr Blick glitt zu den drei Zuschauern, welche sie fasziniert und mit offenen Mündern anstarrte. “Das ist einfach...wow”, sprach als einzige Titia. Sie konnte ihren Augen nicht glauben. Ein wahrhaftiger Feuerdrache, aus dem Nichts erschaffen. Was hätte sie nicht alles dafür getan, so etwas auch zu lernen. Genauso, wie das kleine, unscheinbare Mädchen vor ihr, das Feuer um den Körper gleiten zu lassen. Wie mit einer Schlange zu spielen und sie über die Finger klettern zu lassen. Sie bewunderte das Mädchen vor ihr.  

Amira bemerkte die Männer schon als die Drei den Raum betraten. Die Feuerschlange erlosch und schnell drehte sie sich zu den drei Gestalten um. In der Mitte stand Aron Custos, noch immer mit Anzug und gleichstrenger Miene, allerdings lag in seinen Augen ein undefinierbarer Funke. Neben ihm war ein alter, regungsloser Mann, komplett in grauen Fetzen gehüllt. Sie ähnelten mehr Laken, die er sich umgeworfen hatte, statt richtiger Kleidung. Sein Haar war lang und neigte an den Geheimratsecken auszufallen. Sein Mund, ein kleiner, schmaler, war zu einem Strich verzogen und die Haut um diesen herum schien fast schon abzufallen. Seine Augen nur merklich zu erkennen, allerdings strahlte seine Iris. Ein Sturmgrau, noch intensiver als das Lennards. Amira spürte, wie sich ihr Magen verzog. Der Mann war mächtig, das spürte sie bis hierher. Als würde sich die Luft um ihn kräuseln.  

Der letzte Mann, rechts hinter Aron, klatsche laut in die abgenutzten Hände. Ein tückisches Lächeln zierte dessen Lippen und seine Augen, ein Grünbraun, musterten das Mädchen. Sie fühlte sich nackt, ungeschützt vor dessen Blick. Schnell schlang Amira die Arme um ihren Körper und senkte den Kopf. Möge Gott ihr beistehen, in das sie auch immer hineingeraten war.

“Das war einfach...fabelhaft. Mit ihr wirst du bestimmt super zusammenarbeiten können, oder Aurelius?” fragte er. Seine Stimme war freundlich, aber Amira schauderte. Unwohl zog sie die Schultern hoch und versuchte den Blick zu heben. Zu viele Menschen, zu viele erste Eindrücke die erschlossen wurden. Daran hatte es wohl schon immer gescheitert.  

“Bitte Verad, du siehst wie eingeschüchtert das Kind ist. Möchtest du nicht gehen? Ihr auch?” Die Worte des alten Mannes waren sanft, sein Blick wurde weicher. Der Angesprochene wollte widersprechen, jedoch hielten ihm die mahnende Blicke Arons ab. Schnell verbeugte er sich leicht und verschwand mit einer knappen Verabschiedung.  

“Armir, Titi, Suresh. Ihr auch.” Die Stimme Arons war tiefer als sonst. Amira hörte, wie die drei aufstanden und ohne Widerworte, aber mit schlürfenden Schritten, durch die Glastür in den Garten, mit einem riesigen See dahinter, liefen. Sie spürte, wie ihr augenblicklich leichter ums Herz wurde.  

“Ich habe gesehen, was ich sehen wollte und Aron hat mir alles Weitere schon erklärt. Trotzdem würde ich gerne noch einmal dich selber fragen, ob du meine Schülerin werden möchtest?” Verwirrt sah sie ihn an. Wollten sie nicht noch zuvor mit ihr reden? Irgendetwas auch mit ihr groß beschließen? Regeln erklären? Sie hatte nichts gegen Armir, allerdings war er nur zu stümperhaft und ungenau. Wenn das alles war, war es nicht beeindruckend. Sie hätte mehr von diesen berüchtigten Aron erwartet.  

Statt jedoch etwas dazu sagen, zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen. “Es wäre mir eine Freude”, antwortete Amira höflich. Es war die Wahrheit, sie wollte unbedingt mehr von der Magie lernen. Trotzdem war ihr das alles ein wenig unwohl.  

“Schön, dann ist das auch erledigt. Kümmerst du dich um sie?” fragte Aron mit einer Desinteresse, die sie zusammenzucken ließ. “Natürlich”, antwortete der alte Mann und verbeugte sich leicht. Der Werwolf wartete erst gar nicht und marschierte stattdessen aus den Raum. Seine schweren Schritte waren noch lange zu hören.

“Er hat dir vermutlich nichts über deine Verpflichtungen erzählt?” fragte Aurelius mit einem leichten Seufzen. Amira schüttelte schnell den Kopf, so dass ihre Locken flogen. Der alte Mann musste auflächeln. Auch wenn er nicht immer mit Arons Entscheidungen zufrieden war, so stimmt er dieser überein. Das Mädchen war zwar noch immer ein Kind und dazu eine Normalsterbliche, aber sie besaß Talent. Es wäre eine Verschwendung gewesen, sie nicht unterrichten zu lassen. Und so bekam auch er seine Entlastung.  

“Gut, dann setzen wir uns am Besten und ich erkläre dir alles”, schlug Aurelius vor und schritt zielstrebig auf einen der Barhocker. Ohne auch nur auf sie zu warten, ließ er sich nieder. Sen Blick fiel auf die Flaschen vor ihn. Allein mit seinen Gedanken ließ er zwei Gläser, eine Packung Saft und eine halbvolle Flasche Whiskey zu sich schweben.  

“Wie machst du das?” fragte Amira neugierig und ließ sich links neben ihn auf den Hocker nieder. “Vorstellungskraft. Magie ist nicht mehr als Vorstellung, Kreativität und die Macht, sie zu nutzen. So wie du die Flammen beschworen hast, kannst du das mit so gut wie allem machen. Versuche es doch einmal. Ich kann dir allerdings beibringen, wie du höhere, mächtigere Magie lernst.”  

Misstrauisch beobachtete Amira das Glas. Der Gedanke war verlockend, die Angst zu groß. Bloß vor was? Sie wusste es selbst nicht einmal. Tief atmete sie ein und konzentrierte sich auf das Glas. Die Augen offen, so konnte sie den Gegenstand noch erkennen. Sie beruhigte ihren Atem und den Puls. Versuchte sich nur auf das Bild vor ihr einzulassen und hob mit ihren Gedanken das Glas an. Und es geschah.  

Das Glas schwebte allein durch ihre Gedanken mehrere Zentimeter über der Theke. Vorsichtig setzte Amira dieses wieder ab und richtete stattdessen ihre Konzentration auf die Packung Orangensaft. Es fiel ihr zwar schwer, den Deckel zu öffnen, dafür konnte sie nur mit der Vorstellung und ohne den Inhalt dabei zu sehen, diesen heraus beschwören. Ganz langsam sammelte er sich in dem Glas und begann sich erst wieder physisch normal zu bewegen, als sie mit den Augen blinzelte und der Spuk damit beendet war.

“Wirklich gut. Du bist besser als erwartet. Dir fehlt nur noch die Übung und natürlich ein wenig Unterricht”, lobte der Alte sie. Lächelnd nippte Amira an dem Glas. Man hatte sie gelobt. Innerlich konnte sie nichts anderes, als überglücklich grinsen.

“Möchtest du mir jetzt alles erzählen?” fragte Amira nervös. Es freute sie, dass er so viel von ihr hielt, allerdings stieg damit auch die Befürchtung zu versagen. Aber sie würde ihr Bestes geben.

“Natürlich. Ich hatte schon gehört, Armir hätte dich über die 13 Gesetze aufgeklärt?” Amira nickte bestätigend. “Nun, dann gibt es nicht mehr so viel zu erklären. Du bist meine Schülerin und ebenso Schützling des Rudels. Heißt du stehst unter ihren Schutz und wenn dich jemand angreift, hat das Folgen. Du wirst von uns beschützt, musst allerdings dafür auch deinen Anteil bringen. Als meine Schülerin werde ich dir als Erstes das Heilen beibringen, um das du damit helfen kannst. Natürlich musst du nicht kämpfen, keinen Sitzungen beiwohnen oder andere Dinge. Dafür möchte ich dich gerne mindestens drei Mal die Woche hier sehen, um das wir trainieren können.”

Amira nickte erneut, dieses Mal begeistert. Das alles klang gar nicht so schrecklich oder beängstigend, wie sie es befürchtet hatte. Sie mochte seine Idee und vor allem drei Mal die Woche Unterricht zu erhalten, ließ sie fast vor Freude tanzen.

“Noch Fragen?”  

“Wann lerne ich dann weitere Magie? Und was für welche?” Neugierig räkelte sie sich auf den Stuhl und stützte den Kopf auf ihren Händen ab. Ihre Füße wippten ununterbrochen zu keinem Takt.

“Nun, es kommt auf dich drauf an. Wie schnell du lernst. Und an Magiearten. Ich würde dir als erstes mein komplettes Wissen vermachen und die dazugehörigen Bücher. Allerdings bezieht sich mein Wissen auf viel Kampfmagie. Dort steht drin, wie du zum Beispiel das Wetter beeinflussen kannst. Aber das ist hohe Kunst”, antwortete er. Ihre Augen glänzten freudig bei seinen Worten auf. Amira konnte es nicht länger erwartet, all das zu erlernen und anzuwenden. Und dann würde sie Lennard wieder zum Leben erwecken und ihm genau das Alles beibringen.  

Der alte Mann verabschiedete sich. Amira folgte ihm, mit voller Freude auf den nächsten Tag. Die der Jugendlichen fand sie nicht mehr, um sich bei ihnen aus reiner Höflichkeit zu verabschieden. Genauso wenig wie Aron oder jemand anderes. Das Haus schien, als würde es die Lebenden verschlucken und einzig von der Stille beherbergt werden.  

Sie hatte sich für Sonntag, 10 Uhr morgens, mit dem alten Mann verabredet. Die Vorfreude war gigantisch. So hüpfte sie regelrecht die Straßen entlang, summte eine Lied und freute sich auf den nächsten Tag. Selbst ihre Mutter, mit den wütenden Worten, konnte dieses Glück ihr nicht rauben.

 

Kapitel 3

Amira öffnete schon früh am Morgen die Augen. Das erste Mal seit langem. Sonst konnte sie erst ihre Mutter mit barschen Drohungen zur Nachmittagszeit aus dem Bett holen, oder der Hunger. Sie schlief zu viel und aß nur, wenn sie musste oder ihr Magen stark schmerzte. Die Trauer nagte noch zu sehr an ihr, als dass sie normal weiterleben hätte können. Bis zu dem 18. September. Nun würde alles anders werden, hoffte sie.  

Das Mädchen sprang regelrecht aus dem Bett heraus und schlang ihr Essen hinunter, der argwöhnische Blick ihrer Eltern dabei auf ihr ruhend. Amira drückte den beiden noch einen kurzen Kuss auf die Wange und rannte dann hinaus, in den strömenden Regen. Es war gerade einmal 9 Uhr am Morgen, doch sie wollte pünktlich sein. Mit schnellen Schritten stapfte sie die Straße entlang, durch die Pfützen, den Kopf dabei in ihrer Kapuze verborgen.  

Der Regen machte ihr nichts aus. Stattdessen hieß sie ihn willkommen. Als würde er die Trauer und die Einsamkeit der vergangenen 2 Wochen hinfort waschen. Er war nicht länger verloren, sie konnte ihn retten. Sie konnte ihr leeres, schmerzendes Herz füllen. Nicht nur mit Hoffnung, nein, mit seinem Lächeln, ihren Gesprächen und Scherzen. Sie könnte ihn bei der Magie helfen und sie würde dafür sorgen, dass nie wieder so etwas geschehen könnte. Alles würde wieder wie früher werden.

Mit rasselndem Atem erreichte Amira das Anwesen. Es schüttet noch immer und es schien auch kein Ende nehmen zu wollen. Sie war innerhalb kürzester Zeit bis auf die Socken durchnässt worden und die Haare klebten ihr, wie ebenso die Hose, eng an der Haut fest.  

Tief atmete sie nochmals durch, bevor sie mit schnell pochendem Herz an die Tür trat und die Klinke hinunter drückte. Die Tür schwang federleicht auf, als würde sie jemand aufziehen. Verwundert blickte Amira in den Flur. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass diese so einfach aufschwingen würde. Schließlich war es noch immer eine Haustür und die waren meist schwer.

Langsam trat sie über die Schwelle und sah sich um. Das Haus erschien ihr leer. Zwar hingen noch die Mäntel und zig paar Schuhe standen herum, jedoch war es still. Als würde niemand in dem Haus wohnen.  

Sie folgte dem Flur, ohne ihre nasse Jacke oder die Schuhe wegzulegen, bis in den Aufenthaltsraum und stockte. Fünf Kinder und Jugendliche hatten sich im Garten versammelt und zu spielen schienen, oder zu trainieren, wo sie so darüber nachdachte. Schließlich war dies ein leeres Haus voller Werwölfen. Die Jugendlichen, unter ihnen Armir, Suresh und Titia, waren vollständig durchnässt. Ihre Klamotten klebten an ihnen wie eine zweite Hautschicht, doch sie schienen das wenig zu stören. Sie alle trugen Sportkleidung und waren Barfuß, zu Amiras Verwunderung.

Neugierig trat sie näher an die Glasscheibe heran und sah hindurch. Die fünf alberten herum, traten und schlugen nacheinander, als wäre es nur ein Spiel. Sie neckten sich, als gäbe es nichts, dass ihren Frieden stören könnte. Amira beneidete sie augenblicklich. Es war nicht so, als würde sie sie auf bösartiger Weise, auf habgieriger Art nicht gönnend, sondern eher, als würde sie sie bewundern. Sie wusste nur schwach wie es war, Freunde zu besitzen. Einander zu vertrauen, zu necken und gleichzeitig einander zu haben. Amira wollte nur einmal wissen, wie es war, in einer Clique zu sein. So wie die Fünf vor ihr.  

Verträumt lehnte die Braunhaarige ihren Kopf an das kühle Glas und sah ihnen zu. Die Friedlichkeit des Friedens, die sie ausstrahlten, reichte ihr. Gleichzeitig fehlte ihr aber auch der Mut, hinaus zu gehen. Ihnen unter die Augen zu treten und sie zu begrüßen. Wie Lennard oft scherzte, sie war Soziophob. Menschen bereiteten ihr Angst. Es war für sie alle sieben Höllen zusammen gewesen, ihn damals anzusprechen und enttäuscht war sie nicht worden. Er hatte ihr Gemeinschaft gelehrt. Nun war er fort und ein Haufen Werwölfe, verzogen und verrückt, doch trotzdem liebenswert, war geblieben, die diese nur noch mehr symbolisierten. Brüderlichkeit, Gleichheit und Loyalität. Sie konnten einander blind vertrauen.

Ihr Herz zog sich zusammen und schnell wandte sich Amira von dem Fenster ab. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ihnen beim Spielen oder Trainieren zu beobachten. Armir, der ausgelassen mit Titia lachte und einen kleinen Jungen, keine 10 Jahre jung, ärgerte, indem er ihm andauernd das Haar durcheinander brachte. Durch das Wasser bildete es die verschiedensten Frisuren. Suresh, der mit einen Funken Belustigung den beiden dabei zu sah und den anderen Jungen, er wirkte so alt wie Armir, Liegestütze machen ließ. Sie konnte diese Freude nicht betrachten. Er war tot.

Kraftlos ließ sie sich in das Sofa fallen und blickte starr geradeaus. Ihre Augen wanderten über das Holz, den Fernseher und allem anderen im Raum, das ihr gegenüber lag.  

“Guten Morgen.” Die überraschte Stimme Arons riss Amira aus den Gedanken. Verwundert blinzelte sie und drehte sich dann zu ihm. “Morgen”, antwortete sie. Mit verschränkten Armen stand er am Raumeingang und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Er trug statt Anzug oder Hemd normale Kleidung. Eine blaue Jeans mit schwarzem Shirt und dazu noch leicht verschlafenen Augen. Sein Haar war allerdings geglättet und die Anspannung seiner Muskeln zeichnete sich unter den schwarzen Stoff deutlich ab. Amira fühlte sich sofort unerwünscht. Sie spürte regelrecht den Argwohn und den Missmut.  

“Aurelius wollte sich mit mir um 10 Uhr morgens hier treffen”, murmelte Amira. Sie wollte ihre Knie umschlingen und sich hinter ihnen verstecken, jedoch trug sie noch ihre Schuhe. Den Stoff zu beschmutzen würde keinen guten ersten Eindruck hinterlassen. Stattdessen blieb sie steif sitzen und knetete ihre Hände.  

“Ah, okay. Er müsste gleich kommen”, entgegnete Aron nur steif und drehte sich um. Lautlos verschwand er erneut in den Weiten des Hauses. Amira wandte sich ebenso von dem Durchgang ab und sah wie so oft auf den Boden. Ob er bald kommen würde?  

Sie zog sich die Schuhe aus, welche komplett mit Schlamm verdreckt waren, und kauerte sich dann in die Ecke des Sofas zusammen. Ihr war durch Arons Begegnung unwohl geworden. Seine Präsenz, aber auch vor allem seine Abweisung, prickelte unangenehm auf der Haut.  

Minuten vergingen, bis der alte Mann mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, den Raum betrat und sie freudig begrüßte. Er trug im Gegensatz zu allen anderen keine normale Kleidung, sondern einen langen grauen Mantel und darunter eine blau Langtunika. Als wäre er direkt aus dem Mittelalter entsprungen.  

Amira versuchte die Begrüßung zu erwidern, ohne dass er dabei ihre Verwunderung mitbekam. Letztes Mal hatte sie auf seine Kleidung nicht beachtet, nun wünschte sie sich, sie hätte es. Ob er wohl immer so herumlief?

“Es freut mich, dass du gekommen bist. Wie wäre es damit, wenn ich dir erst einmal die Grundlagen und Regeln dieser Welt erkläre?” Damit riss er sie aus ihren Gedanken. Er setzte sich neben sie auf die Couch und machte es sich bequem. Gespannt lauschte Amira seinen Worten. Am Ende seiner Rede wurde ihr bewusst, dass sie von all den aufgezählten schon bescheid wusste. Spannend war es trotzdem.

“Und nun zur Geschichte? Wie lange glaubst du existiert diese zweite Welt?” fragte Aurelius mit einem mysteriösen Funkeln in den Augen. Amira schluckte. “Fast 4 Monate.” Ihre Aussage glich eher einer Frage. Sie war sich nicht ganz sicher, seine Frage hatte sie aus dem Konzept geholt.

“Natürlich nicht. Sonst würde nicht alles so friedlich und heimlich von statten laufen”, antwortete er leicht belustigt. Allerdings nicht von ihren Worten, sondern der Freude, eine junge, neugierige Schülerin zu besitzen. Seine eigenen Kinder hatten nie mit solch einer Hingabe und Fragenreichtum zugehört. Es beglückte ihn.

“Aber seit wann dann?” fragte Amira mit genau dieser Hingabe. Sie liebte die magische Welt und die Möglichkeit, die diese bat.  

“Seit dem Anbeginn der Zeit”, antwortete er lächelnd. “Aber warum existiert dann die Magie erst wieder seit 4 Monaten?” Neugierig wippte sie hin und her und versuchte nicht vor lauter Fragen ihn zu überschütten.  

“Nun, das ist ganz einfach. Zur Zeit Artus, du kennst wahrscheinlich die Legenden um Artus, Merlin, Excalibur und all dem drum, wurde die Magie zum Schutz der Welt verbannt. Sie wurde regelrecht aus der Welt ausgelöscht. Werwölfe waren von nun an keine Gestaltwandler, Vampire nicht mehr unsterblich und Magier konnten keine Magie anwenden. Es war eigentlich unmöglich die Magie zurückzuholen, aber irgendwie hat es doch jemand geschafft. Wer ist noch ungeklärt, allerdings war es eine Gruppe und sie besaßen ein mächtiges Relikt.” Mit großen Augen sah sie zu ihm auf.

“Aber warum genau wurde die Magie verbannt. Sie ist doch nichts Böses.” “Die Magie ist neutral. Doch für das, was sie genutzt wurde, hängt vom Anwender ab. Sicherlich hast du auch von Morgana gehört?” Amira nickte. “Aber nicht nur sie brachte Unheil. Auch die Fabelwesen und die Verfluchten. Die Werwölfe zum Beispiel.” Sein Blick glitt zu den noch immer spielenden Kindern.

“Sie sind nichts rein Böses, aber manchmal sterben Menschen und es konnte nicht mehr so weitergehen. Morgana stand kurz vor ihrem Sieg, laut den Erzählungen. Ich weiß jedoch auch nicht so viel darüber. Es sind nur Legenden.”

“Und was wurde aus den Fabelwesen?” “Sie verschwanden oder wurden zu einfachen Wesen. Die gigantischen Spinnen und Skorpionen, so wie die Kraken und Riesenkalmar, schrumpften auf normale Größen. Die dreiköpfigen Hunde verloren zwei Köpfe oder verschwanden in der Hölle, um dort als Höllenhunde zu dienen. Feen und Drachen existieren inzwischen Dimensionen. Manche entschieden sich für ihr Schicksal, andere wurden gezwungen. Aber sie werden wiederkommen. Nicht so zahlreich, wie sie einst waren, aber bald werden die ersten Drachen gesichtete werden und Feen wieder durch die Wälder fliegen. Am See dürften schon welche leben.” Mit einem Kopfnicken wies er auf den dunklen See in weiter Ferne. Das Wasser war fast schon grau, der Regen hatte noch immer nicht aufgehört auf die Erde zu prasseln.

Mit kratziger Stimme räusperte und hustete der alte Mann, bevor er aufstand. Sein Gang war gebeugt, die Schritte schwer. Das Wetter machte ihm zu schaffen. Es durchzog seine alten Knochen und Muskeln, ließ sie schmerzen und verkrampfen.  

Mit einem Schwung der Hand schwebten zwei Gläser herbei und er holte eine Packung Orangensaft und eine gläserne Flasche Whiskey hervor. Beides schenkte er großzügig ein und lief dann, mit den noch immer fliegenden Gläsern, zu Amira zurück. Das Glas mit dem Orangensaft kam genau vor ihrem Gesicht zum Stillstand.

“Trink. Die Fragerei müsste dich doch ganz durstig gemacht haben, oder nicht?” Amira tat wie ihr geheißt wurde und leerte dieses in wenigen Zügen. Der Alte hatte Recht. Das Gerede hatte ihre Kehle ausgetrocknet und die Beine einschlafen lassen. Konzentriert ließ sie das Glas zurück auf die Theke schweben und sprang erst auf, als dieses sicher das Holz berührte. Ausgiebig streckte sie die eingeschlafenen Teile, um das Blut neu anzuregen. Ihr Blick fiel auf die Fensterfront.

Voller Neugier und mit gaffenden Gesichtern standen alle fünf Jugendliche in Reihe an dem Fenster und beobachteten sie. Amira schreckte zusammen. Wie hatte sie die Blicke nicht bemerken können? Wie sie sie begafften und beglotzten?  

Schnell wandte sie sich zu Aurelius. Ruhig leerte er das Glas und sah erst dann in ihr verschrecktes Gesicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das fragelustige Mädchen Angst vor Menschen hatte. Mit müden Beinen wollte er aufstehen, überlegte es sich dann doch anders. Er schnippte und die Glastür schwang auf.  

“Kann ich für euch etwas tun?” fragte er. Alle Fünf schüttelten gleichzeitig die Köpfe und suchten schnell das Weite, einige weniger beängstigt andere mehr. Der Alte ängstigte sie. So viel wie er trank und so rau, wie seine Stimme war. Das Ergebnis des jahrelangen Trinkens und Rauchens. Ihn störte das keineswegs und so schloss er auf die gleiche Weise wieder die Tür.   

“Wo sind wir stecken geblieben?” fragte er. “Nirgendwo.” Verwirrt sah sie ihn an. Er war ihr ein Rätsel. Wie konnte er solch eine Kleidung tragen und gleichzeitig stilvoll Alkohol trinken. In einem Moment war seine Stimme friedvoll, beruhigend und dann wiederum rau und beängstigend. Er war ein friedvoller Geistlicher und gleichzeitig ein alter Trinker. Das verunsicherte sie. Sollten Menschen nicht nur eine Seite besitzen? So hatte sie es zumindest gelernt? Aber er war ruhig und freundlich zu ihr, während er zu den Kindern barsch und fast schon beängstigend war?

“Dann fangen wir jetzt mit dem Unterricht an”, sagte er und erhob sich. Sein Glas schwebte augenblicklich zu der Theke zurück und mit einen Handschlenker füllte er es erneut auf. “Haben wir das nicht schon längst?” fragte Amira verwundert. Laut lachte der Alte auf, um darauf kratzig zu husten. “Das war nur die Märchenstunde.”

Amira schwang sich ebenfalls auf, blieb aber an Ort und Stelle stehen. Was sollte sie auch tun? Er hatte ihr keine Anweisungen gegeben.

“Du kannst dich ruhig wieder hinsetzen. Ich zeige dir jetzt, was ich kann und was ich dir beibringen kann”, entgegnete er. Sie ließ sich nach hinten fallen und umschlang mit ihren Armen ihre Beine. Ihr Blick huschte zu ihm.  

“Es gibt genau 6 Dinge, abgesehen von reiner Zerstörungsmagie, die ich beherrsche und dir damit beibringen kann. Zum Ersten die Kreation.” Aus dem Nichts tauchte genau vor seinem Gesicht ein Klumpen Erde auf. “Und sie lebendig werden lassen.” Der Klumpen verformte sich, bis er einen kleinen, einfachen Golem abbildete. Statt Händen und Füßen besaß er nur an den Stellen Stümpfe. Das Gesicht war leer. Eine glatte Fläche, nicht mehr und nicht minder.

Langsam begann es sich zu bewegen. Lief im Kreis um den alten Mann.  

“Das ist ein Golem. Du gibst ihnen Befehle und sie führen sie aus. Ziemlich einfach.”  

Mit einem weiteren Blick auf das Wesen von dem Alten, zerfiel es.  

“Das Zweite ist die Alchemie. Zwar wird sie nicht als Magie angesehen, ist aber genauso mächtig. Das Dritte ist die Heilung. Unter beiden kannst du dir bestimmt etwas vorstellen. Sie jetzt vorzuzeigen ist etwas schwer. Das Vierte allerdings, das Wetter und die Pflanzen zu kontrollieren, kann ich dir wiederum doch zeigen.” Grinsend sah er zum Fenster.  

De Tür schob sich von selbst auf und Aurelius lief nach draußen. Amira folgte ihm zügig. Es schüttete noch immer und es schien, als würde dies auch kein Ende nehmen zu wollen. Die fünf Jugendlichen unterbrachen ihr Spiel und sahen mit großen Augen zu dem Alten, wobei Suresh jedoch sich am lässigsten tat. In ihren Augen lag ein Funke Angst. Die jüngeren fürchteten den unkontrollierten, alten Mann, der sie jederzeit mit seiner Magie besiegen konnte. Doch statt zu ihnen zu schauen, ging sein Blick gen Himmel.  

Amira konnte nicht verstehen, was er sagte. Allerdings, als er seine Hand ausstreckte, brach der Himmel auf und die Wolken verzogen sich. Kein Tropfen fiel mehr. Es herrschte vollkommene Stille, als hätte der Wald vergessen zu leben. Die Vögel sangen nicht, der Wind verschwand und die Blätter standen still.  

Beeindruckt sahen sich die fünf Jugendlichen um. Noch immer klebten die Klamotten an ihnen und die Gesichter waren von dem Regen feucht. Jedoch am meisten warn Amira beeindruckt. Freudig drehte sie sich im Kreis. Das konnte sie alles lernen. All das. All die Wunder.  

Sie legte ihren Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht. Wunder. Ja, das waren sie, die der Alte vollbracht hatte.

“Das war noch nicht alles.” Mit einem verschmitzten Lächeln beugte er sich und hielt die Hand knapp über den durchtränkten Boden. Als er diese drehte, wuchs ein kleiner, gesunder Spross heraus. Er hob die Hand und die Pflanze wuchs. Immer weiter, immer breiter, immer höher.  

Amira kam gar nicht aus dem Staunen. Erst hatte er aus dem Nichts Erde erschaffen und sie zu einem lebendigen Wesen erschaffen, darauf das Wetter bezwungen und nun ließ er Bäume wachsen. Was konnte er noch alles?  

Der Bäume hätte hunderte Jahr alt sein können, so gigantischer war er. Und genauso schnell, wie er entstanden war, zerfiel er wieder. Einzig durch den Gedanken des alten Mannes verwandelte sich der einst prächtige Baum in Asche. Zu kleinen Fetzen rieselte er nieder.  

Die fünf erschraken und zuckten zusammen. Langsam entfernten sie sich von ihm. Doch Amira fürchtete ihn nicht. Sie kannte die Magie und deren Macht. Sie war etwas, das man nicht fürchten musste, obwohl sie in einen Kampf gegen Aurelius unterlegen war und mit großer Sicherheit verlieren würde. Er konnte sie nicht ängstigen. Zu groß war ihre Begeisterung, zu stark ihre Neugier und der Wissensdurst.  

“Und das Fünfte?” fragte sie begierig. “Keine wirkliche Magie, aber ich zähle sie dazu. Denn das meiste kann man mit seiner Vorstellung erschaffen, doch für die höhere Magie benötigt man Gebete. So werden sie zumindest bezeichnet. Sie werden in einer alten Sprache aufgesagt und diese Sprache würde ich dich ebenso lehren. Sie ist schwer, aber alles baut auf ihr auf. Deswegen wird sie über die Zeit für dich wichtiger werden”, erklärte er und streckte das Gesicht in den Himmel. Er mochte das regnerische, kühle Wetter nicht. Oft hatte er schon mit den Gedanken gespielt, das Wetter zu manipulieren. Das durften nur Großmeister, wie er, allerdings konnte er damit sehr viel riskieren. Seine Knochen vertrugen weder die feuchte Luft, noch die kalten Windböen. Er war alt. Zu alt für seinen Geschmack. Warum konnte er nicht so etwas wie die Teleportation beherrschen? Dann müsste er nicht mehr das Haus verlassen.  

“Das, was du gerade eben gesagt hast”, murmelte Amira beeindruckt. Ihr gefiel der Gedanke, eine neue Sprache, einzig und allein für die Magie, zu erlernen. So, wie er und sie es damals geplant hatten. Und dann würde sie diese Macht ihm beibringen. Alles würde wieder gut werden.  

“Korrekt. Man spricht damit direkt die 13 Götter an. Besser gesagt knüpft man an ihre Magie an”, erklärte er weiter. Neugierig hob sie den Kopf. “Wo kann man denn noch an die Magie anknüpfen?” fragte sie erpicht. “Das solltest du nicht fragen”, brummte er mit gesenkter Stimme und stapfte augenblicklich wieder in das Haus.  

“Aber warum nicht?” Zügig folgte sie ihm, ohne einen Blick zu den Werwölfen zu werfen. Später würde sie mit ihnen reden, aber jetzt wollte sie Wissen. Uraltes, mächtiges Wissen.  

“Du kennst die Gesetze. Ich habe sie dir aufgezählt. Du kannst durch Diebstahl, wie Menschenopferung oder Experimenten an Dämonen an Magie gelangen. Aber.” Bedrohlich tief sah er ihr in die Augen. “Zum einen hast du das nicht von mir gehört und wenn du es auch nur wagen solltest, so etwas jemanden anzutun, wirst du schneller hingerichtet, als du gucken kannst. Auf so etwas herrscht die Todesstrafe. Also verwerfe jeden ach so kleinen Gedanken daran wieder. Ich will keinen toten Schüler.” Sein barscher Ton überrascht das Mädchen. Nun verstand sie, warum die anderen ihn so sehr respektieren und ihm aus dem Weg gingen. Er war ein alter, verbitterter Mann, der versuchte, ein zweiter Dumbledore zu sein.

“Ja”, murmelte sie mit hochgezogenen Schultern. Seine laute Stimme hatte sie zutiefst verschreckt und so fiel es ihr schwer, noch etwas Vernünftiges laut über die Lippen zu bringen. “Gut so”, brummte er und entspannte sich merklich. Er setzte sich erneut auf das Sofa. Sein Blick glitt von ihr nach draußen, wo er die jungen Werwölfe fixierte.  

“Das Sechste, das ich dir beibringen kann, ist die Gestaltwandlung.” Seine Stimme war abschweifend, als wäre er mit seinen Gedanken woanders, in einer anderen Zeit. Doch Amiras freudiges Jauchzen bracht ihn zurück.  

“Du meinst sich in ein Tier zu verwandeln? Wie in einen Vogel?” Freudig sprang sie von einem Bein auf das andere. Ihre Angst war verschwunden und das verwunderte den alten Mann. Er dachte, er hätte sie vergrault - zu sehr eingeschüchtert. Stattdessen hüpfte sie heiter vor ihm und wollte mehr wissen. Sie war das, was er all die Jahre benötigt hatte. Ein Schüler, der nur so vor Kraft und Energie strotzte. Solch ein Kind wie sie und nicht solche Schandflecke wie seine eigenen Kinder.

“Natürlich. Zwar hatte ich von etwas Leichterem gesprochen, aber am Ende kannst du dich auch in Tiere verwandeln”, bestätigte Aurelius ihr. Sie sprang erneut in die Höhe. Der Alte musste grinsen. So wäre er damals auch gewesen, wenn die Magie schon damals existiert hätte.  

“Zeigst du es mir?” quengelte sie. Ihre Manieren waren gewichen, anstandslos bittete sie mehrmals. Sie wollte es nur noch sehen. Die Wunder, die Magie und die Welt. Und sie wollte sie erlernen. Sie wollte selber Wunder vollbringen.

“Klar”, antwortete Aurelius zu ihrer Freude. Problemlos stand er auf, ihre Energie schenkte ihm neue Kraft, und verwandelte sich, bevor er überhaupt aufrecht stand, in eine kleine Amsel. Zwitschernd flog er über ihren Kopf, umrundete sie und verwandelte sich im Flug zurück, so dass er wieder bequem auf dem Sofa Platz nehmen konnte.  

“Und das alles bringst du mir bei?” fragte Amira mit großen Augen. Sie konnte ihr Glück noch immer nicht fassen. Ihr größter Wunsch, die Magie zu beherrschen und anzuwenden, würde wahr werden. Keine Bücher, Filme oder Spiele mehr. Nein, sie war nun ihre Realität. Ihr Alltag.

“Wenn du eine fleißige Musterschülerin bist, ja.” Zufrieden lächelte er auf. Er war froh über Arons Entscheidung. Zwar hatte er anfangs an dieser gezweifelt, wollte ihm sogar widersprechen, doch nun war er mit einer Schülerin, die sich selbst sein Vater für alles auf der Welt gewünscht hätte, gesegnet worden.  

Eifrig nickte Amira. Sie würde alles lernen, egal wie viel er ihr auflud und wie wenig Zeit sie hätte.  

“Dann beginnen wir am besten mit dem schwierigsten und gleichzeitig wichtigsten Teil. Der Sprache. Es wird hart und du musst sie jeden Abend üben, aber es wird sich lohnen.” Der Alte lehnte sich zurück und goss sich ein weiteres Glas ein. Doch kein Whiskey, sondern klares, reines Wasser. Amira verkniff sich weitere Fragen und lauschte stattdessen seinen Worten. Die Sprach war alt, glich der lateinischen vom Aufbau und doch war es eine andere. Eine, mit vielen zisch-Lauten.  

Sie schrieb fleißig alles auf und wiederholt sie, so gut wie sie konnte. Eine Stunde nach der anderen vergingen, bis ihre Bäuche schmerzten und die Mägen knurrten. Erst um 14 Uhr hatten die Jugendlichen ihren Mut gefunden und das Haus betreten. Mit ihnen hörte auch der Unterricht auf.  

Titia rannt augenblicklich auf Amira zu und riss sie in eine stürmische Umarmung. “Es ist so schön, dass du gekommen bist”, begrüßte sie sie freudig. Ihr Haar klebte noch immer an ihrer Haut, doch nun vom Schweiß. Sie roch streng und war dreckig. Allerdings schien das dem Mädchen kaum etwas auszumachen.  

Auch Suresh und Armir begrüßten sie, mit einem einfachen Handschlag. Amira konnte vor Freude nicht mehr aufhören zu grinsen. Noch nie war sie von so vielen Leuten so freundschaftlich begrüßt worden. Der alte Mann verabschiedete sich mit knappen Worten und ging damit von dannen. Sie erwiderte die Worte, jedoch zu spät.

“Lass ihn. Er ist ein komischer Kauz.” Mit diesen Worten schmiss sich auch Armir auf das Sofa und machte es sich bequem. Er war wie die anderen von oben bis unten mit Dreck besudelt, jedoch wirkte er glücklich. Suresh warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er sich auf einen der zwei Sessel gegenüber fallen ließ. Titia gesellte sich zu ihm, während die restlichen zwei Jugendlich gingen.

“Also, erzähl. Wie war der Unterricht?” fragte das blondhaarige Mädchen. Neugierig hatte sie den Kopf auf ihre Arme gestützt und ihren Blick direkt auf Amira gerichtet. Die Magierin versuchte nicht rot anzulaufen, dabei war sie mit der Situation überfordert. Noch nie zuvor hatte jemand solch eine große Interesse an ihr gezeigt, und vor allem nicht von mehreren Leuten.  

“Ganz okay, denke ich. Er hat mir ein wenig über die magische Welt erzählt, mir sein Wissen gezeigt und dann begonnen, mir die alte Sprach beizubringen”, antwortete sie stotternd. Schnell ballte sie ihre Hände zu Fäusten, um nicht zu zittern. Doch ihr Körper bebte. Konnten sie nicht woanders hingucken?

“Das ist sooo cool. Heißt du kannst jetzt zu den Göttern beten?” Verwirrt legte Amira den Kopf schräg und blickte zu Armir. Auch Aurelius hatte von diesen Göttern gesprochen, aber nicht gesagt welche.  

“Welche Götter?” fragte sie laut. Das Zittern ließ nach, stattdessen begann sie wieder vor Neugier die Hände zu kneten. Ablenkung. Sie benötigte Ablenkung.

“Die 13 Götter, die über alle Dimensionen herrschen. Sie tragen verschiedenste Namen, aber am bekanntesten sind die drei herrschenden Götter und von einem dieser die zwei Söhne. Man sagt, dass wegen ihnen die Magie zurückgekehrt ist.”  

“Sie haben auch die Welt erschaffen und die restlichen Universen. Sie haben uns die Magie geschenkt, um das wir uns gegen die Dämonen bewähren können. Viele von uns beten morgens und abends zu ihnen”, fügte Armir hinzu.  

“Und wer sind sie?” fragte Amira.

“Leben und Tod als Geschwister, ihr Kind ist die Zeit und der Raum. Ihr Bruder, die Existenz, der mit der Wahrheit und der Liebe ebenfalls zwei Kinder hat. Rationalität und Irrationalität, auch als die zwei rivalisierenden Brüder bekannt. Das Leben hat als einzelne noch die Kinder Liebe und Wahrheit hervorgebracht, während der Bruder Tod den Hass und die Lüge bar. Und als einzelne stehen der Plan und der Zufall als Geschwister. Sie vertreten jeweils ihren Namen, besitzen aber noch hunderte weitere.” Dieses Mal sprach Suresh. Sein Blick war verträumt, als ob er gerade an sie dachte.  

“Und was haben sie nun mit der alten Sprache zu tun?”  

“Nun, sie haben die Universen erschaffen und beziehen auch ihre Magie von dort, wenn man den Legenden traut. Aber an sich sind sie Schwachsinn. Schließlich wäre dann der Zufall stärker als der Plan und das Leben, auch manchmal als Natur bezeichnet, würde im Sterben liegen”, entgegnete Suresh. Seine Worte wurden barscher.  

“Es ist egal ob sie existieren oder nicht. Das sind unsere Götter, an die wir zu beten haben. An wen sollen wir sonst uns sonst richten?” Obwohl Armir es so heiter sagte, fand Amira, dass seine Worte einen bitteren Beigeschmack besaßen. Als würde er vom Tod sprechen. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab. Ihre Sorge war jetzt, die Magie so weit zu meistern, dass sie ihn wieder zurückholen könnte. Nur er zählte.

“Das ist ziemlich...”, begann sie, hielt dann allerdings inne. Zwei junge Erwachsene betraten den Raum. Sie könnten knapp älter als Suresh sein, nicht älter. Suresh folgte ihrem Blick und sprang augenblicklich auf.  

“Gibt es wieder eine Mission?” Mit großen Schritten stand er keine zwei Sekunden später vor ihnen. Seine Haltung war angespannt, die Rückenmuskeln deutlich durch den noch immer eng anliegenden Stoff zu erkennen.

“Nicht für dich”, brummte der Rechte. Er war einen halben Kopf größer als Suresh. Sein blondes Haar war kurzrasiert, die Gesichtszüge hart und seine goldenen Augen wirkten eher wie vergoldeter Stahl. Ein leichter Dreitagebart zog sich über das viel zu runde Kinn und um die schmalen Lippen. Er besaß einen Stiernacken und war sehr breit gebaut, dafür waren seine Gesichtszüge kindlich. Sein Kollege neben ihm war gerade einmal so groß wie Suresh selbst. Sein Haar war schwarz, etwas zu lang geraten und durcheinander. Seine Augen glichen schmutzigen Wasser. Er hatte eher eine schlaksige Figur, die Klamotten ihn leicht zu groß und das Gesicht schmal und lang.

“Und warum glaubst du das? Bist du mein Vater? Nein, also geh mir aus dem Weg.” Mit voller Wucht rammte Suresh die rechte Seite des Jungen mit dem kurzen, blonden Haar weg und stapfte mit lauten Schritten davon. Stille blieb.

“Und du bist?” fragte sein Kollege an Amira gewandt. Eine gefährliche Reizbarkeit lag in seiner Stimme, vermischt mit der Kälte von dem Verlust glücklicher Emotionen. Der Blondhaarige sah noch kurz Suresh hinterher, bevor er ebenso seine Aufmerksamkeit auf das kleine Mädchen richtete, welche in diesen Moment gerne überall wäre, bloß nicht dort, wo sie nun einmal war.

“Amira Langford”, brachte Amira durch die bebenden Lippen hervor.  

“Sie ist die neue Schülerin von Aurelius”, warf Armir für sie ein. Verwundert sahen die beiden sich an und musterten dann erneut das Mädchen. “Sie sieht nicht wirklich...”, begann der Rechte. “Mächtig aus”, beendete der linke und hob vielsagend seine Braue.  

“Oh glaubt mir, das ist sie. Sie hat einen Vampir ganz allein besiegt”, verteidigte Armir sie. Titia atmete darauf tief ein. “Du hast gegen einen Vampir gekämpft?” Neugierige sprang sie auf, um sich an Amira zu richten. Ihre Augen funkelten erneut.

Amira wurde immer unwohler in ihrer Haut. Ihr war speiübel und sie wollte nur noch fort. Wie wir sie bloß in diese Lage hineingeraten?  

Nervös öffnete sie den Mund, um zu antworten, und schloss ihn kurz darauf. Ihre Gedanken wirbelten im Kreis. Immer schneller, immer durcheinander. Sie vergaß, wie man atmete. Schnell blickte sie sich hilfesuchend um, doch er war nicht da. Lennard war nicht da.  

Panisch versuchte sie nach Luft zu schnappen. Vergeblich.  

“Habt ihr nichts Besseres zu tun, als euch vorzubereiten.” Die kühle Stimme Suresh riss alle aus ihrer Starre. Schnell wandten sich die zwei Männer von Amira ab, warfen ihn noch einen verachtenden Blick zu und gingen. Suresh zuckte bloß mit den Schultern und lief dann auf das Mädchen zu.

“Sie sieht halbtot aus”, bemerkte er spitz. Vorsichtig kniete Armir sich vor sie, doch sie bekam es gar nicht mehr mit. Sie sah nur noch Schwärze. Einsamkeit.  

“Hey.” Bedacht legte der Werwolf eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie. Amira zuckte zusammen und wachte aus ihrer Starre auf. Schnell schaute sie sich um. Die bunten Farben wirkten so intensiv auf sie ein, dass sie ihr in den Augen schmerzten. “Was ist los?” fragte sie leise. Ihre Augen huschten zwischen den drei her.  

“Du hattest nen Anfall”, antwortete Armir leichtfertig. Verstört sah sie ihn an. “Ich war vermutlich nur in Gedanken”, murmelte sie und versuchte den Gedanken daran zu verdrängen. “Vermutlich”, brummte Suresh, bevor sich erneut setzte. Er wirkte distanzierter, aber auch abgekühlter. Nicht mehr so gereizt, wie zuvor.

“Vielleicht sollte ich jetzt nach Hause gehen”, murmelte Amira mit etwas mehr Kraft in der Stimme. “Bleib doch noch bis zum Essen”, entgegnete Titia. Überfordert sah Amira sie an, dann schüttelte sie den Kopf.  

“Meine Mutter wartet bestimmt schon.” “Dann erzähl mir noch wenigstens von dem Vampir”, quengelte die Blondhaarige aus großen Augen. “Das kann ich auf für dich tun”, sagte Suresh und griff nach Titias Handgelenk. In seinem Blick lag eine solche Deutlichkeit, solch eine Intensität, die keine Widerrede duldete. Amira atmete leise aus. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie die Luft angehalten hatte. Mit zittrigen Knien stand sie auf und verabschiedete sich. Titia zwang sie zu einer erneuten Umarmung, die fast eine Minute ging, hätten die Jungs sie nicht von ihr gezogen.  

Als Amira die Tür hinter sich in das Schloss fielen ließ, fühlte sie sich noch nie so leicht, wie jetzt. Die Anspannung löste sich langsam aus ihren Muskeln und das Atmen fiel ihr leichter. Es hatte ihr so viel Kraft, so viel Mut gekostet, zu widersprechen. Dafür fühlte sie sich schuldig, aber was blieb ihr anderes übrig. Ihr war es zu beengend gewesen. Die frische Luft rief nach ihr. Wäre sie noch weitere Minuten dort geblieben, wäre sie vor Angst und Nervosität komplett zusammengebrochen. Nur er hatte sie zum Essen eingeladen, sonst niemand anderes.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, stapfte sie von dem Haus fort und versuchte sich auf die Musik ihrer Kopfhörer zu konzentrieren, statt auf etwas anderem.

Währenddessen saßen die Drei noch immer in den Raum und unterhielten sich locker. Die zwei jungen Männer zogen bereits los, um in einer tödlichen Schlacht zu kämpfen.  

Kapitel 4

Als Amira am nächsten Morgen zur Schule ging, rechnete sie mit einem normalen, typischen Montag ohne Veränderungen. So auch mit der Erwartung, dass die meisten inzwischen nicht mehr an Lennard dachten, denn so war es nun einmal mit den Toten, und das sie weiter ignoriert werden würde. Und so war es auch. Schließlich war sie das unscheinbare Mädchen, welches keine Freunde besaß, mit der niemand zum Mittag aß und der auch niemand die Hausaufgaben sendete. Schließlich war sie das Mobbingopfer. Ihr Körper klein und dicklich, alles andere als sexy oder süß, ihr Charakter zu fremdartig.  Schminken tat sie sich genauso wenig, so dass jeder die dunklen Augenringe unter ihren Augen erkannte, oder die viel zu vielen Sommersprossen.

Und so kam es, dass niemand Amira in den Schulfluren ansprach. Genauso still verlief auch der Unterricht, in dem sie so viel mitmachte, wie sie nur konnte. Die Ablenkung war ihr herzlich willkommen. Doch anders als sonst, konnte sie sich nicht auf die Schule konzentrieren. Leise murmelte sie die Wörter, die ihr Aurelius genannt hatte und übte sich in dem wahrnehmen von Energien. So konnte sie jede Bewegung ihrer Klassenkameraden sehen, ohne dieses selber zu sehen.

Laut dröhnte die Klingel. Amira ließ sich wie immer Zeit, ihre Mathesachen zu verstauen. Warten würde sowieso niemand. Als sie jedoch den Raum verließ, standen Suresh, Armir und Titia gegenüber der Tür und schienen genau dies zu tun. Titia lächelte auf und umarmte sie stürmisch, als wären sie schon lange, enge Freunde.

“Isst du mit uns?” fragte sie aus großen Augen, als sie Amira losgelassen hatte. Verwirrt konnte diese allerdings sie nur anschauen. Essen? Man hatte sie zum Essen eingeladen. Ganz langsam trat das Leben wieder in sie und die Stumpfheit des Tages fiel von ihr ab, wie die Eiszapfen im Frühling.  

Erst nickte sie, dann stammelte sie ein Ja hervor und schlussendlich grinste sie breit. Tränen der Freude stiegen ihr in die Augen.

“Na dann los, ab in die Cafeteria”, rief Armir begeistert und schwang enthusiastisch die Arme in die Höhe. Titia tat es ihm gleich. Nur Suresh starrte stur an ihr vorbei, als würde sie nicht existieren. Die Mundwinkel hatte er missbilligend verzogen.

Mit einem breiten Grinsen griff Titia nach Amiras und Sureshs Handgelenk, womit sie dieser jede Möglichkeit auf Flucht nahm. Die drei liefen los und schliffen den eher trotzigen Werwolf mit sich, als wäre es das normalste auf der Welt.

Suresh stampfte unterbewusst stark auf den Boden auf. Dies war einer der Momente, wo er seinen Bruder verfluchte. Am liebsten hätte er ‘Nein’ gesagt, jedoch kam Titia. Und da stand sie dann vor ihm, mit ihren großen, goldenen Augen, das genauso goldene Haar unschuldig geflochten und schmollenden Lippen. Wie ein Hund hatte sie zu ihm aufgesehen. Er hätte nicht ‘Nein’ sagen können, was auch immer getan hätte. Titia hätte ihn so lange gezwungen, bis sie ihr Ziel erreicht hätte. Egal mit welchem Mittel. Also hatte er nachgegeben und damit das tägliche Essen mit seinen Freunden versetzt. Ob diese darüber glücklich waren? Sie hatten ihm miese Dinge zugeworfen, aber vor allem hatten sie sich über Amira lustig gemacht. Über ihren Körper, die guten Noten und die Naivität.

Er spürte regelrecht die Blicke auf sich. Auch wenn er nicht so beliebt war, wie Lennard es gewesen war, so hatte er doch einen Ruf, welcher gerade in Bruchsekunden verfiel. Dank seines kleinen Bruders und seiner Kindheitsfreundin, welche in genau diesen Augenblick sich grinsend zu ihm umdrehte. Er verbiss sich jedes einzelne, gemeine Kommentar.  

Als Suresh seinen Blick hob, sah er die offene Cafeteriatür schon von weitem offenstehen. Schüler strömten in gleichmäßigen Massen hinein und einige wenige verließen den riesigen Raum. Mit jedem weiteren Schritt wurde ihm unangenehmer. Seine Freunde würden ihn so sehen. Mit einer der unbeliebtesten Schülerin der Schule, seinen hyperaktiven Bruder, der so manche Prügeleien schon gestartet hatte und Laetitia, die Armir Konkurrenz leistete.  

Laut seufzte er auf. Das würde heute ein langer, harter, aber vor allem nervenzerreißender Tag werden.

Schweigend folgte Suresh den Drei mit gesenktem Kopf. Hoffentlich nahmen seine Freunde ihm das nicht mehr übel. Schließlich waren sie nicht so aufdringlich und anstrengend wie Laetitia. Ein Glück.

Zu seinem Pech kam jedoch einer seiner engeren Freunde, Phillip, auf ihn zu.  

“Jo, isst du nicht heute mit uns?” Fragend blickte er zu seinem Bruder. Leicht spöttisch hob er eine Augenbraue, bis sein Blick auf Amira fiel und er ein neutrales Gesicht zog. Er wandte seinen Kopf wieder zu Suresh und sah diesem in die goldenen Augen. Phillip war anscheinend einer der wenigen, welcher noch nicht seine Nachricht gelesen hatte. Suresh atmete tief ein.

“Nein. Mein Bruder besteht darauf”, brummte er als Antwort und hob genervt die Schultern. “Oh, okay. Viel Spaß.” Phillip ging ohne ein weiteres Wort zurück an ihren Tisch. Einer der begehrtesten, mit Ausnahme Lennards. Doch an diesen saßen nun neue Schüler, 7. Klässler. Nervige Zwerge.

Amira folgte Sureshs Blick und bleib plötzlich stehen. Jeder konnte ihr ihren offensichtlichen Schmerz anerkennen. Er stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit geballten Fäusten hob sie den Kopf und stolzierte weiter. Jedoch brannten ihren Augen und das Herz schmerzte. Sie konnte einfach nicht loslassen, egal wie sehr sie es versuchte. Das war ihr Tisch gewesen. Und nun, nun wurde er von Kindern besetzt, die noch nicht einmal einen Gedanken an ihn verwarfen. Sie hatten es nicht verdient! Das war ihr Tisch gewesen.  

Brodelnde Wut breitete sich ihn aus. Kochend, heiß und zäh.  

Wie konnten sie ihn so einfach vergessen haben? Wie konnte sie seinen Platz ersetzen? Hieß es das, zu sterben? Vergessen zu werden.  

Sie schluckte ihre Wut herunter und rückte in der Schlange auf. Nicht lange würde er vergessen bleiben. Bald würde sie ihn zurückholen und dann würde alles wieder wie früher werden. Wenn sie bloß eine Idee hätte, wie?

Suresh kühle Hand holte sie aus ihrer Starre. Eine größere Lücke tat sich vor der Schlange und ihr auf.  

“Alles okay?” fragte er die normalste Frage der Welt. Amira nickte steif und nahm sich ein Tablet. Sie spürte die besorgten Blicke alle auf ihr. Ihre Finger verkrampften sich.  

“Es ist alles okay”, bestätigte sie die Lüge. Mit einem Ruck löste Amira sich aus ihrem Stand und lud sich Teller mit Essen auf. Viel zu viel für ein Mädchen ihrer Größe, doch sie hatte schon immer einen riesigen Appetit besessen und heute war dieser besonders stark.  

Armir sah ihr fragend nach, zuckte dann allerdings bloß mit den Schultern und begann sich ebenfalls Teller mit Essen auf sein Tablet zu laden. Titia schloss sich ihm mit einem aufmunternden Lächeln an. Sie versuchte Armir in ein Gespräch zu beteiligen, doch er konnte mit seinen Gedanken nicht im Hier und Jetzt bleiben. Immer wieder schweiften sie zu den gestrigen Tag. So viel war geschehen. Erneut waren junge Krieger in einen tödlichen Kampf gezogen. Sie würden sterben. Wie immer.  

Jedes Mal, wenn wieder welche gingen, konnte der Junge nur an die goldenen und blauen Augen voller Hoffnung denken, die leer und tot zurückkehren würden. Er konnte nicht verstehen, warum sein Bruder mit ihnen wollte. Er würde sterben. Leere breitete sich in seinem Herz aus. Zwei Geschwister. Ein weiteren wollte er nicht auch noch begraben. Nicht noch einen. Eher würde er dafür Amira opfern.

Als er den Kopf hob, bemerkte er, dass sie sich schon längst in einen Tisch in der linken Raumecke gesucht hatten. Titia hatte es aufgegeben, die beiden aufzumuntern. Stattdessen aß jeder still sein Essen. Wie sehr er doch die Stille hasste.

“Amira, kommst du später eigentlich wieder vorbei?” Gelangweilt stocherte Armir in seinem Essen, Fischstäbchen, herum. Er spürte die Blicke auf ihm. Titia, wie sie erleichtert lächelte, während Suresh versuchen würde, ihn mit seinen Blicken zu erdolchen. Er zuckte als Antwort bloß mit den Schultern.

Überfordert stammelte Amira herum. Sie wusste nicht ganz recht, was sie sagen sollte. Also schluckte sie schnell die letzten Reste ihres Essens hinunter und stützte dann ihren Kopf auf den Arm ab. “Gerne, wenn es okay ist”, murmelte sie. Schnell schob sie sich eine weitere Gabel in den Mund. Essen lenkte sie ab. Wie gerade jetzt.  

Die drei überforderten sie. Ihre erwartungsvollen Blicke, die so schnell sich in Enttäuschung wandeln können. Und das würden sie sicherlich auch irgendwann.  

“Natürlich. Sonst hätte Armir doch nicht gefragt”, bestätigte Titia und lachte hell auf. Sie schien wieder heiterer Laune zu sein. Mit einem breiten Grinsen schob sie den Teller zur Seite.

“Und was machen wir dann? Ich würde gerne einmal gegen dich kämpfen.” Mit verheißungsvollen Blick blickte sie Amira an und stützte ihren Kopf auf den Händen ab. Dieser blieb das Essen im Halse stecken. Hustend versuchte sie zur Luft zu kommen.

“Ich kann nicht kämpfen”, brachte sie würgend hervor, bevor sie nach ihrer Trinkflasche griff und ein Viertel des Inhaltes in den Mund schüttete.  

“Dann lernst du es”, erwiderte Titia. Amira verschluckte sich fast erneut. Kämpen? Sie und kämpfen? Es gab viel gute Witze, aber dieser war sicherlich keiner davon.  

“Ähm Titia, ich glaube nicht das Amira der Kampftyp ist. Sie nutzt sowieso Magie und ist uns haushoch unterlegen”, entgegnete Suresh. Amira atmete erleichtert auf. Sie konnte dem Mädchen vor ihr einfach keinen Wunsch ausschlagen, aber er schon. Dankend lächelte sie ihm zu, doch Suresh Miene blieb steif. Er ignorierte sie.

“Aber sie ist eine Magierin. Ich glaube nicht, dass sie uns so sehr unterlegen ist. Schließlich hat sie einen Vampir besiegt”, entgegnete Armir. Breit grinsend schob er ebenso sein Geschirr beiseite.  

“Das war nur Glück”, murmelte Amira verlegen.  

“Glück? Ach komm schon, es gibt bessere Ausreden. Locker bist du total stark und gibst es einfach nur nicht zu. Ich mein, dein Feuerdrache war mega cool - und gefährlich. Er hätte alles binnen Sekunden in Brand setzen können.” Herausfordern sah Titia in die Runde. Wer wird mir nun widersprechen? Jedoch schwieg jeder. Triumphierend grinste sie auf.

“Aber zwischen unseren und ihren Kampfstil liegen Welten. Sie ist eher für den Fernkampf geeignet und wir für den Nahkampf. Dazu sind wir viel zu schnell und wenn wir sie verletzen. Keiner von uns ist zwar ein Alpha, aber wir müssen es nicht drauf anlegen.” Suresh Stimme war kühl, regelrecht abweisend gegenüber Titia, und vor allem sachlich. Schwer schluckte das Mädchen mit den goldenen Augen und verbiss sich jeden gehässigen Kommentar. Er brachte sie zur Weißglut, wie kein anderer. Immer widersprach er ihr, hielt sich für etwas Besseres und zog jeden mit seiner Laune herunter.  

“Ist das nicht Amiras Entscheidung?” Herausfordernd warf sie ihm einen siegessicheren Blick zu, bevor sie sich zu Amira umdrehte. Kaum jemand konnte ihr etwas ausschlagen.

“Ich weiß nicht, ob das so intelligent ist?” murmelte Amira. Leicht enttäuscht verzog Titia das Gesicht und setzte dann erneut ihren Hundeblick auf. Die Magierin war doch ein härterer Brocken, als sie erwartet hätte. So unsicher und ängstlich wie sie war. Stattdessen sollte sie ein wenig Zuversicht und Mut erlangen. Leichter herauszufordern sein.

“Und was wäre, wenn du nochmal auf einen Vampir treffen würdest? Wir könnten dich trainieren. Zwar nicht in der Magie, aber im Kampf. Und es würde dir guttun.” Titia holte tief Luft. Es war gemein, allerdings sollte sie es ansprechen. Schließlich waren sie Freunde und die mussten nun einmal die Wahrheit sagen. Egal wie unschön diese war.

“Und es würde deinen Körper auch gut tun.” Mit einem vielsagenden Blick nickte sie zu Amiras Bauch. Augenblicklich lief Amira rot an und ließ die Gabel sinken.  

“Das...ich glaube nicht, dass das einen Sinn hat. Dafür esse ich viel zu gern”, murmelte sie in eher in sich hinein, als dass es ein normaler Mensch hätte verstehen können. Allerdings saß sie mit Werwölfen an einen Tisch.  

“Training kann bei jedem Wunder bewirken. Wir hatten auch mal paar etwas kräftigere Jungs bei uns im Rudel”, bemerkte Armir. “Und die wurden gebissen. Das ist ein riesiger Unterschied. Ich bezweifle, dass sie es jemals weit bringen wird. Weder im Kampf, noch im Training. Guckt sie euch doch an.” Suresh Stimme war kalt. So kalt, dass jedem sich die Nackenhaare aufstellten und Titia laut die Luft einzog. Wut brannte in ihren Augen auf.

“Wie kannst du nur?” zischte sie. Jedoch stand er nur wortlos auf und ging. Schnell wandte sie sich zu Amira und strich ihr aufmunternd über den rechten Arm.  

“Das hatte er nicht so gemeint”, versuchte sie es. Jedoch wusste sie es besser. Er hatte jedes einzelne Wort so gemeint, wie er es gesagt hatte. Er war nun einmal Suresh.

Amira nahm langsam beide Arme unter den Tisch. Ihr Gesicht glich einer Tomate und war genauso rund. Besäße sie grünes Haar, hätte jeder sie vielleicht sogar für eine gehalten. Schnell schüttelte sie den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. Die Worte hatten sie nicht getroffen. Sie war es gewöhnt. Aber getröstet zu werden, das war für sie neu.  

“Alles gut. Ich glaube aber, dass er recht hat. Ich bin nicht für den Kampf geeignet. Ich kann ja noch nicht einmal jemanden verletzen. Den Vampir konnte ich auch nicht töten. Und ihr habt schon Recht, wenn es um mein Gewicht geht. Aber mich stört das nicht. Ich kenne es nicht anders.” Traurig starrte Amira ihren noch immer halbvollen Teller an. Ihr war speiübel und alles andere als nach Essen zu mute. Schon von dem Geruch der Cafeteria wurde schlecht.

“Hör doch auf so zu denken. Du bist ein Genie, du beherrschst die Magie. Schau dich doch einmal um. Wie viele von denen könntest du in Feuer aufgehen lassen und keine könnte dich davon abhalten. Du bist stark. Und Schönheit ist Ansichtssache. Du brauchst dich für nichts zu schämen. Egal wer etwas sagt. Ich bin stolz darauf, dich als Freundin zu haben.” Aufmunternd lächelte Titia ihr zu. “Ich genauso. Komm nachher einfach rum und wir machen irgendetwas. Egal was. Du bist jederzeit willkommen.” Armir tat es ihr gleich.

Amira wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war wortwörtlich sprachlos. Ihr fehlten die Worte. Bevor sie auch nur etwas dagegen unternehmen konnte, liefen die ersten Tränen. Schniefend begann sie zu weinen.  

Zwei unterschiedliche Arme waren auf der Stelle da, um sie in eine innige Umarmung zu ziehen. Leise redeten Titia und Armir auf sie ein. Jedoch wussten sie auch nicht so recht, was sie sagen sollten. Schließlich war es für sie unverständlich.  

“Wisst ihr”, schluchzte Amira “So etwas Liebes hatte noch nie jemand zu mir gesagt.” Ihre Angst und ihre Schüchternheit waren verschwunden. Sie hatten sie akzeptiert. So wie er.  

Glücklich umklammerte sie die Beiden nur noch mehr.  

“Und warum heulst du dann?” fragte Armir verwundert. “Weil ich glücklich bin”, murmelte Amira. Noch immer mit einer leichten Röte löste sie sich aus der Umarmung. Die Werwölfe warfen sich verwunderte Blicke zu, bevor sie sich ihr wieder gegenüber niederließen.  

“Hat dir wirklich so etwas noch niemand erzählt?” fragte Titia verwundert und reichte ihr ein Taschentuch. Dankend nahm Amira dieses entgegen und wischte sich die Tränen und die Schnodder aus dem Gesicht.  

“Ja, wirklich. Ich hatte niemanden vor Lennard. Schon immer war ich die Außenseiterin gewesen und irgendwann habe ich mich dran gewöhnt. Deswegen ist es mir auch egal, was Suresh sagt. Er kennt mich nicht, also hat er auch nicht das Recht über mich zu urteilen”, sagte Amira. Jedoch wurde sie mit dem letzten Satz leiser und erneut schlich sich die Röte in ihre Wangen. Es war für sie neu, stark herüber zu kommen, dass Leute ihr zuhörten und sich Sorgen um sie machten. Sie war seit langem wieder glücklich. Seit langem fühlte sie wieder das Gefühl von Geborgenheit, welches ihr davor nur Lennard hatte schenken können.

“Das ist”, begann Titia, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Nie zuvor hatte sie ein so einsames Kind gesehen, das trotzdem so tapfer und so stark war. Doch vor allem hatte selten jemand so sehr ihr Herz berührt.  

Mit Tränen in den Augen sprang sie auf und umrundete den Tisch, zu Amira. Sie umschlang sie mit festem Griff.  

“Jetzt hast du uns”, flüsterte Titia mit heiserer Stimme. Viel zu pipsig und zu hoch, allerdings genoss Amira den warmen Atem an ihrem Ohr. Die Körpernähe und das kitzelnde Haar, welches ihr in den Nacken fiel.  

“Danke.” Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. “Wirklich.” Laut schluchzte sie auf und erwiderte die Umarmung. Sie klammerte sich regelrecht an den weichen Stoff Titias Pullovers und schmiegte sich gegen ihre Brust. Die Nähe tat ihr gut. Endlich hatte sie wieder jemanden gefunden.

“Alles gut”, flüsterte Titia besänftigend. Langsam strich sie Amira über den Rücken und zeichnete Muster auf den Stoff. Ihr Atem beruhigte sich. Leise hörte sie ihr Herz gegen die Brust schlagen.  

“Gruppenumarmung? Ich will auch!” Der Stuhl fiel krachend hinter Armir um, jedoch interessiert ihn das nicht. Freudig sprang er zu ihnen und umschloss beide, mit seinen überraschend langen Armen.  

Minuten vergingen, in denen sie so verharrten. Viele Schüler waren ihnen verwunderte bis überstürzte Blicke zu, als seien sie verrückt. Was sie in so nach mancher Definition vielleicht auch waren.  

Langsam löste sich Armir als erstes. Sein Rücken schmerzte von der unbequemen Situation und er hatte sich selbst den Atem abgeschnitten. Titia tat es ihm gleich. Grinsend ließen sie sich auf ihre Stühle, Armir stellte seinen mit einem lauten Krachen wieder auf alle Vier, fallen.  

“Also, kommst du dann später?” fragt er voller Neugier. Seine Augenbrauen wippten, kleine Grübchen hatten sich neben seinen Mund gebildet. Amira starrte ihn einen Augenblick fasziniert an, bis sie sich zusammenriss und sein Lächeln erwiderte. “Gerne, wenn es okay ist.” “Das hatten wir doch schon!” rief Titia empört. Dieses Mal war es ihr Stuhl, welcher laut zu Boden ging. Aus Schlitzen blickte sie sie böse an. Die Arme in die Hüfte gestützt und bedrohlich nah schwebte ihr Gesicht vor Amiras.

“Natürlich kannst du jederzeit, und mit jederzeit meine ich wirklich jederzeit, kommen! Sei doch nicht die ganze Zeit so schüchtern.” Ihre Miene wurde lockerer und als sie Amiras überraschten Gesichtsausdruck sah, musste sie sie sich ein lautes Lachen unterdrücken. Sie stellte den Stuhl wieder hin und setzte sich. Doch ihre Augen blieben auf dem braunäugigen Mädchen, welches mit verzweifelten Augen sie ansah.  

“Aber...”, setzte Amira mit brüchiger und viel zu hoher Stimme an. “Kein aber. Mein Vater hat damit wirklich kein Problem. Also komm rum.” Armir stützte heiter seinen Kopf auf die Arme und musterte sie.  

“Okay”, gab Amira schlussendlich bei. Insgeheim aber freute sie sich. Sie durfte kommen und gehen, wann sie wollte. Jederzeit war sie willkommen. Ob Aurelius auch so oft da war? Wie gern sie all ihre Zeit und Energie auf das Magiestudium beziehen würde. Ob es einen Monat oder doch zwei dauern würde, bis sie ihn wiederbeleben könnte?

Das laute Klingeln ließ alle drei zusammenzucken.  

“Ich hab nach den Block Schluss, wie sieht es bei euch aus?” fragte Titia und stand auf. “Same”, antwortete Armir augenblicklich. Erwartungsvoll blickten sie Amira an. Ihr war die Aufmerksamkeit noch immer unangenehm, aber sie würde sich mit der Zeit daran gewöhnen. Hoffte sie.  

“Ich auch.” Ihre Stimme ging in dem Lärm unter, jedoch konnten die zwei Werwölfe sie trotzdem verstehen. “Dann treffen wir uns am Schultor.”  

Damit ging jeder seinen Weg. Amira zu Biologie, Titia zu Musik und Armir zu Deutsch.  

Amira verbrachte die letzten Minuten der Stunde mit dem kontinuierlichen Blick auf die Uhr. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, freute sie sich auf das Treffen sehr. Sie würde mehr über die Magie lernen, mit den Alten reden können, jedoch auch mit den Zwei wie normale Jugendliche herumalbern und vielleicht würde sie einen Kampf auch zu stimmen. Entschieden hatte sie sich noch nicht.

Mit dem erneuten Läuten war ihr Schultag beendet. Amira sprang voller Vorfreude, und zur Verwunderung des Kurses, auf, während sie noch die letzten Blöcke in ihre Tasche zurücklegte. Auf dem Weg hinunter, die Biologierräume lagen im 3. Stock, fiel sie sogar fast die Treppe hinunter. Jedoch linderte sie nicht ihr Tempo. Stattdessen hüpfte sie nur noch schneller die Stufen zur Freiheit hinab.  

Als Amira das Tor erreichte, war sie die Erste. Zögernd nahm sie ihr Geschichtsbuch hervor. Es war das erste Mal seit seinem Tod, dass sie auf jemanden wartete und so hatte sie es sich auch abgewöhnt, ein Buch mitzunehmen. Die Schulbücherei hatte den ganzen Tag offen, so dass sie in den Freistunden und Pausen beschäftigt war.  

Es dauerte 10 Minuten, bis Armir mit Titia eingehakt aus dem Schulgebäude herauspaziert kamen. Ihr Blick fiel auf Amira, welche mutterseelenallein mit einem Buch in der Hand am Zaun angelehnt dastand. Erst zeichnete sich Verwirrung, Entsetzen und Reue in ihren Gesichtern ab. Sie hatten das Mädchen vergessen.  

“Du hast auf uns gewartet?” fragte Armir mit großen Augen. Amira sah auf. Lächelnd schlug sie das Buch auf und stieß sich ab. “Natürlich. Ihr hattet gesagt, wir treffen uns am Schultor”, antwortete sie. Verwirrt sahen sich beide an und schluckten dann.  

Sie hatten es vergessen.  

“Na ist ja auch egal. Wollen wir?” Fragend legte Amira den Kopf schief. Ihre Schüchternheit war verschwunden. Genauso die Angst und alle anderen Emotionen, die sie vor fremden Menschen erfuhr. Doch Armir und Laetitia waren für sie keine Fremden mehr. Anstelle dessen waren sie Freunde, mit einen sie von nun an öfters etwas machen würde. Vielleicht jeden Tag zum Mittag essen?  

“Klar”, antwortete Titia für den verdutzten Armir. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen hängte sie sich ebenso bei Amira ein und zusammen liefen sie los, Richtung Wald. Die Sonne schien, eine kühle Brise wehte, jedoch war es ein schöner Septembertag. Der Herbst stand an und an den Bäumen, an den sie vorbeiliefen, verfärbten sich. So mancher Passant trug schon einen Schal und bald würde eine Grippewelle wieder umgehen. Allerdings mochte Amira die Jahreszeit. Sie erinnerte sie nicht an ihn.  

Das Rudelhaus lag so still und verlassen wie sonst immer vor.  

Armir kickte seine Schuhe zu den restlichen paar Schuhen und stieg dann, zu Amiras Verwunderung, die Treppe hinauf. Titia folgte ihm. An der Hälfte des Absatzes blieb sie stehen und wandte sich an sie.

“Willst du weiter doof rumstehen oder kommst du jetzt mit hoch?” Spöttisch hob sie eine Augenbraue und nickte dann in Armirs Richtung, der schon in seinem Zimmer verschwunden war. Amira tat, wie ihr geheißt und stapfte die Treppe hoch. Auch hier hingen an der Wand keine Bilder. Sie konnte sich nicht ganz vorstellen, was sie da oben erwartete. Den Gedanken, dass Armir und sein Bruder dort leben würden, verwarf sie schnellsten. Das Haus stand schließlich leer.  

Doch das tat es nicht. Nachdem sie die beiden aufgeholt hatten, blieb sie mit offenem Mund vor Armirs Zimmer stehen. In schwarzen Buchstaben war sein Name an die Tür geklebt worden. Dahinter verbarg sich ein riesiges Zimmer, mit allem was man sich wünschen konnte. Ein großes Bett, daneben Bücherregal vollständig gefüllt mit Büchern und darauf Pokalen. Hinter dem Bett lag ein riesiges Fenster, doppelt so breit wie die Tür und fast genauso groß, jedoch ohne Balkon.  Auf der anderen Seite stand ein Schreibtisch mit einen PC, daneben ein Flachbildschirmfernseher und zwei Konsolen, sowie zig Spiele.

“Wow”, murmelte Amira und sah sich erstaunt um. So etwas Einzigartiges hatte sie zuvor noch nie von einem Raum gesehen. Das Zimmer bestand aus dem gleichen, geschliffenen Holze, weshalb das Zimmer nach Wald roch und durch das riesige Fenster strömten Sonnenstrahlen. Es hüllte den gesamten Raum in angenehmes Tageslicht.

“Ich hätte nicht erwartet, dass hier überhaupt wer wohnt”, flüsterte Amira. Sie war von der Schönheit überrumpelt.  

“Ja, hier ist es aber auch immer ziemlich still. Vater hasst Lärm, deswegen ist Mutter mit meinen kleinen Geschwistern ganz oben und er hält seine Besprechungen im Keller. Jeder einzelne Raum ist Schallgeschützt.”  

“Ist dein Vater wirklich so streng?” Amira konnte sich den Mann noch immer nicht ganz vorstellen. So hatte er gestern Morgen nur leicht überarbeitet und alt ausgesehen, allerdings war er auf der Beerdigung ein Monstrum gewesen.

“So streng? Es gibt niemanden, der schlimmer ist”, brach es aus Titia heraus. Erstaunt blickte Amira zu ihr hinüber. Der Junge öffnete widersprechend den Mund, jedoch wusste er nicht so recht, was er dagegen sagen sollte.

“Sag jetzt nicht, dass das gar nicht so ist. Ich kenne ihn länger als du”, warf sie ein, obwohl er keine Widerrede hervorgebracht hatte. “Du hast ja recht”, brummte er stattdessen und ließ sich auf den Boden fallen. Titia nahm das Bett, an der sonnigsten Stelle von allen, ein.  

“Wohnst du hier auch?” fragte Amira neugierig. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich darauf, an die Tür lehnend, hin. Ihre Augen fixierten wieder Titia.  

“Natürlich nicht”, lachte diese. “Aber warum kennst du ihn dann schon länger?” Neugierig stützte sie ihren Kopf auf ihrem Knie ab. Ihr Blick huschte neugierig durch den Raum und fixierte schlussendlich wieder Titia.  

“Meine Eltern waren sehr enge Freunde von seiner Mutter. Aber sie sind vor 13 Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Zwar lebe ich bei meinen Großeltern, aber ich kann die beiden doch nicht allein mit ihrem Vater lassen. Und seine Schwestern sind auch ganz nett.” Die Worte fielen mit solch Leichtigkeit, dass es Amira schauderte. Trotz der Tatsache, dass ihr ihre Eltern nicht so viel bedeuteten, wie sie es sollten, könnte sie ihren Tod trotzdem nicht verkraften. Aber Titia. Sie sprach mit solcher Überschwänglichkeit, als ginge es um jedes andere Thema. Keine Spuren von Trauer oder Frust waren auf ihrem zarten Gesicht zu erkennen.  

“Vermisst du sie nicht?”  

“Natürlich. Wer würde das nicht? Aber ich habe mich damit abgefunden. So wie Armir und Suresh mit ihren Dad. Es gibt halt Dinge im Leben, die man nicht ändern kann – oder sollte.” Armir nickte bestätigend. Verwundert sah sie zu dem Mädchen auf. Sie war psychisch stärker als Amira es erwartet hätte.  

“Aber warum fragst du mich aus? Ist das nicht meine Aufgabe?” scherzte Titia und warf den Kopf lachend in den Nacken. Dabei leuchtete ihr Haar wie pures Gold. Ihr Gesicht war von den Sonnenstrahlen durchtränkt.

“Ihr kennt meine Geschichte schon”, bemerkte Amira. "Da hast du wohl recht”, bestätigte Armir belustigt. Mit einem Schwung stand er auf und blieb im Raum stehen.  

“Ich würde aber trotzdem gerne dich noch kämpfen sehen. Wie wäre es? Ein fairer Kampf. Ich verletze dich auch nicht”, schlug er vor. Amira stutzte. Sie hatte gehofft, der Frage aus dem Weg gehen zu können. Doch nun stand er vor ihr und forderte sie zum Kampf auf. Die Idee klang sogar ein wenig verlockend. Jedoch schüttelte sie schnell den Kopf.  

“Aber ich kann nicht das gleiche versprechen. Wenn dir etwas passiert”, murmelte sie. Ihre Gedanken schweiften wieder zu ihm und den Unfall. Wie er krachend gegen die Wand geflogen war. Nein, das konnte sie sich nicht noch einmal verzeihen. Vor allem war Armir noch so jung und zerbrechlich.  

“Ich heile schnell. Es ist also nicht schlimm, wenn du mich ein wenig ankokelst und nicht weit entfernt ist auch ein See”, versuchte er es weiter. Ihr stand die Sorgen ins Gesicht geschrieben, genauso wie ihre Hautfarbe zu einem bleichen Grün gewechselt war. Egal was passiert war, es hatte sie zutiefst verstört. Beruhigend beugte Armir sich zu ihr hinab und legte eine Hand auf ihre Schulter.

“Ich bin ein Custos. Uns kriegt man nicht so schnell klein”, scherzte er mit einem breiten Grinsen, so dass sie wieder seine Grübchen erkennen konnte.  

Amira versuchte sein Lächeln zu erwidern, aber sie wusste, ohne in den Spiegel blicken zu müssen, dass es eher einer Grimasse ähnelte. “Das ist wirklich nicht so eine gute Idee”, murmelte sie entschuldigend. “Ach komm schon. Ich passe auch auf.” Titia schwang sich ebenso auf und stand auffordern vor ihr. Die Arme in die Hüfte gestützt und wieder ihr Gesicht ihr entgegengestreckt.  

“Beherrscht du Magie?” Ihre Antwort war schnippischer, als sie es gewollt hätte. Allerdings wollte sie niemanden mehr verletzen. Sie wollte ihn retten, vielleicht auch andere Leben, aber sie wollte nicht mit ihrer Magie kämpfen. Außer es musste seinen. Und dies war nicht solch ein Fall.  

“Wir könnten einen dazu holen?” fragend wandte sie sich zu Armir und hob eine Augenbraue. Er zuckte bloß mit den Schultern. “Wenn einer da ist, dann ist er sicherlich in der Besprechung mit Vater.” Enttäuscht stieß Titia die Luft aus.  

“Ach komm schon Amy. Bitte, bitte, bitte.” Flehend sah sie sie durch große Hundeaugen an. Amira seufzte laut auf. Sie konnte nicht ‘Nein’ sagen. Egal wie sehr sie es auch versuchte, sie hatte es nie gelernt.  

“Okay”, gab Amira kleinlaut nach und ließ den Kopf hängen. Ihr ging das mehr als nur gegen den Strich. Aber was sollte sie sagen? Nein? Sie besaß nicht genug Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen. Die beiden würden vielleicht sogar nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollen. Dabei hatte sie sich erst jetzt mit ihnen angefreundet und ihre Ängste abgelegt. Hatte sie zumindest gedacht.

“Yeay!” Freudig sprang Titia auf und fiel Armir um den Hals. Lachend hielt er sie fest und versuchte selber nicht zu stürzen, so überschwänglich wie sie war. “Danke.” Lachte auch er. Als nach einer Minute Titia noch immer herumhüpfte und wortwörtlich Freudensprünge vollführte, griff er nach ihrem Arm.

“Und du passt schön auf, dass uns nicht passiert. Ja?” Breit grinsend nickte sie. “Versprochen.” “Gut, dann lass uns runter gehen.” Auffordernd sah Armir zu Amira hinunter und reichte ihr seine Hand. Dankend nahm sie diese entgegen und ließ sich hochziehen. Mit dem Zeigefinger an den Lippen ermahnte er Titia, still zu sein, bevor sie leise die Tür öffnete. Leise liefen sie wieder die Treppe hinunter, zogen sich erneut die Schuhe an und spazierten dann durch den Aufenthaltsraum nach draußen.  

“Okay, die Regeln. Das Feld ist unbegrenzt. Ich beiße und kratze nicht, Titia passt dabei auf. Ist einer von uns in der Pattsituation, ist der Kampf beendet. Das entscheidet Titia natürlich auch. Versuche bitte nicht die Fenster zu beschädigen”, erklärte Armir sofort, nachdem er die Terrassentür hinter sich geschlossen hatte.  

“Einverstanden” rief Titia aufgeregt. Sie hüpfte voller Vorfreude von einem Bein auf das andere und wieder zurück. Immer wieder zuckte ihr Kopf leicht und ihre Hände öffneten und schlossen sich. Amira vermutete, dass sie hyperaktiv war.  

Erwartungsvoll blickte Armir nun sie an. Verwirrt legte sie den Kopf schief, bis ihr wieder einfiel, was er wollen könnte. “Einverstanden.”  

“Gut, dann mach dich bereit”, sagte er und grinste auf. Missmutig seufzte sie. In was war sie da bloß geraten? Ein unwohles Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Tief atmete sie und schlug sich mit den Handflächen gegen die viel zu runden Wangen. Möge Gott mir und auch ihm beistehen.

Ihr Blick glitt zu der Tür. Sie stand zu nah an dem Haus dran. Mit einem zögernden Blick zu Armir, stellte Amira sich weiter weg von dem Haus. 2 Meter hinter ihr stand der erste Baum, 3 Meter links der nächste. Die Fläche war nicht ganz so groß, wie es am Anfang geklungen hatte. Schulterbreit stellte sie sich zwanzig Meter von ihm entfernt auf. Seine Augen fixierten ihre.  

“Bereit?” fragte Armir. Nein. Doch Amira nickte.  

Armir stürmte mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit los. Allerdings war sie schon darauf vorbereitet und entfesselte binnen einer Millisekunde ihre Magie. Zwei Flammenringe legten sich beschützend um sie. Mit ihren Gedanken löste sie den Ersten zu einem Drachen auf, der mit züngelnder Zunge nach ihm greifen wollte. Armir wich nur knapp aus. Entgeistert sah er sie an. Die Überraschung stand ihm in die Augen geschrieben.  

“Sollen wir das doch nicht lieber lassen?” fragte Amira zögerlich. Er schüttelte bloß den Kopf und breitete sich auf den nächsten Angriff vor. Enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. Was für ein Narr er doch war. Denn sie konnte ihn ernsthaft verletzen. Wie leicht es wäre. Sie könnte alles in einem Radius von fünfzig Meter in Brand stecken, die Luft zum Atmen nehmen oder ihn einfrieren. Der Avatar hatte Jahre gebraucht, um die Elemente zu meistern. Jedoch für sie, wo der Kampf einzig durch ihren Kopf und nicht mehr durch ihren Körper geführt wurde, war es ein leichtes ohne es überhaupt trainiert zu haben.  

Vorsichtshalber stellte sie sich vor, wie der Boden gefror. Sich wortwörtlich in eine Eisfläche verwandelte. Es geschah. Eis breitete sich, wie die Flammen es könnten, aus. Kurz vor Armir hielten sie inne.  

“Lassen wir es bitte sein?” Ihr war schlecht. Was könnte sie nicht alles tun. Sie hatte sein Leben in ihrer Hand. Sie könnte alles Mögliche mit ihm anstellen. Ihn die grausamsten Schmerzen zu bereiten und die qualvollsten Tode erleiden lassen. Dafür musste sie bloß kurz ihre Gedanken gehen lassen. Ein falscher Gedanke und sie würde zutiefst sündigen. Kein Gott auf der Welt würde ihr vergeben.  

Die Tür wurde geöffnet und Suresh trat in Begleitung von Aron heraus. “Nein”, zischte Armir und stürmte los. Sie sah es kommen. Doch sie tat nichts. Amira schloss die Augen. Verzweifelt schluckte sie ihren Kloß hinunter und leitete ihre Gedanken auf Lennard. Sein Gesicht, die sturmgrauen Augen und das verwuschelte Haar. Nie wieder.

Sie spürte die feuchte Wärme ihrer Tränen auf der Wange und den Windstoß. Etwas Spitzes berührte ihren Kehlkopf.

Langsam öffnete Amira die Augen. Dicht vor ihrem Gesicht konnte sie Armir erkennen. Seine Hand war ausgestreckt und die Finger gerade. Als sie diesen folgte, erkannte sie lange Krallen, die aus seinen Fingernägeln gewachsen waren.  

“Warum?” Trauer lag in seiner Stimme, Enttäuschung in seinen Augen. Kraftlos sackte der Arm zurück zu seiner Hüfte. Armir schritt langsam er von ihr zurück. Amira wandte sich schnell von ihn ab. Hätte sie ihn verletzt, könnte sie sich das niemals vergeben. Nicht noch einmal.  

Ihr blick fiel auf Aron. Missbilligung lag in seinen Blick. Und Abneigung. Gegen sie.  

Amira musste schwer schlucken. Er würde sie hassen. Armir würde sie hassen. Jeder von ihnen. Sie war feige, ja, aber sie verletzte ihre Freunde nicht. Sie war ihnen treu. Egal was sie von ihr verlangen würde. Niemals wieder wollte jemanden verlieren, so wie ihn. Und sie würde alles dafür tun, um ihn zurück zu holen.  

Aber nun. Nun war sie wieder allein. Armirs Enttäuschung, Arons Abneigung und Sureshs... Spott. Amira schluckte schwer. Wortlos stürmte sie an Titia vorbei, in Richtung See.

Ihre Füße trugen sie zu dem See. Der Waldboden knirschte unter ihren schnellen Schritten. Äste krallten sich ihre Haare und die Kleidung; bohrten sich in ihr Fleisch und rissen die Haut auf, doch sie bekam es nicht einmal mit. Schnell wischte sie sich mit den Händen über die Augen, bevor die ersten Tränen fallen würde.  

Wieder hatte sie alle enttäuscht. Wieder hatte sie versagt. Dabei wollte sie einfach niemanden verletzten. Was war daran so falsch? Vermutlich alles. Sie war der Grund genug. So war es schon immer gewesen. Egal was sie tat, es war falsch. Angefangen bei ihren Eltern, durch ihren Charakter, ihr Aussehen und ihren Noten.  

Mit rasselndem Atem erreichte Amira den See. Das dunkle Wasser glich schwarzer Tinte. Einzig allein die kleinen Wellen, vom Winde getrieben, zerstörten den Anschein. Die Sonne durchbrach nicht mehr die dicke, graue Wolkendecke und kräftige, kalte Windböen zogen über das Wasser.  

Das Flussufer war kahl. Wenige Pflanzen sprossen aus dem sandigen Boden, der fast genauso dunkel war wie das Wasser. Kraftlos sackte sie an diesem zusammen. Warme, salzige Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften leise auf ihre Klamotten. Laut schniefte sie. Ihr Blick sank zum Wasser. Was hatte sie bloß falsch gemacht? Reichte sie wirklich als Grund für alles?

Das seichte Schwappen des Wassers über den Boden beruhigte sie. Die Tränen versiegten. Langsam breitete sich ein Gefühl der Taubheit vom Herzen aus. So wie immer. Am Ende hörte sie nur noch ihren kehligen Atem. Rasseln und schwer.  

Ihre Finger gruben sich in den kühlen Sand. Körner bohrten sich unter ihre Fingernägel, jedoch spürte sie es nicht einmal. Verträumt spielte sie mit dem Sand, als wäre es das faszinierendste auf der Welt. Ihre Gedanken schwanden, der Schmerz kein Teil mehr von ihr.

Amira glitt in eine Trance über. Langsam kroch sie zu dem eiskalten Wasser. Gierig griff es nach ihren Armen und Beinen; durchnässt ihre Kleidung. Doch das Mädchen bemerkte es nicht einmal. Stattdessen stand sie auf und lief in das kalte Wasser.  

Freiheit. Akzeptanz. Frieden. Mehr wollte sie nicht. Mehr hatte sie nie gewollt. Das Wasser bot es ihr an, lud sie ein.  

Die Kälte, die wie tote Hände nach ihr griffen und an ihr zehrten, bemerkte sie noch immer nicht. Der Boden lag leicht unter ihr und gab mit jeden Schritt nach. Schlamm ließ sie einsacken.  

Das Wasser ging ihr bis zum Hals, als sie das erste Mal innehielt. Ein leuchtendes Etwas war vor ihr aufgetaucht. Fröhlich flatterte es und gab ein Summen von sich. Kleinen Flügel, die den eines Schmetterlings glichen und ihren hellen blau gefärbt waren, sprossen aus einem winzigen, menschlichen Körper. Sie war so zart, als bestünde sie fast aus Luft. Eine leuchtend blaue Fee schwebte knapp vor Amiras Gesicht.  

„Wer bist du?“ fragte sie erstaunt an das Fabelwesen gewandt. Sie konnte ihren Augen nicht trauen. Eine echte, wahrhaftige Fee schwebte vor ihrem Gesicht.  

„Lilie“, flötete diese mit piepsiger Stimme. Der schlanke Körper besaß die weiblichsten Rundungen, die Amira jemals gesehen hatte. Heller, blauer Stoff umwölbte ihren Körper und ließ sie fast schon göttlich wirken. Blaue Haaren waren zu einem aufwendigen Zopf hinaufgebunden und wirkte surreal. So klein und fein wie sie war. Ihr Gesicht war gerade mal ein Daumenabdruck groß.  

„Und was machst du hier?“ Starr blickte sie das Wesen aus großen Augen an.  

„Leben“, entgegnete sie knapp und zum Teil auch belustigt. „Ihr könntet ausversehen auf unserem Heim treten”, sagte sie mit hoher und höflicher Stimme. „Heim?“ Verwirrt sah sie in das dunkle Wasser. „Ja. Möchtet Ihr es einmal sehen?“ Ihr Herz machte einen Sprung. Ob sie wollte?

„Ja, liebend gerne.“ Freudig sprang sie auf und strahlte grinsend die Fee an. Amira war aus ihrem Trancezustand aufgewacht.

„Dann folget mir.“ Die Fee schwebte heiter vor ihr herum, bevor sie in das dunkle Wasser eintauchte. Amira holte tief Luft und tat es ihr gleich. Das stetige Leuchten der Fee führte sie weiter in den See, bis zu dessen Mitte und tief hinunter. Das Wasser wurde klarer und dunkler. Es glich keinen schwarz oder grau mehr, sondern ein gesundes, dunkles Blau.  

Vor ihr türmte sich eine riesige und zugleich winzige Stadt auf. Hunderte von Feen glitten durch das Wasser und die Türme. Es hätte ein kleines Atlantis sein können, so prachtvoll und atemberaubend wie sie war. In der Mitte stand ein riesiger Turm, einen Meter hoch und sicherlich auf tief. Um dieses herum bauten sich kleinere Häuser mit engen Gassen, sowie einer Hauptstraße mit Markt, auf. Begrenzt wurde sie durch eine prächtige Mauer, die fast so groß wie der Turm selbst. Und alles war in schillernden Farben. Lila, Blau, Türkis und Grün. Helle, fröhliche Farben und genauso die Feen. Doch nicht nur Feen schwebten durch das erleuchtete Wasser, sondern auch winzige Meerjungfrauen.  

Amira spürte, wie die Ohnmacht sie bedrohte zu verfallen. Schnell konzentrierte sie sich mit letzter Kraft auf das Wasser um sie. Eine Luftblase umgab ihren Kopf. Verwundert und dann zufrieden lächelnd, blickte die winzige Fee sie an.  

„Willkommen in Levaium.“ Die Fee winkte sie weiter zu sich heran und schwebte dann weiter zu der winzigen Stadt heran. Was sie tat, konnte man nicht schwimmen nennen, denn sie flog. Sie bewegte sich mit ihren Flügeln fort.  

Zögernd tauchte Amira mit ihr tiefer bis zum Grund, wo die Stadt lag. Aufgeregt schwebten weitere Feen näher und musterten sie. Tausende von Blicken. Augenblicklich schoss ihr erneut die Röte ins Gesicht. Sie wollte wieder fort.  

Und trotzdem war sie von der winzigen Stadt, so mehr sie darüber nachdachte vermutlich aus Korallen bestand, fasziniert. So schön und doch klein. Würde die Welt nun über alle so aussehen? Die ihr die wundervollsten Dinge der Welt zeigten und ihr vor lauter Staunen die Luft zum Atmen nahm.  

Allerdings drohten die Blicke sie zu überfluten. Sie zu ertränken.   

„Ich glaub ich sollte gehen“, murmelte Amira in ihre Blase hinein. Die Paare an Augen brannten auf ihre Haut. Zwirbelten und schmerzten. Panisch versuchte sie nach Luft zu schnappen, wo doch eine Blase voller Sauerstoff sie ummantelte.  

„Sei Ihr euch sicher?“ fragte die hohe Stimme der Fee. „Ja“, murmelte sie, obwohl sie so gerne länger bleiben würde. Jedoch nicht bei so vielen kleinen Wesen, dessen Blicke genauso sehr brannten wie die normaler Menschen.  

„Geht es Euch denn schon besser?“ Verwundert legte Amira den Kopf schief. Ob es ihr besser ging? Hatte die Fee sie etwa hiermit aufheitern wollen?  

„Wie bitte?“ fragte sie, statt zu antworten. „Ihr saht so traurig aus. Ich dachte, ich könnte Euch ein wenig aufmuntern. Aurelius’ Freunde sind auch meine Freunde“, antwortete sie zaghaft. Erstaunt blieb Amiras Mund offenstehen. Jemand hatte sich Sorgen um sie gemacht. Hatte sie aufmuntern wollen. Tränen bildeten sich erneut und versuchten erneut, nach so vielen Malen am heutigen Tage allein, sich freizukämpfen.  

“Danke”, flüsterte sie. Schnell wischte sie sich die Tränen fort und lächelte die Fee an. Erst verwundert, fast schon wortlos, versuchte sie das Lächeln zu erwidern. “Das war wirklich lieb von dir”, fügte Amira hinzu.  

“Jedes Mal wieder gerne”, flötete Lilie, nachdem sie ihre Worte wiedergefunden hatte. Schnell flog sie zu ihr hinauf, vor ihr Gesicht. Ungewollt musste Amira breit aufgrinsen. Wie viele Menschen hatten ihr heute etwas Gutes getan? Hatte Gott sie vielleicht doch erhört?

“Vielen lieben Dank nochmals. Ich sollte jetzt aber wirklich langsam zurück gehen.” Mit einem Knicks erwiderte die Fee, welches Amira ihr gleich tat. Voller Freude schwamm sie allein wieder hinauf. Vielleicht war sie ein miserabler Trainingspartner, jedoch wollte sie ihren Freunden eine gute Freundin sein. Und dafür durfte sie nicht so einfach flüchten. Sie musste sich Aron und ihren Ängsten stellen.  

Amira erreichte sicher das Ufer. Ihre Klamotten waren vom Wasser schwer und kalt. Aber was war sie für eine Magierin, wenn sie nicht einmal ihre Kleidung trocknen konnte? Die Stoffe erhitzen sich zu angenehmen 25 Grad und das Wasser löste sich zu Dampf auf.  

Mit etwas zu festen Schritten lief sie zu den Anwesen zurück. Der Waldgeruch zwiebelte ein wenig in ihrer Nase und die Gespräche der Werwölfe konnte sie schon von Weitem hören, jedoch nicht lauschen. Sie wollte es auch nicht, schließlich gehörte sich es nicht.

Aron stand noch immer im Garten, Titia, Suresh und Armir bei ihm. Allerdings waren noch zwei weitere Männer, groß und muskulös, ein Job als Türsteher wäre ihnen sicher gewesen, und sahen mit verbitterter Miene auf mehrere...Säcke. Die Gesichter aller anwesenden waren auf diese gerichtet. Die Stimmung war so erdrückend, dass man nach ihr hätte greifen könnte.  

Amira beschleunigte ihre Schritte und kam atemlos neben Armir zum Stehen. “Was ist...” Sie brach ab. Ihr Blick glitt zu den offenen Säcken. Leichensäcke. Und in jedem lag jemand. Sie erkannte sofort die beiden jungen Männer vom gestrigen Tag wieder. Mit offenen Augen sah der Blondhaarige in das endlose Nichts. Sie waren voller Angst. Als spiegelten sie seinen letzten Augenblick wider. Er starb voller Furcht.

Geschockt schlug Amira die Hände auf den Mund. Ihr war speiübel.

Der Zweite von ihnen war schwerlich zu erkennen. Sein Gesicht war geteilt worden und Hirnmasse floss aus dieser Wunde. Ihm fehlte ein Auge. Stattdessen lag ein dunkles Loch an der Stelle.  

“Was ist mit ihnen geschehen?” würgte sie hervor. Mit aller Kraft hielt sie ihren Mageninhalt zurück. Vor ihr lagen Leichen. Tote Männer. Sie konnte es einfach nicht fassen.  

“Du solltest gehen”, antwortete Suresh nur mit kalter Stimme. Amira nickte. Ja, das sollte und vor allem wollte sie. Schnell stürmte sie los, in das Haus hinein, um nach ihren Sachen zu greifen, und genauso schnell wieder hinaus. Als Amira das Anwesen weit genug hinter sich gelassen hatte, ergoss sich ihr gesamter Mageninhalt zu ihren Füßen. Zitternd stolperte sie nach hinten. Der Boden gab unter ihr nach und sie fiel.  

Doch sie spürte es nicht einmal. Starr konnte sie nur geradeaus blicken. Das Bilder ängstlich aufgerissenen Augen vor ihr.

Kapitel 5

 

Aufgebracht stapfte Suresh durch sein Zimmer. Er konnte es nicht fassen, was für ein Narr sein Vater war. Wie konnte er ihn, einen seiner besten Krieger, nicht losschicken. Schließlich musste auch er sich langsam beweisen. Ihm würde in Zukunft das Rudel gehören, egal was sein Vater auch sagte, und dann musste er bereit sein. Und er müsste sich bis dahin als wahren Krieger bewiesen haben. Nichts ginge dafür besser, als der Kampf gegen einen echten Dämon zu gewinnen.  

Voller Wut trat er gegen den nächsten Gegenstand, sein Schulrucksack flog mit aller Kraft gegen die Wand und blieb mit einem dumpfen Geräusch am Boden liegen, bevor er zornig stapfte weiterstapfte und sich die Haare raufte. Womit hatte er das verdient?  

Suresh konnte es in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr aushalten. Kraftvoll riss er das Fenster auf und sprang ohne zu zögern hinaus. Im Fall verwandelte er sich in seine wahre Form.  Ein riesiger, grauer Wolf mit den gleichen, goldenen Augen.

Er landete krachend auf den Boden. Doch es kümmerte ihn nicht. Sollten die Aufpasser seines Vaters ihn halt jagen. Dann hätte er wenigstens an jemanden seinen Ärger auslassen können, ohne sie dabei zu verletzen.  

Suresh stürmte los. Sein Ziel ungewissen und nur geleitete von dem Wunsch nach Freiheit. Frei von den Bildern der Toten, losgebunden von seiner Verantwortung und der Verpflichtung. Die Freiheit lag zu seinen Füßen, der Sauerstoff zum Atmen im Wind. Er genoss es. Die kühle Luft, welche sich in sein Fell verfing, es zerzauste und über seine Körper strich. Vollkommene Freiheit.  

Seine Füße leiteten ihn zu einem Zweifamilienhaus aus Backstein. Ihm war unklar, was er dort wollte. Verwundert sah sich Suresh um und versuchte durch irgendwelche Hinweise sich selbst zu verstehen. Allerdings war es ein ganz normales Haus. Er spürte ein paar Augen auf sich. Schnell wandte sich Suresh zu dem Auto hinter ihm. Ein schwarzer, fast genauso großer Wolf trat hervor.  

“Armir”, begrüßte er ihn trocken. Es überraschte ihn keineswegs. Sein Kopf drehte sich zum Klingelschild. Langford. Was hatte er auch anderes erwartet? Der Wald brachte ihn schon lange nicht mehr die Ruhe und den Frieden, den er erhoffte. Stattdessen hatten ihn seine Gedanken hierher getrieben. Mit Armir.  

Ein weiterer Wolf erschien. So silbern, wie er selbst. Doch sie war kleiner. Und Titia. Sie alle fühlten sich anscheinend an das kleine, unschuldige Mädchen gebunden.  

“Was macht ihr hier?” fragte Suresh. “Das gleiche wie du. Sich Sorgen um sie machen. Erst dein Vater und dann die Leichen. Wie soll das arme Kind das ertragen? Und von dir braucht man im Übrigen erst gar nicht sprechen. Wie konnte du es wagen, sie so sehr zu verletzen?” Wütend verwandelte sich Titia zurück in ihre Menschenform und hob drohend den Finger. Dabei fiel ihr locker das blonde Haar über die Schultern und bedeckte ihre Brüste. Mattes Mondlicht fiel auf ihren schlanken und doch trainierten Körper.  

Er versuchte den Blick bei ihren Augen zu halten. “Ich kannte Lennard und auch die Gerüchte um Amira. Sie ist eine Außenseiterin, hatte nie Freunde. Sie wurde sogar die ersten zwei Jahre auf einer privaten Schule unterrichtet und hatte genau deswegen nie Freunde gefunden. Was glaubst du passiert mit solch einem Menschen, wenn dieser plötzlich den wichtigsten Menschen in seinen Leben verliert? Sie ist ein Genie in der Magie. Und das ist das Gefährliche an ihr. Sie wird ihn zurückholen und dann wird sie den Kontakt zu uns abbrechen. Sie wird nur noch bei ihm sein und für ihn leben.”

Sureshs Worte hingen schwer in der Luft. Leise lauschte er den regelmäßigen Atem der zwei. Zwischen diesen hörte er sein eigenes Herz schlagen.  

“Du denkst wirklich so von ihr?” fragte Armir entsetzt. Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben. Flüssig verwandelte er sich ebenfalls in seine menschliche Form zurück.  

“Sei ehrlich zu dir selber. Was glaubst du?” Leise Seufzte er und verwandelte sich ebenso. Auch wenn ihm seine Wolfsform lieber war. Sie schenkte ihm Sicherheit und Macht.

Nun standen sie alle Drei splitternackt vor Amira Haus. Suresh Blick fiel wieder zu diesem. Hoffentlich schlief sie. Er hatte sie im Wald gesehen, wie sie dasaß und sich nicht mehr bewegen konnte. Sie hatte eine halbe Stunde gebraucht, um sich zusammenzuraffen und schnell davon zu laufen. Später hatte sie sich wahrscheinlich in den Schlaf geweint.  

“Du hast sie vorhin nicht gesehen. Wie glücklich sie war. Sie hat vor Glück geheult! Und verletzen kann sie auch niemanden. Du hast den Kampf vorhin beobachtet und du hast einfach nur spöttisch dagestanden!” Kreischend hallte Titias Stimme durch die Straße. Die beiden Jungs zuckten zusammen.  

“Bist du wahnsinnig?!” zischte Suresh und sah sich misstrauisch um. Doch es war tiefste Nacht. Wenn er sich recht erinnerte, war es 1 Uhr morgens. Die Meisten schliefen fest genug, allerdings nicht jeder. Sie sollten vorsichtiger sein.  

“Nein, bloß stinksauer. Sei froh, dass dein Bruder mich von dir ferngehalten hat! Ich hätte dir dafür so die Fresse poliert”, zischte sie. Er bemerkte, wie schwer es ihr fiel leise zu reden. Oder wie er es sah, zu schreien. Genervt fuhr er sich durch das zu lange Haar. Es gab nichts mehr zu sagen. Jeder hatte seine eigene Meinung und loswerden würden sie das Mädchen sowieso nicht in nächster Zeit. Aber auf ihre Anwesenheit konnte er gut verzichten. Sie würde ihn nur weiteren ärger mit seinem Vater bringen, dafür, dass sie nicht das schaffte, was er von ihr verlangte. Er sah in ihr eine Waffe, so wie Armir zuvor. Ob sein jüngerer Bruder noch immer so dachte, bezweifelte er jedoch sehr stark.  

“Ich verzichte gerne auf Vaters Wut. Vielleicht hast du es noch nicht mitbekommen, aber er sieht sie nur als Waffe. Glaubst du ein kleines Mädchen interessiert ihn? Wir reden hier von unserem Vater.” Wütend entgegnete er ihren Blick. Sie stockte. Langsam öffnete sich ihr Mund und schloss sich wieder.  

“Das würde er niemals”, murmelte sie leichenblass. “Och doch und das weißt du bloß all zu gut.”  

Stumm stand Amir nur daneben. Es hatte keinen Sinn sich in ihre Diskussion einzumischen. Sie beide hatten unrecht. Sie mussten es haben! Er spürte, wie langsam das Gewissen an ihm nagte. Niemals hätte er das wollen dürfen. Wenn sie sterben würde, wäre es seine Schuld! Hätte er sie doch niemals an seinen Vater ausgeliefert.

“Lass uns lieber abhauen, vor noch wer aufwacht, und besprechen das ein anderes Mal”, bemerkte Suresh und sah sich dabei misstrauisch um. Auch Armir lauschte. Schritte innerhalb eines Hauses waren zu hören. Die zwei nickten bestätigend und so schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder gegangen. Niemand hatte die drei riesigen Wölfe in der Nacht gesehen.

Schreiend schreckte Amira aus ihrem Schlaf. Ihr Körper zitterte, ihre Atmung war hektisch. Panisch sah sie sich in dem dunklen Raum um. Es war nur ein Traum.

Seufzend ließ sie sich wieder zurück in das Kissen fallen. Zum dritten Mal war sie aus demselben Alptraum aufgewacht, in welchen gigantische Dämonen, schwarz, mit riesigen Augen und einem Grinsen auf dem runden Gesicht, das von einem Ohr zum anderen reichte; und Leichen, die sich zu dessen Beinen stapelten. Unter ihnen auch Suresh, Armir und Titia, aber auch Lennard, lebendig. Mit rotglühenden Augen und Blut auf den Lippen.  

Erschöpft ließ sie den Kopf zur Seite fallen. Ihr Blick fiel auf die roten Ziffern ihres Weckers. “5:47” Bald müsste sie aufstehen. Dabei fühlte sie sich erschöpft, müde und vor allem ängstlich, vor dem was sie im Traum gesehen hatte. Dass es real würde.  

Die Angst hatte sich tief in ihr Mark und Knochen gefressen und der Schweiß sickerte noch immer aus ihr heraus. Sie konnte nicht einmal ihr Herz beruhigen. Wild schlug es ihr gegen die Brust, als stünde der Dämon noch immer vor ihr.  

Sie schloss müde wieder ihre Lider und versuchte noch ein wenig Schlaf zu finden, obwohl es nichts nützen würde. Sie würde übermüdet zur Schule gehen müssen. Vor ihren inneren Augen tauchte erneut das abscheuliche Wesen auf. Ihr Herz machte ein Satz und schnell riss sie die Augen auf. Es hatte keinen Sinn, nochmal einzuschlafen. Sie würde es nicht können.  

Stattdessen griff sie nach ihrem Handy und öffnete, nachdem sie einigermaßen wieder etwas sah, Netflix und schaute sich für die restliche Zeit eine Fantsyserie an, die auch über die Magie handelte. Bloß gab es keine Dämonen, nur arrogante Prinzen und dämliche Könige.  

Gedankenverloren schweiften ihre Gedanken wieder zu dem Dämon, statt bei der Serie zu bleiben. Sie hatte noch nie zuvor einen gesehen, weshalb er nur ein Hirngespinst war, und doch grauste es ihren Körper und ihren Verstand davor. Mehr sogar, als vor den in Blut getränkten Lennard. Er war in ihrem Traum ein Vampir gewesen. Amira erinnerte sich noch an jedes winzige Detail. Die roten Augen, die bleiche Haut und die darunter liegenden, dunklen Augenringe. Seine Haltung war straff, als wäre er sogar stolz auf sein Werk gewesen. Hinter ihm stand ein riesiger Panther mit Augen, die wie das Universum selbst aussahen. Das Tier wirkte alt und weise, fast schon göttlich. Und von ihm ging keine Gefahr aus. Nichts so wie vor dem...Monster, vor das es stand.  

Aber der Traum hatte sie auf einen Gedanken gebracht. Was benötigte man, um jemanden zu einem Vampir zu verwandeln? Konnte sie damit vielleicht Lennard wieder zurückholen?  

Schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Das könnte sie ihn nicht antun. Schließlich hatte sie auch das Monster, zu dem er werden würde, gesehen. Sein Durst würde ihn in den Wahnsinn jagen. Er wäre weder menschlich, noch frei.  

Laut plärrend sprang ihr Wecker an und Amira saß erneut aufrecht im Bett. Schnell schaltete sie das viel zu schrille Gerät aus, während sie sich innerlich schon sammelte, um sich dann für die Schule fertig zu machen. Heute würde sie wieder Suresh, Armir und Titia unter die Augen treten müssen. Ihr grauste es davor.  

Amira hatte es innerlich, im tiefsten Punkt ihres Herzens, gewusst, dass Titia und Armir mit ihr reden wollen würden. Und so war sie keineswegs verwundert, als die drei, zu ihrer Verwunderung war Suresh ebenso dabei, auf sie warteten.  

“Guten Morgen”, begrüßte sie die drei knapp. “Morgen”, erwiderte Titia als einzige. Sie alle wirkten müde und fertig. Ihre Schultern hingen, Ansätze von Augenringen konnte sie ebenfalls erkennen und das Gähnen Armirs wiesen auf eine schlaflose Nacht hin.  

“Ihr habt also auch nicht geschlafen?” bemerkte sie. “Du auch nicht?” fragte Titia erstaunt, während Armir nur bejahte und Suresh nickte. “Wie denn? Hast du ihre Gesichter gesehen? Dem einen ist einfach...er hat einfach fucking Hirnmasse verloren! Wie könnte ich da?” Allein bei dem Gedanken an den jungen Mann, wurde ihr speiübel und schnell versuchte sie ihre Magengalle wieder hinunterzuschlucken. Das Bild jedoch würde sie niemals wieder loswerden. Es hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.  

“Ja, das haben wir. Aber daran lag es noch nicht einmal”, entgegnete nun auch Armir. Amira blieben die Worte weg. Sie konnte nicht fassen, was er da gerade eben so leicht geäußert hatte. Schwer schluckte sie.

“Und woran dann?” Vielleicht lag es daran, dass sie so wenig geschlafen hatte, oder weil sie einfach keine Angst mehr hatte, so dass sie die Arme vor der Brust verschränkte und alle Drei ansah. Titia erwiderte ihren Blick verwundert und ließ dann schnell wieder den Kopf hängen. Als Einziger straffte Suresh seine Brust.

“Wegen dir.” Seine Stimme war barsch, so wie er es auch war. Erstaunt öffnete Amira den Mund, wusste jedoch nicht was sie sagen sollte. Die Röte schoss ihr in die Wangen.  

“Aber warum?” nuschelte sie. Schnell ballte sie die Hände zu Fäusten und sah auf. Direkt in seine goldenen Augen, in welchen ein winziger Funken Spott lag. “Vater hat großes mit dir vor, aber sind wir mal ehrlich. Du könntest noch nicht einmal einer Fliege etwas tun und er denkt, du könntest Dämonen töten.” Belustigt verschränkte er nun ebenfalls die Arme und sah auf sie herab.  

“Bitte was?” Geschockt riss sie die Augen weit auf. “Euer Vater will was von mir?” fragte sie entsetzt. Wie hätte sie nur denken können, dass er nichts von ihr wollen würde? Schließlich hatte er ihr einen Lehrmeister besorgt. Und doch entsetzten sie seine Worte.  

“Das du Dämonen tötest”, wiederholte er. Sein Blick verhärtete sich und er ließ die Arme sinken. “Und du wirst das ablehnen. Genauso solltest du erst gar nicht versuchen, Lennard wiederzubeleben. Vermeide einfach allgemein Stress und wir können gerne gute Freunde sein, ein klischeehaftes Leben führen und alles was du dir vorstellst, aber versprich mir, dass du es nicht wagst, weder den Wunsch meines Vaters, noch Lennard wiederzubeleben. Durch beides stirbst du.” Kalt starrt er auf sie hinab, oder wie sie es empfand, in sie hinein. Amira schluckt. Dies war eine eindeutige Drohung, an die sie sich halten sollte.  

“Warum sollte ich so etwas tun sollen. Gott hütet über Lennard”, entgegnete sie zu ihrer eigenen Verwunderung. Suresh öffnet den Mund, sagt jedoch nichts. Ihn überraschte ebenso ihre Antwort.  

“Trauernde Liebende sind unberechenbar”, antwortet er mit ein Schulterzucken. “Wir waren kein Paar”, zischte Amira. Sie verspürt den Drang, zu flüchten. Weg von ihm und seinen groben, unsentimentalen Worten, die sie verletzten und beleidigten. Dabei sprach er von Freundschaft und tat all das, was nichts mit Freundschaft zu tun hatte. Er benahm sich wie das größte Arschloch gegenüber ihr.

“Aber ich habe nichts von alle dem vor.” Wütend wollte sie an ihnen vorbei, durchs Tor stapfen und sich auf ihren Unterricht vorbereiten, doch Armir hielt sie auf. Blitzschnell griff er nach ihrem Handgelenk und suchte ihren Blick.

“Bitte. Suresh gibt sich wirklich alle Mühe und er hat wirklich nichts gegen dich. Er hat bloß wenig geschlafen”, murmelte dieser. Seine Augen suchten das Weite, richteten sich wieder auf den Boden. Amira zog ihre Hand aus seinem Griff.

“Blöd bloß, dass ich von genau solchen Leuten wie ihn Jahrelang gemobbt wurde. Weißt du wie das ist?” Wütend wollte sie ihn anfunkeln, aber sie konnte es nicht. Schließlich meinten sie es auch nur gut mit ihr. Sie sollte ihre Wut nicht an ihnen auslassen, selbst wenn sie eine Rolle darin hatten. Das Recht dazu fehlte ihr.

Zügig rauschte Amira an ihnen vorbei, in das Schulgebäude. Still blieben die drei zurück.  

“Du hättest freundlicher sein sollen”, bemerkte Titia trocken, jedoch zuckte Suresh nur mit den Schultern. “Und wer rennt ihr jetzt hinterher?” fragte Armir, welche er ihr immer noch hinterher sah. “Man könnte fast schon meinen, du würdest auf sie stehen”, sagte Suresh belustigt. “Und du bist nen Arsch. Los, du hast es verbockt, also rennst du ihr auch hinterher.” Auffordernd stemmte Titia ihre Hände in die Hüfte. “Ist ja schon gut”, brummte Suresh und trottete los.  

Ihm ging das alles gegen den Strich. Er mochte Amira, hatte zumindest nichts gegen sie. Sie war ein interessantes Mädchen, freundlicher und weniger anstrengend wie die Weiber seiner Freunde, und er wollte sie nicht vergraulen. Allerdings würde sie nur den Tod in dem Rudel finden. Dafür hatte sein Vater gesorgt. Und er war zu feige, um sie zu beschützen -zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Es war auch nicht so, dass sie schwach war und sich nicht wehren konnte, allerdings besaß sie einfach nicht den Willen zu töten. Sie war zu zart besaitet.  

Suresh benötigte nicht lange, um sie einzuholen. Zu seiner Verwunderung hatte sie sich auch nicht in die Toilette oder der Bibliothek zurückgezogen, sondern las ihre Mitschriften auf dem Flur durch. Der Raum war anscheinend noch zu geschlossen.  

“Was willst du?” fragte sie, ohne von ihren Aufschriften aufzusehen. Ihre Stimme war kühl, abweisend und desinteressiert. Suresh atmete einmal tief ein und raffte die Schultern. Ihm blieb nur diese Chance. Er durfte das hier nicht auch noch verkacken.  

“Es tut mir leid, dass ich so barsch zu dir war. Ich weiß selber, was für ein Asch ich sein kann. Aber du musst wissen...ich mag dich; wirklich. Du bist anders. Du bringst Ruhe und gleichzeitig Leben in die Gruppe und ich will nicht auch noch zu sehen, wie du genauso stirbst. Ich habe so manchen schon so verloren und deswegen habe ich gehofft, dass dich das abschreckt. Aber das hat es nicht. Du bist geblieben. Meinen Vater hast du sogar wortwörtlich abgeschreckt.” Leise lachte er nervös auf und verstummte dann wieder.  

“Ich hätte dich wirklich gerne als Freundin und auch weiterhin in der Gruppe. Aber bitte versprich es mir, dass du dich niemals auf die Idee von meinem Vater einlässt. Ich habe genug Tote gesehen.” Still blickte er ihr in die haselnussbraunen Augen. Sie hatte inzwischen das Buch geschlossen und ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Er wollte nicht lachen. Und doch musste er es. Nicht vor Spott, wie er es sonst tat, sondern dass es das knuffigste und gleichzeitig lustigste auf der Welt war. Amira versuchte standhaft ihre Tränen zu verkneifen, verzog jedoch dabei das Gesicht. Er würde sich für seine nächsten Worte am liebsten selber schlagen.

“Komm, lass dich umarmen”, murmelte er und ging auf sie zu. Sie schlang ihre Arme um seinen Brustkorb und schluchzte los. Er konnte es sich nicht verkneifen, ein kleines bisschen das Gesicht zu verziehen. Trotzdem tätschelte er ihr den Kopf und redete auf sie gut ein.  

Als sie sich lösten, zog Suresh sofort ein Taschentuch heraus und reichte es ihr. “Besser?” Lächelnd nahm sie es entgegen. “Ja.” Die Klingel dröhnte laut über ihren Köpfen.  

“Ich habe heute nur kurz Unterricht, aber kommst du nachher zum Rudelhaus?” fragt Suresh ebenfalls mit einem Lächeln. “Gerne”, erwiderte sie mit einem kräftigen Nicken. Er grinste auf. “Gut, dann bis später”, sagte er und verschwand. Sie blickte ihn noch kurz hinterher, bis sie selber zu ihrem Unterricht ging. Obwohl es erst Dienstag war und der Tag noch nicht wirklich angefangen hatte, mochte sie den Tag jetzt schon. Amira hatte nicht nur einen Freund gefunden, sondern gleich drei. Grinsend setzte sie sich auf ihren Platz.  

Als Amira Schulschluss hatte, wartete Titia geduldig auf sie. “Hey”, begrüßte sie sie. “Ah, da bist du endlich. Komm, wir müssen uns beeilen”, begrüßte Titia sie zurück. Verwundert sah sie zu Tita. “Hat Armir schon Schluss?” “Nein, aber wir können nicht noch die 45 Minuten auf ihn warten. Aron hat angerufen. Er will dich sehen”, knurrte sie unfreundlich. Ihr ging es gegen den Strich, dass er nach Amira verlangte. Er würde sie um Dinge bitten, die sie niemals tun könnte. Wie Dämonen töten. Der Mann bedeutete für sie das pure Böse.

“Du magst ihn nicht, oder?” sprach Amira die Tatsache aus. “Keiner von uns mag ihn. Wir warten wortwörtlich auf den Tag, an den Suresh die Leitung übernimmt und Aron endlich krepiert.” Angespannt ließ sie den Nacken knacken. “Er wird schon nichts allzu Bedeutendes von mir verlangen”, versuchte Amira sie aufzumuntern. Dass ihr Lächeln zittrig war, bekam sie nicht mit.  

Titia sprach kein einziges Wort über den gesamten Weg, was für Amira ein Rätsel ergab. Schließlich war die junge Werwölfin einer der gesprächigsten Menschen, die sie kannte. Aber nun schwieg genau diese.  

Wütend kickte Titia einen Stein beiseite und versuchte sich nicht zu verwandeln. Sie hatten inzwischen den Wald erreicht. Ihre Gedanken schweiften um den gestrigen Abend und die Nachrichten, die sie von Suresh erhalten hatte. Er hatte herausgefunden, was Aron als Erstes von ihr verlangen würde. Die Männer und Frauen würden von ihrer Mission zurückkommen. Der Dämon war tot und viele ihrer Mitglieder mit ihm und mit den Überlebenden würde es auch sehr viele Verletzte geben. Er würde bestimmt wollen, dass sie sie heilt. Schließlich besaßen sie nur 3 Heiler, welche zum Teil durchs Land reisten oder an den Missionen beiwohnten.  

Die Tür des Anwesens stand weit offen, allerdings lag es so ruhig und still wie immer vor. Selbst die Vögel sangen nicht und der Wind stand still. Als würden sie alle den Atem anhalten und warten.  

Titia umrundete das Haus mit zügigen Schritten, bei welche Amira kaum mithalten konnten. Sie hörte schon von Weitem dem Lärm der Gespräche und nun, sie würde es als ein Krachen bezeichnen. Als sie um die Ecke bogen, erwarteten sie schon ein Dutzend an Männern und Frauen. Jedoch, wie es schien, war keiner von ihnen einer der Krieger, die losgezogen waren. Aurelius stach mit einem roten Mantel und den Glas Whiskey in der Hand hervor. Sein Gesicht war missmutig verzogen.  

Neben ihm stand Aron, schwarz gekleidet in normaler Jeans und Shirt, und diskutierte mit ihm, während er dabei stark Gestikulierte. Amira vermutete, dass Aron der Grund war, weshalb der alte Mann die Lippen zu einen missbilligen Schlitz verzogen hatte und die Stirn runzelte. Ob es etwas mit ihr zu tun hatte?

Amira besaß nicht weiter die Zeit, sich darüber nachzudenken. Denn Titia steuerte mit zielstrebigen Schritten die beiden Männer an. Neugierig drehten sich manche der Männer und Frauen zu ihnen um, doch erkennen konnte Amira niemanden außer Suresh, welcher weiter hinten stand und sich mit einem älteren Manne unterhielt. Er wirkte höchst konzentrierte und bemerkte die beiden Mädchen nicht.

“Herr Custos”, begrüßte Titia die beiden mit verbitterter Stimme. Er schürzte die Lippen, seine Augen kniff er wütend zusammen, sagte allerdings nichts gegenüber ihrem fast schon sarkastischen Ton.  

“Schön, dass ihr so schnell gekommen seid. Amira, ich hätte eine Aufgabe für dich.” Mit einem falschen Lächeln wandte er sich dem kleinen, dicken Mädchen zu und versucht so freundlichst wie möglich herüber zu kommen. Amira drehte sich der Magen um. Sie verstand sehr gut, warum jeder ihn hasste.  

“Was für eine?” fragte sie und versuchte dabei, so vorkommend wie er zu klingen. Vergeblich. “Gleich werden viele zum Teil schwerverletzte ankommen. Könntest du dich bitte mit Aurelius um diese kümmern?” Verwundert öffnete sie den Mund. Sie hatte mit vielem gerechnet, wie bei einem Kampf aushelfen zu müssen, jedoch nur jemanden heilen zu müssen, ließ sie erleichtert ausatmen.  

“Natürlich. Es wäre mir eine Freude”, antwortete Amira und lächelte ehrlich auf. Endlich könnte sie ihre Magie für etwas Gutes anwenden. “Gut, dann störe euch nicht weiter. Titia, hilfst du bitte den Frauen beim Errichten von Krankenbetten?” Er ließ erst gar keinen Widerspruch zu und schritt eilig weiter, um anderen Anweisungen zu geben.  

Nachdem Aron sich wieder einem Gespräch begonnen hatte, drehte sich Amira zu Aurelius um. Sein Alter war heute noch stärker als sonst zu erkennen. Tiefe Augenringe lagen unter den wachsamen Augen und die Sorgenfalte auf der Stirn schienen nicht verschwinden zu wollen.

“Tag”, begrüßte er Amira. Schnell nickte sie und erwiderte die Worte. Stille. Schüchtern knetete das Mädchen ihre Finger, während Titia neben ihr unruhig wurde und versuchte, nicht den Blick auf den Boden zu senken. Amira wusste nicht ganz so recht, was er, sowie Aron, von ihr verlangten.  

“Ähm, wie möchtest du mir das beibringen?” stammelte sie schließlich hervor. Sie ärgerte sich über ihre eigene Schüchternheit und die Röte, die ihr andauernd in das Gesicht stieg. Wütend biss sie sich auf die Zunge. So kann es nicht weitergehen! Endlich hatte sie die Chance, jemanden mit Magie zu helfen und dann stellte sie sich so blöd an. Tief atmete sie ein und hob die Brust und den Kopf. Ihre unschuldigen Augen suchte seine vom Leid gezeichneten.  

Aurelius lächelte auf und eine gewisse Weichheit spiegelte sich in seinem Gesicht wider.            

“Aron zwingt mich leider dazu, dabei verstehst du noch nicht einmal die alte Sprache. Das wird jetzt gleich sehr schmerzhaft. Unvorstellbar schmerzhaft. Aber uns bleibt keine andere Wahl. Die Verwundeten könnten jeden Moment eintreffen. Lass uns doch zum See gehen.” Fast schon mit väterlicher Fürsorge sah er zu ihr hinab. Amira nickte. Ihr Blick glitt zu dem schwarzen Gewässer, welches in der Ferne glitzerte. Sie hatte keine Angst. Nicht vor ihm oder dem, was er tun musste.

Still schlenderten die beiden zu dem See hinunter. Jeder war tief in seinen Gedanken versunken und konnte sich nicht einmal auf ein Gespräch konzentrieren. Aurelius war zu besorgt, während Amira fröhlich wippte und vor Aufregung jeder Meter ihr wie ein Kilometer vorkam. Leise begann sie zu summen.  

Seicht schwappte das dunkle Wasser gegen das Ufer, während stürmische Wolken über den Himmel zogen. Nur schwach erreichte die Sonnenstrahlen die Erde. Auch dort herrschte vollkommene Stille, mit Ausnahme dem Knirschen und Knacken der Äste an den Bäumen und am Boden.  

Amira genoss die gespenstige Ruhe, auch wenn sie kein gutes Zeichen war. Es kam ihr vor, als fürchte sich der Wald vor jemanden oder etwas. Vorsichtig warf sie einen interessierten Blick zu Aurelius hinüber. Er wirkte sichtlich wachsam. Seine Augen suchten jeden Fleck im Himmel und Boden ab, sein Kiefer knirschte angespannt und seine Hände waren zu Fäusten geballt.

“Alles okay?” Amiras Blick schweifte ebenfalls über die Umgebung. “Es ist nur zu still”, bemerkte er. “Was bedeutet das?” fragte sie neugierig. Für sie wirkte der Wald wie sonst. Ein wenig bedrohlich und unheimlich, aber auch faszinierend.  

“Etwas bedrohliches kommt auf uns zu. Irgendetwas, das den gesamten Wald in Angst und Schrecken versetzt”, murmelte Aurelius nachdenklich. Erneut glitt sein Blick von einer Seiter zu anderen. “Und was für ein Wesen könnte so etwas tun?” “Dämonen. Und Götter.” Verwundert legte Amira den Kopf schräg. “Götter?” Bedeuteten diese nicht ursprünglich Segen und Glück? Sicherheit?

“In meiner Visionen war immer wieder einer”, antwortete er sorgenvoll und blieb stehen. Die flachen Wellen des Sees reichten bis zu seinen Schuhen, berührten diese aber nur knapp. “Wie sah er aus?” “Er war eine riesige, schwarze Raubkatze mit Augen, die das Universum wiedergaben.”

Überrascht zog Amira die Luft ein, weshalb sich Aurelius sofort zu ihr umdrehte. Fragend sah er sie an. “Welcher Gott wäre das denn?” fragte sie neugierig weiter und versuchte den Blick zu ignorieren. “Der der Rationalität.” Sie nickte interessiert. Was der alte Mann damit meinte, verstand sie nicht ganz recht, allerdings war für sie die alte Sprache und die Magie ebenso ein Rätsel. So hatte Aurelius einst selbst zu ihr gesagt, für die Magie bräuchte sie keine Formeln und doch sollte sie jetzt die alte Sprache lernen und Formeln aufzusagen, die ihr nicht weltliche Mächte schenkten. Es war ein Widerspruch in sich. Dass es bei den “Formeln” um Gebete zu den besagten 13 Göttern handelte, hatte sie auch verstanden; aber, dass er das ernsthaft gemeint hatte, bereitete ihr Sorgen.

Missmutig legte Amira den Kopf in den Nacken und sah gen Himmel, über welchen kein Vogel hinweg flog. Für sie gab es nur einen Gott und zu keinen anderen würde sie jemals beten oder auch nur glauben können.  

“Und was glaubst du, wird der echte Grund dafür sein?” fragte sie, um das Thema Gott hinter sich zu lassen. “Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich vermute es wird ein Dämon hier auftauchen”, brummte er, mit dem Blick noch immer auf das Wasser gerichtet. “Und wie findet ihr das heraus?” erneut hatte er Amiras voller Aufmerksamkeit. Sie hing ihm regelrecht an den Lippen, denn es waren Themen, die sie liebte. Nicht welche über Götter oder alte Sprachen, sondern Magie.  

“Wir reden mit den Feen. Sie haben ein sehr feines Gespür für so etwas. Dazu sind sie selber auch zu einem gewissen Teil göttlich, könnte man sagen.” “Wie meinst du?” “Wir haben keine Zeit mehr. Frage deine Freunde mal ein wenig mehr nach den Völkern, den Göttern und allgemein der Geschichte. Schließlich sind das ihre Legenden”, murrte Aurelius etwas grob. Amira nickte nur. Sie verstand seinen plötzlichen Stimmungswechsel nicht, jedoch fragte sie auch nicht weiter nach. Stattdessen schwieg sie und wartete.  

“Das wird jetzt sehr weh tun. Ich werde in deinen Geist eindringen, bis zu deinem Gehirn. Und dort werde ich dann Bilder über die menschliche Anatomie hinterlassen, denn unsere Aufgabe ist es, sie wieder korrekt zusammenzuflicken. Weißt du allerdings nicht, wie was aussehen soll und welche Stoffverbindung der Körper besitzt, kann das nach hinten losgehen.” Mit großen Augen sah sie zu ihm auf. Er wollt in ihren Geist dringen? Ginge so etwas überhaupt?

“Natürlich geht so etwas. Aber es benötigt viel Übung. Jetzt knie dich hin und entspanne dich”, befahl er. Sie nickte nur und verkniff sich weitere Fragen. Ob er ihre Gedanken lesen konnte? Eine Kunst, die sie auch gerne lernen würde.  

Vorsichtig machte Amira es sich auf den sandigen Boden bequem und schloss die Augen. Sie spürte, wie Aurelius sich vor ihr kniete. Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie ihn spüren. Wo er war und auch ein wenig sehen. Es war wie eine Ahnung.  

“Bereit?” fragte er bekümmert. Amira nickte. Sie spürte, wie er den Arm vorbewegte, seine Finger zu ihren Schläfen glitten und fühlte dann erst den Druck auf diesen. Tausende von Bildern prasselten wie der Regen auf sie ein. Zu viele, als dass sie diese auch nur erkennen konnte. Ihre Augen zuckten. Der Schmerz, der folgte, war unbeschreiblich. Sie konnte es nicht in Worten fassen, als die Bilder sie überfluteten. Einzig allein das es ein Stechen war.  

Aurelius löste schnell die Finger von ihrer Schläfe, nachdem er auch das letzte Bild und den größten Teil seines Wissens ihr geschenkt hatte, und fing sie auf. Amira war zusammengesackt. Ihr Mund war zu einem schrillen Schrei geöffnet, der niemals enden zu wollen schien. Er verzog leicht das Gesicht und legte seine Hand auf ihre geschlossen Lider, unter denen ihre Augen nicht aufhören wollten zu zuckten. Langsam nahm er ihr den Schmerz. Ihre Stimme verklungen, ihre Muskeln spannten sich erneut an und flatternd öffnete sie die Augenlider.   

Panisch sprang sie auf; wich von ihm fort. Ihr Kopf dröhnte, die Sicht war verschwommen. Sie wusste nicht einmal wo oben oder unten war. Das Einzige, dass sie wahrnehmen konnte, waren noch immer die Schmerzen. Als hätte ihr jemand den Kopf aufgeschlagen und ein Wurm eingesetzt, welcher sich nun durch ihr Gedächtnis gefressen hatte.  

Stöhnend legte sie beide Hände gegen den Kopf. Ihre Füße gaben erneut unter ihr nach und kniend kam sie auf den sandigen Boden auf. Wieder tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf, doch dieses Mal konnte sie sie erkennen und zuordnen. Es waren Zeichnungen vom menschlichen Körper, aber auch zu ihren Ekel Fotografien. Schnell schluckte sie die Galle hinunter, welche sie vor Abneigung hochgekämpft hatte.  

Auf den Bildern folgten Videos. Solche, wie sie sie schon aus Arztsendungen kannte, bloß mit dem Unterschied, dass sie echt waren. Es waren Aufzeichnungen von Herztransplantationen und Operationen, in denen Körperteile zusammengenäht wurde. Wissen über die Biologie und Chemie folgten.

Langsam beruhigte sich ihr schnell klopfendes Herz. Die Schmerzen waren nebensächlich geworden und ihre Orientierung wiederhergestellt. Zögerlich schlug Amira die Augen auf. Ihr Kopf dröhnte weiterhin und das Gefühl des Wurmes in ihrem Kopf war geblieben, aber mit ihm war auch, sie wusste es nicht so recht, aber würde es als Wissen bezeichnen, gekommen. Auf einmal wusste sie, wie der menschliche Körper funktionierte, was miteinander zusammenhing. Sie hatte plötzlich Ahnung von Chemie und die Stoffe, die der Körper benötigte.  

“Wie geht es dir?” fragte Aurelius vorsichtig. Er stand wieder und musterte sie besorgt. Reue lag in seinen Augen, welche schon so düster durch seine Augenringe aussahen. “Es geht. Ich habe noch leichte Kopfschmerzen”, murmelte Amira. Er nickte nur und zog einen Flachmann heraus. Große, lange Schlucke halfen seinem Gewissen, mit seiner Tat abzuschließen.  

Sie blinzelte und legte verwundert den Kopf schief. Hatte sie gerade das Empfunden, was er fühlte? Sogar das brennen in der Kehle konnte sie spüren. “Wie?” sprach Amira laut ihre Verwunderung aus.  

“Oh das. Das ist eine Nebenwirkung. Sie hört meistens nach ein paar Stunden auf. Ich habe dir gerade eine immense Ladung an meinem Wissen in dein Gehirn gepresst. Ich habe also ein Teil von mir dir gegeben und unseren beiden Körper brauchen ein wenig Zeit, bis sie aufhören, den jeweils anderen zu fühlen. Aber unsere Anwesenheit können wir voreinander nicht mehr verbergen. Es hat halt einen hohen Preis.” Verbittert nahm er einen weiteren Schluck. Sie schmeckte sie, seine Wut auf Aron und auf sich selbst. Das er ihr so etwas grauenvolles angetan hatte.  

Amira konnte nicht anders als zu lächeln. “Es muss dir nicht leidtun. Ich bin sogar froh darüber. Vielen lieben Dank.” Sie neigte leicht den Kopf, als Zeichen ihres Dankes. Er hatte ihr etwas Großartiges geschenkt. Macht und Zeit, die sie nun anders einsetzen könnte.

Der alte Mann hielt inne. Verwundert lösten seine Lippen sich von der halb leeren Flasche. “Das war nichts Gutes, was ich dir angetan habe. Ich habe mich krankhaft in deinen Kopf gezwängt und ihn mit Jahrhunderte alten Wissen bombardiert. Die Natur hat so etwas niemals vorgesehen”, brummte er. Erneut setzte er den Flachmann an den Mund und leerte ihn in wenigen Zügen.

Amira verzog das Gesicht. Ihr würde wohl niemals Alkohol schmecken würde, stellte sie fest. Er brannte in ihren Rachen und schmeckte abartig. Auch wenn sie ihn nicht selbst trank, so spürte sie alles. Selbst die leichte Benommenheit.  

“Aber du hast mir die Fähigkeit geschenkt, anderen helfen zu können. Deswegen ist es okay.” Erneut lächelte sie ihm zu. Sie spürte erst sein Erstaunen und dann die Zufriedenheit. Als würde sie ihm wie eine Tochter ihren Vater stolz machen. Amira stieg die Röte, verstärkt durch den hochprozentigen Alkohol, ins Gesicht.  

“Wollen wir wieder hoch gehen? Vielleicht braucht man unsere Hilfe”, stotterte Amira. Der alte Mann lachte kurz auf und wandte sich vom See ab. Wie viel er wohl trinken musste, um dass sie lockerer werden würde? Den leeren Behälter legte er wieder zurück in seinen Mantel, dann ging er mit großen Schritten voran. Er spürte, wie sie mit ihren kleinen Beinen regelrecht rennen musste. Wie die Bewegung sie anstrengte, wobei sie noch nicht einmal das Wissen verarbeitete hatte. Doch langsamer würde er nicht werden. Sie war ein erstaunliches Mädchen, mit dem Talent das Gute zu sehen und die Macht zu ignorieren. Sie würde Wunder vollbringen können, wenn sie durch sich selbst wachsen würde. Und sie würde ihn einholen und irgendwann an ihn vorbeischreiten. Jedoch musste sie erst einmal dafür das Gehen erlernen, so wie sie es gerade tat.  

Er fühlte den stechenden Schmerz, als sie fiel, die Entschlossenheit, mit der sie wieder aufstand und die schmerzenden Schritte, während sie ihn aufholte und schlussendlich mit rasselndem Atem neben ihm ankam. Schweiß tropfte ihr von der Stirn, ihr Haar war leicht verknotet und eine Schramme zog sich an ihrer rechten Wange entlang. Aber in ihre Augen leuchtete ein unsterblicher Funke, den niemand auslöschen könnte. Selbst Aron nicht. Ihm wurde leichter ums Herz.  

Breit grinste Amira ihn an, während sie mit ihm Schritt hielt. Aurelius konnte nicht anders, als auch zu lächeln. Bis sie das Haus erreichten. Die Anzahl der Anwesenden hatte sich verdreifacht, obwohl die meisten von vorhin gegangen waren. Aron witterte die beiden und lief eilig auf sie zu. Suresh folgte ihm.

Noch nie hatte Amira die beiden so unterschiedlich gesehen, wie nun. Arons Gesicht lag ihm Schatten, auch er besaß dunkle Augenringe, aber er schien gehetzt und unruhig. Suresh sah besorgt aus, aber nicht wegen den Verletzten, die eingetroffen waren, sie lagen auf Decken im Raum oder draußen, sondern wegen ihr. Sein Blick suchte ihren Körper ab, ob sie verletzt war. Kurz hielt er an ihrer Wange innen, dann musterte er sie weiter.  

“Was hat das so lange gedauert?” Vorwurfsvoll blieb Arons Blick auf ihr hängen. Er schürzte die Lippen und zog die Augenbrauen zusammen. Seine goldenen Augen waren alles andere als schön.  

“Das ist keine leichte Magie. Ich greife in ihrem Kopf ein”, entgegnete Aurelius. Sie schmeckte wieder seinen Zorn auf der Zunge, vermischt mit dem Geschmack von Alkohol, welchen sie wohl in den nächsten paar Tagen nicht mehr loswerden würde.  

“Sollen wir nicht eigentlich Leben retten?” entgegnete Amira wütend. Der Zorn und das Gefühl von Übermut taten ihr nicht gut. Sie wusste selbst, tief in ihr, dass sie jedes Wort bereute. Doch seine Gefühle hatten eine zu große Einwirkung auf sie.  

Aron war ihr einen vernichtenden Blick zu, jedoch ließ Aurelius ein Gefühl von Gleichgültigkeit frei, welches sie ummantelte. “Und?” Herausfordernd legte sie den Kopf schräg und verkniff sich gerade so ein Grinsen. Sie würde diesen Tag so bereuen, dass spürte sie bereits. Aber etwas dagegen tun, konnte sie auch nicht.  

Selbst Suresh sah sie mit großen Augen an. Als wäre sie ein komplett anderer Mensch. Freundlich lächelte sie Aron an, welcher immer wütender wurde. “Da”, zischte er und ging von dannen. Suresh blieb. “Was war das?” fragte er an den alten Mann gewandt. “Das ist sie doch nicht selbst”, fügte er hinzu und nickte zu Amira. “Wir sind kurzzeitig verkuppelt. Was ich fühle und denke, spürt auch sie. Kurz gesagt, sie hat für kurze Zeit mein loses Mundwerk.” Breit grinsend und ohne weitere Fragen zuzulassen, wandte er sich an die Verletzten. “Amira, wir haben eine Pflicht.” Sie nickte begeistert und eilte zu ihm, während Suresh sprachlos zurückblieb.  

“Du übernimmst die auf der linken Seite, ich die auf der rechten. In der Mitte treffen wir uns dann.” Amira nickte erneut. Mit schnellen Schritten lief sie zu den Verletzten am ganz linken Rand. Eine junge Frau, keine 30 Jahre alt, lag auf den weißen Laken. Ein Stück ihrer unteren Gesichtshälfte fehlte und röchelnd versuchte sie Luft zu bekommen. Ihr restlicher Körper sah keineswegs besser aus. Anstelle eines rechten Armes, war nur ein Stumpf mit den Überresten eines blanken Knochens übrig. Als hätte man ihr das Fleisch abgerissen, sowie den Unterarm. Mehrere Schnitte und Brüche zogen sich über den restlichen Körper.

Amira schluckte das kleine Gefühl der Übelkeit hinunter und berührte vorsichtig ihre gesunde, linke Hand. Augenblicklich wusste sie genau, was alle genäht und was neu erschaffen werden musste. Freundlich lächelte sie die Dame an.  

“Ich bin Amira und eine Magierin. Ich werde dich jetzt heilen und gleich geht’s dir besser. Weißt du, wo dein rechter Arm ist?” Die Frau öffnete die Augen und sah das Mädchen an. Hämisch verzog sie die Lippen. “Im Schlund des Dämonen.” Ihre Stimme war brüchig, kaum mehr als ein Flüstern. Amira nickte.  

“Es geht dir gleich besser.” Sie begann mit ihrer Arbeit. Aurelius Wissen überflutete ihren Geist und steuerte ihren Körper. Amira wusste, was sie tat und zugleich auch nicht. Ihre Hände bewegten sich automatisch, hielten an den Wunden und setzten Magie frei. Sie spürte, wie sich die Haut der Frau zusammenzog, die Blutungen stoppten und die Brüche heilten. Doch das Gesicht und ihr Arm, darauf hatte sie keine Antwort. Stumm sah sie die Frau an. Sie konnte nicht aus dem Nichts Körperteile erschaffen. Das war unmöglich.

Traurig schloss sie die Augen. Amira wollte ihr helfen. Endlich hatte sie die Kraft dazu, etwas Gutes zu tun. Gott wäre stolz auf sie. Und doch fehlt ihr das Wissen.  

Sie konzentrierte sich auf ihr Inneres. Es musste etwas geben. Ein kleines Stück, an das sie sich krallen konnte. Mit dem sie der armen Frau helfen konnte.  

Als Amira die Augen wieder öffnete, hatte sie dieses kleine Stück Wissen gefunden. Ihre Hände glitten zu den Wangen, oder dem Rest, der übrig geblieben war. Worte in einer fremden Sprache verließen ihre Lippen. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus und sie musste blinzeln.     

Ihr Umfeld hatte sich vollständig geändert. Sie kniete nicht mehr vor der Frau, sondern stand in einem weißen Nichts. Es gab keine Wände, keine Decke und kein Boden. In weiter Ferne lag ein Himmelbett aus dunklem Holz und roten Vorhängen. Ein Mann mit weißem Haar und goldenen Augen, welche denen der Werwölfe nicht ähnelten, und einer weißen Haut, als würde kein Blut durch diese fließen, stand vor ihr.  

“Wo bin ich hier?” fragte Amira verwundert. Ihr Blick glitt erneut über ihre Umwelt. Raum konnte sie es nicht nennen, aber ein Ort war es auch nicht so wirklich. Es fühlte sich für sie wie das Nichts an.   

“In meinem Reich. Du hast mich gerufen.” Verwundert sah sie ihn mit großen Augen an. “Ich habe dich gerufen?” Belustigt grinste er auf. “Du hast mich gerufen”, bestätigte er. “Wann?” “Gerade eben.” Verwirrt konnte sie ihn nur anstarren.

“Ich wollte eigentlich nur der Frau helfen.” Er lacht auf. “Ja, das wolltest du.” Entrüstet stemmte Amira ihre Hände in die Hüften. Sie konnte nicht fassen, dass er ihr jemand einfach so die Zeit raubte. Sie hatte besseres zu tun.

“Und kannst du mir dabei helfen?” Auffordernd knackte sie mit dem Nacken.  

“Ja.” Amiras Augen wurden groß. Sie öffnete den Mund, wusste aber nicht recht, was sie sagen sollte. Sprachlos schloss sie ihn wieder und suchte fieberhaft nach Worten.  

“Und wie?” brachte sie schlussendlich hervor. “In dem ich dir die Fähigkeit gebe, deine Macht aus anderen Dimensionen zu beziehen, zum Beispiel”, schlug er locker vor. Ein verschmitztes Grinsen umwog seine Lippen. Er besaß kleine Grübchen, die ihn nur noch aufgeweckter wirken ließen.  

“Wer bist du?” fragte sie erstaunt. Der junge Mann vor ihr, er sah nicht mal wie 25 aus, konnte nicht menschlich sein. War er ein Gott? Missmutig ließ sie die Arme sinken.

“Ich habe viele Namen. Sie dir zu sagen, bringt nichts. Aber du kennst mich unter einen Namen. Den Gott der Irrationalität oder auch der Gott der Leidenschaft.”

Amira erstarrte.

“Das ist unmöglich”, murmelte sie. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch breiter Grinsen konnte und doch tat er es. “Wäre es das, stünde ich nun nicht vor dir”, bemerkte er spitz. Fröhlich wippte er auf seinen Füßen und schien sich krampfhaft ein Lachanfall zu verbieten.  

“Aber”, setzte sie an. Schnell schüttelte Amira den Kopf. Sie hatte nicht die Zeit dazu. “Zeig mir, wie ich sie heilen kann”, entgegnete sie. Ihre Augen suchten seine, die die Unendlichkeit selbst waren. So etwas Schönes hatte sie zuvor noch nie gesehen.  

“Dafür bist du noch zu schwach”, entgegnete er. Entrüstet faltete sie die Arme vor der Brust. “Ach ja? Also kann das Aurelius?” fragte sie spöttisch. Wut und lag in ihren Augen. Wie konnte er es wagen, sie als schwach zu bezeichnen? Sie hatte so viele Wunder schon erschaffen, so viele neue Fähigkeiten erlernt und ist durch die schmerzens Hölle gegangen.

“Du hast keine neuen Fähigkeiten erlernt, sondern nur die eine, die du bis vor kurzen nur beherrscht hast, anders angewendet. Und auf deine Frage zurückzukommen, nein Aurelius kann das nicht. Nur wenige, sehr begabte Magier können das.” Sein Lächeln war verschwunden, stattdessen sah er trocken auf seine Fingernägel hinab.  

“Aber warum hast du dann gesagt, du könntest es?” fragte Amira aufgebracht. Sie hatte nicht die Zeit dazu. Ihr Patient brauchte ein geschlossenes Gesicht, statt einer offenen Luftröhre. “Ich habe nicht gesagt, dass ich es dir zeige. Sondern das ich dir dafür die Macht geben kann. Aber der Preis ist hoch.” Er hob seinen Blick und sah ihr direkt in die Augen. “Sehr hoch.”  

“Wie teuer?” fragte sie nur. “Du verlierst ganz langsam deinen Verstand. Du bist von einer einzigen Flüssigkeit dein gesamtes Leben angewiesen und du versprichst damit gegen das höchste Gebot.”  

Amira schluckte. Der Preis war hoch, sehr hoch. Wie er es gesagt hatte. Gleichzeitig könnte sie damit aber auch die Magie erlernen, ihn wieder zurückzuholen. Ihr Herz schmerzte. Für ihn.

Entschlossen blick sie den jungen Mann an. Er hatte leicht das Gesicht verzogen, sagte jedoch nichts. “Ich tue es. Ich nehme dein Angebot an.” Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihr Magen zog sich zusammen. Amira spürte nicht, dass das ihr größter Fehler war. Dass es ihr den Untergang bringen könnte, so wie Götter nicht gütig waren.  

“Gut. Aber als Warnung. Erfährt jemand von den Werwölfen oder irgendein anderer Clan davon, bringen sie dich um. Du brichst hiermit das oberste Tabu.” Sie nickte. “Trotzdem will ich es.” Entschlossen ging sie auf ihn zu und blieb knapp vor ihm stehen. Ihre Augen funkelten voller Entschlossenheit.  

“Nun dann, Amira Langford. Leiste großes und rette die Welt.” Mit einer leichter Verbeugung zauberte er eine kleine Ampulle, gefüllt mit schwarzer Flüssigkeit, hervor. Die Glasflasche war klein, nicht länger als ihr kleiner Finger und genauso breit.  

“Trink das hier”, flötete er und ein bösartiges Lächeln verzog sein Gesicht. Amira bemerkt es jedoch nicht. Ihr Blick galt den kleinen Behälter, den er in seinen langen, geschmeidigen Finger hielt. Mit zittrigen Händen griff sie danach und schraubte den Deckel auf. Ihr Körper bebte. Sie hatte Angst. Sie hatte das erste Mal vor dem Unbekannten Angst.  

Ihr Blick sank zu der Flüssigkeit. Es glich schwarzer Tinte und hätte genauso gut aus dem See entspringen können, auch wenn es dann nicht mehr so dunkel gewesen wäre.

Amira legte das Fläschchen an den Mund. Ihr gesamter Körper bebte, ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Brust. Für ihn.

Amira trank den gesamten Inhalt. Die Flüssigkeit schmeckte süß und liebkoste ihre Geschmacksnerven. Sie löste in ihr das Verlangen nach noch mehr aus.  

“Was war das?” Doch als sie aufsah, war er verschwunden und sie war alleine in dem Nichts.

Ein unberechenbarer Schmerz setzte ein und sie schrie auf. Ihr Körper begann von innen aus zu kochen. Er zerfraß sie, nahm ihr den Verstand. Ihre schrillen Schreie verloren sich im Nichts und niemand konnte sie hören. Selbst der Gott mit den goldenen Augen hatte sich von ihr abgewendet.  

Eine neue Schmerzwelle übernahm sie. Ihr Sichtfeld schwand und sie spürte, wie sich die Welt drehte, bevor sie umfiel und bewegungslos liegen blieb.

Kapitel 6

 

Erschöpft schlug Amira ihre Augen auf. Sie saß noch immer vor der Frau, welche sie aus großen Augen anstarrte. Verwirrt blickte sich das Mädchen um. Was war geschehen? Bis gerade eben war sie doch noch bei dem Gott gewesen und nun? Nun war sie wieder zurück und nichts hatte sich verändert.  

Laut rasselte der Atem der schwer Verwundeten. Amira zuckte zusammen und wandte sich an die Frau. Sie hatte keine Zeit dazu, Löcher in die Luft zu starren. Schließlich hatte sie eine Patientin.  

Tief atmete Amira ein und legte dann erneut die Hände über den Armstummel. Das Blut war verronnen, jemand hatte die Wunde ausgebrannt und somit jede Chance zu einer Zellregeneration genommen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Die Luft, die Erde und ihre Umwelt waren voller Teilchen, die sie nutzen konnte, um den Arm wiederherzustellen. Vorsichtig akkumulierte sie ihre Magie auf den Stumpf, jedoch so, dass er nicht von den Massen an Magie zerstört werden konnte, und sammelte die Teilchen und Stoffe in ihrer Umgebung. Als wären sie für nichts anderes gedacht, generierte sich eine Zelle nach der anderen. Entstanden aus den Stoffen und Energie, die sie ihr zufügte.  

Die Frau konnte nicht anders, als mit großen Augen und der Ungläubigkeit, ihren neuen Arm anzustarren. Er hatte seine vorige Form, ohne die ursprünglichen Narben, angenommen. Der Phantomschmerz war verschwunden. Fasziniert versuchte sie die Finger zu bewegen. Und es gelang ihr.  

„Das ist“, röchelte sie, konnte jedoch ihre Ungläubigkeit nicht in Worten fassen. Amira konnte nicht anders, als aufzugrinsen. Der Gott hatte die Wahrheit gesagt.  

„Ruhen sie sich noch ein wenig aus, ich kümmere mich jetzt um ihr Gesicht“, unterbrach sie sie mit freundlicher Stimme. Die Frau nickte. Amira rückte sich auf den Boden zurecht und hielt dann ihre Hände über das Gesicht und den Hals. Das, was sie sich vorstellte, geschah. Aus dem Nichts regenerierte sich die Haut. Straff spannte sie sich über die einstigen Wunden und hinterließ keine einzige Narbe. Laut atmete die Frau ein. Erleichterung zeichnete sich in ihrem zuvor von Schmerz verzogenen Gesicht ab.

Stürmisch richtete sie sich auf, um das Mädchen überschwänglich zu umarmen. „Danke.“ Die Frau war fassungslos. Sie dachte ihr letztes Stündlein hatte geschlagen und zu aller Unverfrorenheit hatte man ihr auch noch ein Kind zum Heilen gegeben. Aber dieses Kind, dieses Mädchen, hatte ein Wunder vollbracht. Sie war nicht nur gesund, nein, sie strotze nur so vor Energie.  

„Danke“, flüsterte sie erneut. Tränen stachen ihr in die Augen und sie konnte nicht anders, als laut aufzuschluchzen.  

„Bitte sehr“, erwiderte Amira mit roten Wangen. Selten hatte sie jemand Fremdes umarmt, aber noch nie aus Dankbarkeit. „Jederzeit wieder“, fügte sie hinzu und löste sich dann aus der Umarmung. Sie hatte noch sehr viel Arbeit vor ihr.  

Neugier drehte Amira den Kopf zu Aurelius, welcher schon bei seinen dritten Verwundeten war. Sie holte tief Luft. Ihr war klar, dass das noch ein langer Tag werden würde. Motiviert lächelte sie auf. Es würde zwar ein langer, aber schöner Tag werden, in dem sie endlich einmal sehr vielen Menschen helfen konnte.  

„Ruhen Sie sich noch ein wenig aus, ja?“ Amira tätschelte kurz den gesunden Arm der Frau und stand dann auf, um sich ihren nächsten Patienten zu widmen. Ein junger Mann, vielleicht Ende 20 und mit Dreitagebart sowie ausgeprägten Geheimratsecken, welcher mehrere Knochenbrüche und Schnitte, des Weiteren eine ausgerenkte Schulter und Prellungen besaß. Erstaunt hielt sie inne, als ihr Blick an seinen leuchtend blauen Augen hingen blieb. Sie glichen Eiszapfen

Schleunig begann das Mädchen mit ihrer Arbeit.

Kraftlos ließ sich Amira auf die Couch fallen. Der Schweiß lief ihr über die Stirn, dem Rücken und so gut wie allen anderen Körperteilen. Ihr Kopf dröhnte. Noch nie zuvor hatte sie sich so schwach, so ausgelaugt und entkräftet, gefühlt und gleichzeitig so glücklich. Aurelius ließ sich neben sie fallen. Ihm schien es nicht besser zu gehen. Der goldene Inhalt seines Glases schwankte stark, als wollte er überlaufen und den beißenden Gestank des Alkohols verbreiten, während er es sich neben ihr bequem machte. Sie verzog das Gesicht. Gleich würde sie wieder das Brennen in ihrem Rachen spüren und die Macht über ihre Emotionen verlieren.  

„Muss das sein?“ brummte sie. Ihr Blick ruhte angewidert auf dem Glas. „Glaubst du ich fühle deine Erschöpfung nicht? Das ist genauso lästig. Und Alkohol ist die Lösung für alles. Selbst in der Chemie.“ Genervt verdrehte Amira die Augen und versuchte ein wenig zu entspannen. Sie spürte seine Erschöpfung genauso, jedoch sagte sie dazu nichts. Allerdings würde sie darüber eine Diskussion sowieso verlieren und dafür war sie zu müde. Ihre Nerven könnten das nicht mehr mitmachen.

Die plötzliche Anspannung ließ ihre gesamten Muskeln zusammenziehen. Verwirrt drehte sie den Kopf und erkannte Aron, der in den Raum lief. Seine Haltung war lockerer, seine Gesichtszüge nicht mehr so verkniffen. Er schien erleichtert.

„Aron“, begrüßte Aurelius ihn knapp. Der Alkohol reizte ihren Hals. Entrüstet drehte sie sich zu dem alten Mann und warf ihm wütende Blicke zu. Er zuckte bloß merklich mit den Schultern, bevor er einen weiteren, großzügigen Schluck nahm.  

„Das war eine super Leistung – von euch beiden. Glückwunsch.“ Wütend sah sie zu ihm auf. Es war nicht einzig allein ihre Wut, jedoch zum Teil, die in ihr aufbrodelte. Glückwunsch. Sie konnte ihren Ohren nicht glauben. Statt einen ‘Danke’, gratulierte er ihnen.  

Aurelius ging es nicht gerade besser, doch verkniff er sich jedes respektlose Wort und trank stattdessen sein Glas mit einem Zug leer.  

„So lange wir damit Menschen helfen könne, oder?“ Er wandte sich zu Amira und versuchte aufmuntern zu lächeln. Sie nickte.  

„So lange wir damit Menschen helfen können“, wiederholte sie und hob ihre Brust. Sie brauchte seinen Dank nicht. Der Stolz, den Aurelius für sie empfand, reichte ihr vollkommen. Und das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Sollte er sich doch in die Hölle scheren und dort verschmoren, es wäre ihr recht.  

Aron nickte knapp, dann verließ er wieder den Raum. Angewidert rümpfte sie die Nase und ließ sich gegen die Lehne fallen. Ob er ihre Abneigung spürte?

„Er ist ein Arsch“, bemerkte Aurelius. Belustigt musterte er sie, während sich sein Glas von selbst mit neuem Whiskey füllte. „Da hast du recht“, brummte sie und legte den Kopf schief, so dass sie ihn ansehen konnte.  

„Auch eins?“ fragte er, während er einen weiteren Schluck nahm. Amira verzog erneut das Gesicht. „Nein danke.“ Müde schloss sie die Augen und genoss zum ersten Mal die Stille, die in dem Anwesen herrschte.  

„Alles okay?“ Amira hatte ihn nicht hören kommen, noch spüren. Verwundert öffnete sie wieder die schweren Lider und blickte Suresh an. „Ich sterbe gleich vor Erschöpfung“, beschwerte sie sich, worauf der alte Mann belustigt auflachte. Ihn ging es auch so viel besser, dachte sie sich sarkastisch.  

„Was soll dann bloß aus dir werden?“ Spöttisch zog er eine Augenbraue hoch. „Tja, eine friedliche Leiche. Was sonst? Keiner kann dann von mir noch weitere, unmögliche Dinge erwarten.“ „Dann bräuchte ich aber eine neue, genauso talentierte Schülerin wie dich.“ Hellwach und mit großen Augen richtete sie sich auf.  

„Talentiert? Es gibt bessere als mich.“ Ihr Herz zog sich allein bei den Gedanken zusammen, jedoch war es die Wahrheit. Egal wie gut sie war, es gab immer einen Asiaten auf der anderen Seite der Welt, der nicht nur besser sondern auch jünger als sie selbst war. Erneut lachte der Alte auf.  

„Nicht wirklich. Vielleicht gibt es wirklich einen 8-jährigen Asiaten auf der anderen Seite der Welt, doch hier findest du keinen, der so neugierig und so voller Freude Risiken eingeht, um Wunder zu vollbringen. Wohl es mir immer noch ein Rätsel ist, wie du Seras Wunden heilen konntest.“ Verschwörerisch schwer lag die Frage im Raum. Amira schluckte. Sie konnte ihn nichts sagen. Sie durfte es nicht.

Suresh räusperte sich. „Ich möchte euch nicht stören, deswegen ähm, mach ich das jetzt nur knapp. Vielen lieben Dank. Viele von uns verdanken euch ihr Leben und auch wenn mein Vater es nicht zugeben will, ist er euch sehr dankbar.“ Leichte Röte schoss ihm in die Wangen. „Und vor allem dir Amira. Du hast wirklich großartiges geleistet, obwohl er viel zu viel von dir gefordert hat. Vielen lieben Dank“, fügte er hinzu. Sein Blick sank zu Boden, nervös verkrampfte er die Hände zu Fäusten. Ihn beunruhigte die Anwesenheit des Zauberers. Er war unberechenbar und oft skrupellos. Einzig sein Vater hatte ihn bändigen können, jedoch gelang das ihm auch nicht so gut.  

„Alles gut, das mache ich liebend gerne. Also anderen Leuten helfen und das hat es ja“, entgegnete Amira. Sie spürte wieder den Alkohol, den Aurelius regelrecht literweise in sich hinein kippte. Ihre Wangen glühten inzwischen, doch von ihrer Schüchternheit war keine Spur mehr. Aufrichtig lächelte sie ihn an.

„Also wirklich Suresh. Du bist der Erbe des Clans. Da brauchst du doch nicht rot zu Boden schauen.“ Spott lag in der Stimme des alten Mannes. Der Alkohol beflügelte ihn und löste sein viel zu großes Mundwerk. Vorwurfsvoll sah Amira ihn an.

„Du hattest schon genug Alkohol, alter Mann“, brummte sie. Er ignorierte sie und goss sich ein weiteres Glas, bis zum Rand gefüllt, ein. „Nenn mich nicht alt, Gör“, entgegnete er. „Wie sonst? Nicht mehr der Jüngste, vom Tode bald empfangen, vom Sensenmann bald besucht, schwach, gebraucht, zerfallen, morsch, ausgedient? Such dir etwas aus.“ Schnippisch hob sie den Kopf. „Ausgedient klingt doch ganz gut“, murrte er. Ihm gefiel überhaupt nicht der Gedanke des Alterns. Er hatte schwache Nachkommen, keine Frau mehr und nichts, das er noch geben konnte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Würde er sterben, hätte er nichts hinterlassen. Sein Alter war zu hoch, sein Körper zu schwach, als dass er dies noch ändern könnte. Aber wenigstens hatte er noch eine talentierte Schülerin, die erst zu kontern begann, wenn er massenweise Alkohol in sich hinein kippte.

Amira fühlte sich von der Bitterkeit seiner Trübseligkeit überrannt. Panisch schnappte sie nach Luft. „Denk doch nicht an so etwas“, murmelte sie. Das Hochgefühl des Alkohols war verschwunden, stattdessen fühlte sie sich grausam. „Nur die Wahrheit“, entgegnete er. Interessiert wandte er sich zu den Jungen, welcher noch immer mit leicht geöffneten Mund im Raum stand, zu.  

„Alles okay? Du siehst blass aus“, bemerkte er. Suresh nickte und suchte nach Worten. „Ich bin nur fasziniert. Es ist interessant, wie der Alkohol, den Ihr trinkt, auf sie Auswirkungen hat, die sehr einprägsam sind“, murmelte er. „Da hast du wohl recht. Das macht das Trinken nur noch lustiger“, lachte er fidel. Amira verdrehte nur genervt die Augen. Ihre Stimmung stieg wieder, so wie seine. Sie erwartet jetzt schon sehnsüchtig den Tag, an dem sie nicht mehr an ihn gebunden war und kein einzigen Tropfen Alkohol mehr in ihrem Rachen spüren musste.  

„Das ist einfach nur nervig“, brummte sie und kuschelte sich in die Ecke. „Kann ich mir vorstellen“, entgegnete er lachend und nahm erneut einen Schluck. “Dann lass den Mist”, versuchte sie es erneut.

Suresh stand hilflos und steif da. Er wusste nicht recht, was er tun sollte. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, sich ein wenig um Amira zu kümmern. Schließlich war es kein Geheimnis, dass sie Blut und Gewalt nicht aus konnte und doch saß sie auf der Couch und stritt sich mit den stärksten Zauberer Deutschlands. Sie, die sonst so schüchtern war, dass sie noch nicht einmal die Blicke seines Vaters ertragen konnte.  

Zögerlich schritt Suresh auf den Sessel gegenüber Amiras zu und setzte sich. Er würde so lange warten, bis Titia und Armir kommen würden und sie etwas unternehmen konnten, oder der Alte wieder los musste. Schlussendlich war dieser auch nur ein Untergebener seines Vaters und wie er seine genetische Vorlage kannte, würde dieser seine besten Kämpfer nicht lange auf der faulen Haut sitzen lassen. So wie er es heute mit Amira getan hatte.

“Alles okay, Suresh?” fragte Amira besorgt. Er zuckte leicht zusammen und sah dann zu ihr mit einem Lächeln auf. “Ja, ich war nur in Gedanken”, antwortete er. “Liegt bei euch in der Familie, oder?” Spott lag erneut in Aurelius Stimme und hämisch Grinste er ihn an. Gelbe, schiefe Zähne kamen zum Vorschein. “Vielleicht”, entgegnete er angewidert.  

“Da fällt mir ein, hat Vater nicht noch eine Aufgabe für dich?” Mit hochgezogenen Brauen warf er den alten Mann einen kritischen Blick zu. “Ja, aber erst später. Aber danke, dass du mich daran erinnerst.” Sein Hohn verschwand und stattdessen wandte er sich mit neutralem Gesicht an Amira.

“Ich soll für 12 Tage auf Reisen gehen, paar Nachforschungen und so. Ich würde dir paar meiner Bücher leihen und so lang könntest du dann ein Selbststudium betreiben.” Mit großen Augen, er befürchtete sie könnten herausfallen, sah sie ihn an. Erneut lag der Funke der Wissbegierde und Neugier in diesen und er konnte nicht anders als aufzulächeln.  

“Das deute ich mal als ein ‘Ja’”, antwortete er sich selbst und nahm einen weiteren Schluck. Warum hatte er sich bloß einen Tag zuvor deswegen Gedanken gemacht? Nun, wie er es jetzt deutlich sah, war es verschwendete Zeit und Energie gewesen. Das Mädchen würde fabelhaft auf sich selber aufpassen können und nebenbei mehr Wissen in weniger Zeit erlernen, als wenn er ihr dies beibringen würde. Vielleicht könnte er dann auch die Alchemie mit ihr anfangen.  

Gedankenverloren blickte Aurelius vor sich hin. “Wo geht es hin?” fragte Amira so neugierig, wie sie nun einmal war. “Europareise. Einmal quer durch alle Länder”, antwortete er automatisch, während seine letzten Gedankenfetzen sich verflogen.  

“Klingt spannend. Erzählst du mir davon, wenn du wieder da bist?” Neugierig legte sie ihren Kopf schräg und setzte sich in den Schneidersitz. Locker stützte sie sich mit den Ellenbogen ab und legte ihren Kopf auf die Hände. Ein heiteres Lächeln umschmeichelte ihre rosigen Lippen.

“Natürlich”, antwortete er. Sureshs Gesichtszüge verzogen sich zu einer Grimasse. Ihm war es nicht recht, dass er sie immer weiter in diese Welt hinein zog, wobei sie doch so zart und bieder war.  

Aurelius Blick fiel auf den Jungen und er musste belustigt grinsen. Er brauchte sich nun wirklich nicht den Kopf mit Befürchtungen verstopfen, schließlich hatte sie drei Beschützer, die sie von Aron und seinen wagemutigen und vor allem gefährlichen Entscheidungen verteidigen, unterstützen und schützen würde. So etwas bräuchte er auch.  

“Na dann, ich pack jetzt lieber meinen Koffer.” Mit einem Zug leerte er das Glas, schwang sich auf und umarmte Amira zum Abschied. “Pass schön auf dich auf”, sagte er und ging, ohne dass ihr die passenden Worte zügig genug hätten einfallen können. Der Alkohol hatte seine vollständige Wirkung entfesselt. Leise gluckste Amira auf und versuchte ihren dröhnenden Kopf zu beruhigen. Das letzte Glas hatte sie nicht einmal mehr geschmeckt. Ihre Zunge brannte, ihre Sicht war verschwommen und ihr Gehirn brauchte ewig um richtig zu arbeiten. Sie fühlte sich benommen und müde.  

Träge lehnte sie sich weiter zurück und schloss die Augen. Ein fataler Fehler. Alles begann sich nur noch heftiger zu drehen. Ihr wurde speiübel und ihr Mageninhalt drohte sich einen Weg hinaus zu erkämpfen. Stöhnend sackte sie zur Seite. Ihr Körper belagerte nun vollständig die Couch und keuchend schwang ihre Hand über den Boden. Niemals würde sie trinken.  

“Alles okay?” erkundigte sich Suresh besorgt. “Sehe ich so aus, als würde es mir super gehen?” fuhr sie ihn an und stöhnte Laut auf. Ihr war so übel.

“Aber was?” Verwirrt sah er sie an, als wäre sie ein Alien. Vorsichtig stand er auf und kniete sich neben sie. Seine Hand glitt zu ihrem Haaransatz, braune Locken umspielten seinen Arm, und besorgt suchte er in ihren Augen den Grund für ihre Beschwerden.  

“Der verdammte Alkohol. Er hat auch Auswirkungen auf mich. Als hätte ich dieses Teufelszeug selbst getrunken”, brummte sie und versuchte verbissen, sich nicht zu übergeben. Mit großen Augen wich er einen Schritt zurück. Spöttisch lachte sie laut auf. “Ich kotz dir schon nicht auf die Füße.” Suresh brummte nur anerkennend. Er war sich nicht ganz sicher, ob sie das wirklich nicht tun würde, schlussendlich sprach sie wie der Alte und benahm sich auch so. Es würde ihn keineswegs verwundern.

“Soll ich dich nach Hause bringen?” fragte er besorgt und versuchte nicht abweisend zu wirken. Das Zurückweichen war vielleicht nicht die beste Aktion gewesen.  

“Alles gut. Das schaff ich schon.” Mit einem Schwung richtete sich sie auf und grinste ihn breit an. Das ihre Welt sich dabei drehte und sie umfallen würde, stände sie auf, verschwieg Amira. Sie hatte schwer verwundete Menschen, sie korrigierte sich selbst, Werwölfe, geheilt. Warum sollte sie sich also nicht auch um sich selbst kümmern können? Entschlossen biss sie die Zähne zusammen. Schritt für Schritt würde sie dieses Haus verlassen. Schritt für Schritt.  

Amira stieß sich von dem Bett ab und kam schwankend auf die Füße.  

Suresh warf ihr einen weiteren, besorgten Blick zu. Übermütig hob sie den Kopf und funkelte ihn an. Sie wollte keine Hilfe. Sie brauchte sie nicht.

Entgeistert schüttelte er nur den Kopf. Es war sinnlos. Er konnte sie nur argwöhnisch bei ihren grauenvollen Laufversuchen beäugen und hoffen, dass sie sich weder auf den Weg zurück verlaufen, noch verletzen würde.  

Amira drehte sich breit grinsend und mit hämischen Blick zu ihm um. “Siehst du? Ich brauche deine Hilfe nicht! Von dir, noch einen anderen!” Sie stieß sich von der Türzarge ab und stolperte durch den Flur ins Freie.

Suresh sah ihr hinterher, bis er selbst aufstand, sich verwandelte und sie unbemerkt in seiner Wolfsform begleitete. Er traute ihr in diesem Moment alles zu. Ein unsichtbarer Beschützer an ihrer Seite, würde dem Mädchen gut tun.

Kapitel 7

Die 12 Tagen, in welchen Aurelius Soll durch gesamt Europa zog und nach Hinweisen suchte, wo demnächst Dämonen auftauchen könnten, vergingen schneller als er gedacht hätte. Für Amira zogen sie sich jedoch wie Kaugummi. In der Zwischenzeit hatte sie damit begonnen, das Rudelhaus so gut, wie sie nur konnte, zu meiden. Ein einziges Mal ging sie hin und bereute es augenblicklich. Aron war anscheinend mit den falschen Fuß aufgestanden und kritisierte jeden, der auch nur in seine Reichweite kam. So war sie ein nutzloses Menschenkind, dass nicht einmal Blut ohne eine Menge Alkohol ertragen konnte. Wie er auf diesen Gedanken gekommen war, war selbst ihr ein Rätsel. Voller Tränen in den Augen hatte sie schlussendlich das Weite gesucht und hatte sich vorgenommen, erst wenn der alte Mann von seiner Reise wieder zurückkam, das Rudelhaus überhaupt wieder zu betreten.  

Armir, Titia und Suresh nahmen ihr das keinesfalls übel. Stattdessen drückten sie sich ebenso, heim zu kehren und hingen lieber mit ihr am Spielplatz herum.  

Amira war gerne mit ihnen unterwegs. Sie gaben ihr Mut, Kraft und Hoffnung. Vor allem aber hatten sie Verständnis für das, was sie durchmachte. Und keiner der drei ließ sie auch nur einen Tag allein. Ob nun in der Schule, zwischen den Stunden und langen Pausen, oder danach, bis spät in den Abend. Ihre Eltern hingegen interessierte es keineswegs, was ihre Tochter, bis teilweise 22 Uhr nachts, draußen trieb. Es freute sie sogar.  

Amira fühlte sich so gut, wie noch nie zuvor. Selbst Lennard hatte ihr nicht das Gefühl solch einer innigen Freundschaft schenken können - er hätte niemals so viel für sie da sein können. Doch Armir, Titia und Suresh waren es. Letzter gab sogar einzeln Freundschaften für sie auf, was sie unwohl fühlen ließ. Der Junge jedoch grinste sie nur breit an, tat dies mit den Worten: “falsche Freunde braucht niemand”, ab und wechselte das Thema.

Trotz alledem konnten sie nicht auch noch in der Nacht bei ihr bleiben und so zog sich Amiras Herz jede Nacht schmerzvoll zusammen und ließ sie kreischend aus ihrem Albträumen aufschrecken. Dämonen und Panther verfolgten sie die Nächte lang. Verletzten sie. Töteten sie. Rissen sie in Stücke und fraßen sie.  

Jede Nacht wachte sie schweißgebadet um 3 Uhr morgens auf. Ihr Herz pochte noch schmerzvoll gegen ihre Brust und die letzten Worte des Gottes lagen in der Luft. Nahmen ihr den Atem, raubten ihr alle Energie. Sie hielten ihr jede Nacht ihre Taten vor und sie schüttelte sie wie Dreck ab. Ihr Leben lief zu gut, als dass sie sich von solchen Träumen verdüstern ließ. Stattdessen griff sie nach den dicken Wälzern, die der alte Mann ihr mitgegeben hatte, und las. Stundenlang. Stunden, in den Worten ihren Geist benebelten und jede kleinste Sorge raubten. Brach dann der Morgen an, stand sie munter auf und traf sich mit den drei Werwölfen.

Als Aurelius am 1. Oktober zurückkehrte, lag das Anwesen so still wie immer da. Die nassen, grauen Haare klebten ihm an seiner hohen Stirn, die langen Kleider waren vom Schlamm verschmutzt und hinterließen lange Schmutzspuren. Er bereitete sich erst gar nicht die Mühe, Aron aufzusuchen, sondern lief direkt zur Bar. Seinen ersehnten Drink hatte er sich nach der schwierigen Reise verdient. Müde ließ er sich auf den Hocker nieder und streckte seine Glieder von sich. Die alten Knochen schmerzten bei dem regnerischen Wetter und erinnerten ihn nur allzu gut an sein hohes Alter. Keine Magie half, die Tatsache zu verstecken oder ihn jünger werden zu lassen. Er war keine 60 mehr und inzwischen zu alt, für diesen Lebensstil. Zumindest hatte er noch den Hoffnungsschimmer, dass seine Leber versagen würde und er endlich bei seiner wundervollen Ehefrau ruhen konnte. Wie sehr er ihr rotes Haar, das wie Feuer loderte, in seinen Fingern vermisste. Ihr verschmitztes Grinsen, als wüsste sie alles besser und die Heiterkeit, die sie immer umgab, egal was auch geschah. Ach seine Juna.  

Erschöpft nippte Aurelius an dem kühlen Glase, das seine Lippen mit der brennenden Flüssigkeit liebkoste und ihm einen kurzen Moment die bittere Wahrheit vergessen ließ. Ihn die schönen Erinnerungen schenkte und die Zeit zurückdrehen ließ.  

Seine Gedanken schweiften wieder ab, glitten durch den Raum. Schlussendlich blieben sie bei seiner jungen Schülerin hängen. Ob es ihr gut ging? Ob sie alles geschafft hatte, was er ihr aufgetan hatte?  

Verspannt schüttelte er den Kopf und ließ den Nacken knacken. Es war egal. Egal, wie viele Fragen er sich stellte, sich Sorgen bereiteten, am Ende würde er es sowieso nur von ihr selbst erfahren. Und bis sie kommen würde, könnten noch Stunden vergehen.  

Seine Augen schweiften zu der Uhr über der Couch. Zu schlitzen verzogen, versuchte er die Ziffern zu erkennen, doch erfolglos. Er hatte unbewusst die Magie unterdrückt und somit seine Augen zu dem alten, wässrigen Sehorgan werden lassen, welches es nun einmal war. Welches nicht vom Alter verschont geblieben war. Wie viele Jahre waren es bloß nochmal zu seinen 85 Geburtstag gewesen? Zwei?  

Fast schon fanatisch und verbissen schüttelte er den Kopf, um die Wahrheit zu verdrängen und die Magie damit wiederaufleben zu lassen. Sein Blick klärte sich, die Uhr wurde lesbar. Die schwarzen Zeiger deuteten auf kurz vor 8 Uhr am Morgen. Bis sie kommen würde, würden Stunden vergehen, dem war er sich sicher.  

Frustriert ließ er das Glas unter der Theke verschwinden und nahm sich stattdessen die gesamte Flasche. Er konnte so viel trinken wie er wollte, sie würde es nicht spüren. Die Verbindung hatte sich aufgelöst. Nun konnte er sich in aller Ruhe zurück, in die Vergangenheit zurückziehen.

Die Stimmengewirre raubten ihr die letzte Konzentration. Verschwommen lagen die schwarzen Zahlen und Buchstaben auf dem weißen Papier, mit durchgestrichenen Ergebnissen darunter. Seufzend legte Amira den Kugelschreiber zur Seite. Sie konnte weder dem Unterricht folgen, noch ihre Gedanken auf die Aufgabe fixieren. Immer wieder schweiften sie fort, an ferne Orte und folgten Gedankengänge, die ihr befremdlich waren. Als zwänge man sie ihr auf. Gedanken über Dämonenblut und seine mögliche Wirkung. Was alles mit diesem angestellt werden könnte. Doch nicht nur diese nahmen ihr die restliche Konzentration. Es trieb sie zum ersten Mal zum Rudelhaus. Als riefe etwas nach ihr. Aber es war kein gutes Gefühl, dass sie damit verband. Eher, als stand eine große Gefahr bevor, die ihr die Nerven nahm und ihren Körper zittern ließ.  

Vorsichtig sah Amira auf. Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb bei der Lehrerin hängen, welche ihr den Rücken zugedreht hatte. Schnell zog sie ihr Handy hervor und verfasste eine kurze Nachricht an die drei, in der sie vorschlug, wieder seit langem einmal früher zum Rudelhaus zu gehen. Es war gerade einmal kurz nach 9 Uhr und ein langer Tag stand ihr bevor. Missmutig steckte sie wieder ihr Handy zurück, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. Sie würde sich damit noch verrückt machen. Das stetige Ticken der Uhr, Amira hörte es leise durch die Gespräche hindurch, ließ sie zappeln. Irgendetwas sagte ihr, dass sie unbedingt zum Anwesen sollte. Unbedingt.

Als es nach einer gefühlten Ewigkeit für Amira klingelte, sprang sie auf und stürzte mit ihren Sachen zur Tür. Ihre Füße trugen sie augenblicklich zu den drei Werwölfen, die genauso unruhig wirkten, wie sie. Suresh fuhr sich andauernd durch das nasse, braune Haar. Es stand ihm inzwischen davon steil ab. Titia knabberte ihre Lippe blutig, so dass es ihr schon am Kinn hinunterlief, aber sie nicht zu stören schien. Und Armir. Der schritt unermüdlich zwischen den beiden hin und her.  

“Amira”, begrüßte Suresh sie mit müder Stimme. “Alles okay bei euch?” entgegnete sie mit hochgezogener Augenbraue. “Das was du in deiner Nachricht beschrieben hast, so geht es uns genauso. Naja zum Teil. Wir haben eher das Gefühl, als gehe eine riesige Gefahr vom Rudelhaus und der Stadt aus”, sprach Titia für Suresh, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte. “Aber warum?” fragte Amira und begann selbst, nervös mit ihren Locken zu spielen. Titia zuckte bloß mit den Schultern. Ihre Zähen trafen erneut auf ihre wunden Lippen, allerdings verzog sie keine Miene. Sie würden sowieso heilen, wenn sie es wollte. Und spüren tat sie den Schmerz schon längst nicht mehr.

“Ich bin dafür”, meldete sich Armir zu Worte und blieb vor den dreien stehen. “Das wir einfach nachgucken. Jetzt sofort. Schließlich kann sich sowieso niemand von uns konzentrieren.” Fragend sah er in die Runde und hoffte auf Zuspruch. “Du willst, dass wir schwänzen?” fragte Amira lauter, als sie es wollte. Ihre Stimme quietschte leicht und mit großen Augen blickte sie ihn an.

“Ja”, antwortete er nur und zuckte mit den Schultern. Betroffen starrten Suresh und Titia ihre Schuhe an, während ihr Blut auf den Boden tropfte. Ihre Zähne schienen nun sich in ihre Wange zu bohren und hinterließen damit ein klaffendes Loch an ihrer Unterlippe. Langsam regenerierte sich das Fleisch, das Blut versiegte. Amira richtete mit aller Mühe ihren Blick auf Armir, obwohl ihr speiübel von dem rohen Fleisch war. Seit den Verletzungen konnte sie kein Blut mehr sehen, ohne dass sie wieder Bilder der Verwundeten vor ihrem inneren Auge auftauchte. Schnell konzentrierte sie sich auf Armirs Vorschlag. Sie mochte ihn nicht. Ganz und gar nicht.

“Wir können doch nicht einfach schwänzen”, warf Amira ein und sah ihm in die goldenen Augen. Leicht merklich schüttelte er den Kopf, um darauf eine Antwort anzusetzen. “Wie gesagt, niemand von uns kann sich konzentrieren. Das macht kein Sinn. Stattdessen können wir uns von Paul krankschreiben lassen”, entgegnete er. “Paul?” Verwirrt legte sie den Kopf schief.  

“Unser Arzt. Er ist ein anerkannter Arzt und kann uns deswegen offiziell krankschreiben. Sonst würde wohl keiner von uns mehr auf die Schule gehen”, erklärte Suresh und hob den Kopf. “Trotzdem können wir doch nicht schwänzen”, murrte sie, obwohl ihr der Gedanke gefiel. Jedoch war es eine Sünde und diese waren nun einmal verlockend. Man musste ihnen entgegen strotzen und laut ‘Nein’ sagen. Taten die drei es nicht, würde sie es tun.  

“Kannst du dich konzentrieren?” fraget Suresh. Amira schüttelte den Kopf. “Schreibst du heute einen Test?” Erneut verneinte sie. “Warum willst du dann hier bleiben, wo du doch geistig sowieso woanders bist. Das ist dämlich”, bemerkte er. Sie öffnete den Mund zu einem Widerspruch, allerdings fielen ihr keine Worte ein. Seufzend schloss sie den Mund und richtete ihren Blick auf den Steinboden. “Du hast ja recht”, brummte sie.  

Armir atmete erleichtert neben ihr aus. “Dann ist das beschlossene Sache. Wollt ihr euch noch abmelden?” Alle schüttelten den Kopf. “Dann los.” Armirs Freude beunruhigte Suresh. Er sollte sich nicht übers Schwänzen freuen, sonst würde er irgendwann nicht mehr zur Schule gehen. So war es auch mit seinem älteren Bruder gewesen. Sie alle verließen sich zu sehr auf die Familie.  

Gedankenverloren und schweigend lief die vier nebeneinander her, ohne auch nur zur Schule zurück zu blicken oder sich gegen den Entschluss zu wehren. Amira gefiel der Gedanke überhaupt nicht, doch wie jeder andere, fühlte auch sie sich zu dem Anwesen hingezogen. Ihnen blieb also keine andere Wahl. Und das, was sie vorfinden würde, bereitete ihr Angst. Sie spürte es unter ihrem Herzen, im Magen. Tief in ihrem Inneren.  

Amiras Atem war der einzige, welcher laut rasselnden in der feuchten Luft hing, während Titia zu summen begonnen hatte. Ihre Schritte waren mit jedem weiteren Meter, in Richtung des Rudelhauses, leichter, aber auch schnell geworden. Freudig wippten ihre Haare beim Laufen. Ein seichtes Lächeln umspielte ihre verheilten Lippen und ließen ihre Augen leuchten. Sie war besorgt, sehr sogar, allerdings leugnete sie diese mit ihrer aufgesetzten Freude. Sie hatte die Kontrolle ihres Körpers zum Teil verloren.  

Jedoch hatte sie sie wiedergefunden und nun ging es ihr besser als nie. Titia genoss die Stille des Waldes, der frische Geruch der Freiheit und dem Knirschen der Äste unter ihren Füßen. Sie war frei.  

Den restlichen zwei Werwölfen ging es genauso. Amira war die Einzige, welcher schlechter und schlechter wurde. Sie hatte das Gefühl, ihr würde schwarz vor Augen werden, oder sie würde jeden Moment in sich zusammenfallen. Als würde sie die Beherrschung über ihren Körper verlieren und doch weiterlaufen können. Jedoch trieb die Entschlossenheit sie voran. Schritt für Schritt, bis sie das Anwesen sah. Mehrere Autos parkten vor dem hölzernen Gebäude und Menschen tummelten sich davor. Sie zählte 20.

Suresh hob neugierig seinen Kopf und beschleunigte seinen Gang. Die meisten kannte er höchstpersönlich. Mit so manchen von ihnen hatte er trainiert oder gespielt, als er noch jünger gewesen war. Viele Kameraden seines verstorbenen Bruders waren bei ihnen, aber auch so manches unbekanntes Gesicht.  

Grinsend begrüßte er ein Mädchen mit eisblauen Augen und langen, braunen Haar, welches zu einen hohen Zopf nach hinten gebunden war. Sie erwiderte sein Lächeln. “Hast du nicht noch Schule?” fragte sie sarkastisch und umarmte ihn. “Konnte mich nicht konzentrieren. Und du? Was machst du hier? Und auch die anderen?” Er löste sich und sah sich umschweifend um. Nicht wenige waren erschienen. Ob sie das gleiche Gefühl hierher gedrängt hatte?

“Irgendetwas geht hier vor”, brummte sie und folgte seinem Blick. “Wie meinst du?” Er hatte sie nicht so nachdenklich und ernst in Erinnerung. Eher ähnelte sie Titia und Armir von ihrem Charakter. Nicht verwunderlich, da sie ihre ältere Halbschwester war.  

“Es hat dich doch auch so weit weg wie möglich gerufen, oder?” Mit vielsagendem Blick richtete sie wieder ihre Augen auf ihm. Augenblicklich fühlte er sich schutzlos und nackt. Ihre Augen durchstachen alles und jeden. Als sahen sie in seine Seele. Sie war wahrhaftig die Tochter seiner Mutter.

Langsam nickte Suresh und versuchte ihren Blick Stand zu halten. Unangenehm begann seine Haut zu kribbeln, allerdings legte er all seinen Strotz auf sich. Er würde nach seinem Vater folgen, weshalb er sich nicht von einem Mädchen einschüchtern lassen durfte. Erst recht nicht von der Teamkameradin seines toten Bruders.  

“Ich sollte vielleicht mal mit Vater reden”, sagte er und wandte sich damit von ihr ab. Selbst als er durch die Tür lief, spürte er ihren Blick, den noch nicht einmal die drei abschirmen konnten.  

Das Anwesen war genauso überfüllt, wie der Vorgarten. Suresh bereitete sich erst gar nicht die Mühe, seine Schuhe auszuziehen, sondern lief gleich weiter in den Gemeinschaftsraum. Dicht gedrängt standen die engsten Vertrauten Arons Seite an Seite. Jeder hatte seinen Blick zur Theke, auf den alten Mann, gerichtet.  

“Was ist hier los?” fragte Suresh an den nächstbesten. Ein Mann, etwa 30, drehte sich zu ihm um. “Irgendetwas mit einer drohenden Gefahr”, brummte dieser. Suresh nickte dankend und drehte sich zu den dreien um, welche ihm die ganze Zeit gefolgt waren. “Aurelius weiß irgendetwas über einen anstehenden Angriff. Vermutlich hat er mit seiner Magie das Zeichen gesetzt”, erklärte er. Mit großen Augen blickte Amira als einzige zu ihm auf. Titia nickte nur knapp, während Armir enttäuscht die Schultern sinken ließ.  

“Das geht?” Begeistert lugte sie an Suresh vorbei, zu dem alten Mann. Jeden Tag lernte sie etwas Neues, ihr absolut unbekanntes über die Magie. Er hob seinen Blick, sah sie an und seine Miene verfinsterte sich. Amira schreckte regelrecht ängstlich zurück. Was hatte sie nun wieder falsch gemacht? Gedanken überrannten sie, nahmen ihr die Luft zum Atmen.  

“Lass uns rausgehen”, brach Amira mit zitternder Stimme hervor. Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie an den drei vorbei und eilte zur Terrassentür hinaus. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper kochte. Sie hatte erneut jemanden enttäuscht. Nichts konnte sie richtig machen. Wieder hatte sie jeden enttäuscht. Mit ihrem Zögern, mit ihrer Anwesenheit und mit ihren Ängsten.  

Ihre Füße führten sie automatisch und ohne ihren Befehl, zu dem dunklen See. Die Wolken waren aufgebrochen, um sich darauf verheißungsvoll aufzutürmen und ein bedrohliches Loch am Himmel zu bilden. Der Wind zerrte an ihren Haaren, peitschte ihr ins Gesicht. Verbittert biss sie die Zähne zusammen und verkniff die Augen zu Schlitzen.  

Als sie das Ufer erreichte, glitt ihre Hand in da eiskalte Wasser. Langsam beruhigte sich ihr schnell schlagendes Herz, ihre Gedanken verstarben und die Tränen versiegte, die sie noch nicht einmal bemerkt hatte. Erleichtert sackte Amira zusammen. Ihr Blick lag auf den Wellen, die mit voller Kraft ihr entgegen schwappten und ihren Kopf kurzzeitig umhüllten. Die Kälte beruhigte sie. Ohne es zu wollen, bildete sich eine Luftblase um ihren Mund, die sie atmen ließ. Amira wusste, dass sie selbst es gewesen war. Sie spürte niemand anderes in ihrem Umfeld. Stattdessen spielte ihre Magie verrückt. Seicht schwappte sie gegen ihren Körper, als wäre dieser eine Mauer und brach dann heraus. Beschützte sie und beobachtete. Sie spürte kein Leben im Umfeld von 100 Metern. Selbst die Feen, die sie einst so schwach wahrgenommen hatte, waren verschwunden. Die Fische lagen tot am Grund.  

Etwas würde kommen. Etwas bedrohliches.  

Amira war sich sicher, dass es kein Gott war. Sie spürte es in ihrem Inneren.  

Das Wasser peitschte ihr entgegen, umwob sie kurzzeitig vollständig, um dann bis zu den Bäumen zu fallen. Sie musste nicht den Kopf heben, um zu erkennen, was sie angrinsen würde. Es war ihr klar. Ihre Alpträume waren Realität geworden.

Trotzdem setzte Amira sich langsam auf, ihr Blick ging gen Himmel. Bedrohlich lag das schwarz-rote Wesen vor ihr. Es war 20 Meter hoch, besaß 2 kräftige Beine und 12 Arme, die aus dem Brustkorb und den Rücken sprießten. Eine weiße Maske lag dort, wo einst das Gesicht war und versteckte die obere Hältfe, bis kurz vor dem Mund. Dampf kam aus seinem zu einem Grinsen verzogenen Mund, der so breit wie sie selbst war. Spitze Zähne und eine lange, Schlangenzunge kamen zum Vorschein. Der Dämon schwebte nur knapp über den See, oder dem, was noch übriggeblieben war. Als würde ihn die Magie oben halten. Ein riesiger Riss, vollständig schwarz gefärbt, lag über ihn.  

Regungslos konnte sie das Wesen vor ihr nur anstarren. Ein wahrhaftiger Dämon, so wie sich ihn immer vorgestellt hatte. So wie die, die sie in ihren Träumen verfolgten. Der Dämon hatte seine volle Aufmerksamkeit nur auf sie gerichtet. Seine Augen waren hinter der Maske kaum zu erkennen, doch die schwarzen Pupillen sahen gierig auf sie hinab. Als begehre er ihr Fleisch, ihr Blut, aber vor allem ihre Macht und ihre Seele.  

Der üppige Körper setzte sich in Bewegung. Statt auf Amira zu zuschweben, lief der Dämon. Große Schritte, die 3 Meter lang waren und sie in kürzester Zeit erreichen würde. Doch sie konnte nichts tun. Sie konnte einzig und allein den Dämon anstarren. Selbst ihr Kopf verwehrte ihr jeden einzelnen Gedanken.  

“Amira!” Suresh Stimme hallte laut durch den Wald und über den See. Jedoch vergeblich. Er konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Mit tränenden Augen stürmte er weiter vor, während seine Lunge sich weigerte. Der schwere Schwefelgeruch trieb in Tränen in die Augen, raubte ihm die Sicht und nahm ihm den Atem. Aber er konnte sie nicht sterben lassen. Entschlossen kämpfte er sich weiter vor, bis er sich in einen riesigen, silbernen Wolf verwandelte und los preschte. Obwohl der Schwefelgeruch nun noch tückiger war, lief er weiter, auf das abscheuliche Wesen zu.         

Nicht weit entfernt von ihm stürmten weitere Wölfe los, um den Dämon zu töten.  

Suresh konnte das Mädchen nicht vor dem Dämon erreichen. Zu langsam und zu klein war er. Stattdessen musste er zuschauen, wie einer der großen Hände nach ihr griffen.  

Amira reckte sich noch immer keineswegs, genauso wenig besaß sie Angst. Sie war gelähmt. Nicht von dem Wesen, oder der Überraschung. Nein, ihr Inneres raubte ihr den Verstand. Tausende Gefühle übermannten sie und gleichzeitig spürte sie nichts. Ausdruckslos starrte sie in die schwarzen Augen des Dämons, die nach Macht und Tod lechzten.  

Bevor jedoch die langen Finger sich um das Mädchen schließe konnten, wurde dieser von krachend von einem Blitz getroffen. Schwankend ging er rückwärts zu Boden und sah erst verwirrt zu Amira, welche mehrere Meter von der kraft zurückgeworfen worden war, und dann zu dessen Ursprung. Mit funkeln stürmischen Augen und grimmigen Lächeln kam der alte Mann zum Stillstand. Seine Hand war noch immer erhoben, sein Mund weit aufgerissen. Die Worte lagen verhängnisvoll in der Luft.  

Der Dämon stand schwankend auf. Sein ursprüngliches Ziel vergessen. Stattdessen begehrte er das Leben des alten Mannes, wollte ihm das zähe Fleisch von den Knochen reißen und den schwachen Körper mit seinen Zähnen zertrümmern. Mordlust umgab ihn. Mit all seinen Händen, die so lang wie er selbst waren, griff er in den Spalt und zog Waffen hervor. Morgensterne und Schwerter. Äxte und Hämmer. Speere und Schilde. Die Waffen waren abgenutzt, der Stahl glänzte stumpf. Doch Blut klebte wie ein Mahnmal an ihnen und hieß bedrohlich den Tod willkommen.  

Jeder einzelne musste schluckten. Der Schwefel vermischte sich mit dem schweren Geruch des Eisens und nahm ihnen die Luft zum Atmen. Nur die mutigsten von ihnen, die kampferprobtesten Werwölfe, stürmten los. Laut Krachend trafen die Waffen auf die Erde auf. Rissen einen Wolf nach dem anderen zu Boden und stahlen dessen Leben.  

Suresh konnte das nicht weiter ansehen. Er musste sie retten und dann auf die anderen warten. Endlich konnte er es verstehen, war regelrecht dankbar. Dafür, dass sein Vater ihn niemals in solch eine Schlacht, nein, Massaker geschickt hatte. Sie starben wie die Fliegen. Einer nach den anderen. Jeden Schlag spürte er unter den Pfoten und in dem Fell. Jeder weitere Schlag ließ neues Blut fließen.  

Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte Angst. Todesangst. Immer schneller und schneller versuchte er zu rennen, dem Wesen zu entkommen und Amira zu retten. Mit jedem weiteren Schlag bereute er es mehr, dass er es zugelassen hatte, dass sie in diese Welt eintauchte. Sie würde hier nur den Tod finden. Genauso wie er. Sie war die Unschuld, die Reinheit in vollkommener Form. Und doch hatte er sie mit Blut beschmutzt. Hatte zugelassen, dass sie ihre Unschuld am Blut seiner sterbenden Kameraden verlor. Hätte er nur seinen Vater aufgehalten. Hätte er sie nur aufgehalten.

Schmerzvoll wurde er in die Luft gerissen. Die Luft wurde aus ihm herausgepresst, sein Herz machte einen Satz. Er spürte, wie sich die Haut von seinen Schultern gelöst hatte und er mit den nackten Knochen aufkam. Stöhnend versuchte er aufzukommen. Sauerstoff pumpte sich in seine Lungen, Adrenalin durchfloss seinen Körper. Er musste weiter, sonst würde er heute den Tod finden.  

Entschlossen sprang Suresh auf die Beine und rannte weiter. Seine Augen waren nur auf Amira gerichtet, die noch immer regungslos am Boden lag. Ihre Augen waren geöffnet, jedoch war sie nicht bewusstlos. Sie schien wach und bei Verstand zu sein – und gleichzeitig auch nicht. Er wusste nicht recht, was ihr fehlte. Hatte sie sich den Rücken gebrochen und konnte sich deswegen nicht mehr bewegen?

Ein weiterer Schlag riss ihm vom Boden. Erneut stürzte er zu Boden, jedoch blieb er dieses Mal liegen. All seine Energie, all seine Kraft und Entschlossenheit. All das und noch vieles mehr hatten seinen Körper verlassen. Er war schwach, verletzt und war er zu sich ehrlich, lag er im Sterben. Er spürte den Schmerz seines regenerierenden Körpers. Wie sich seine herausgerissene Rückensäule zurück wuchs, sich ein neues Schulterblatt bildete und die Lungen sich vollständig neu bildeten. Suresh hatte gewusst, vielleicht auch gehofft, dass er nun sterben würde. Doch sein Körper heilte zu schnell. Als er die Augen öffnete, sah er in die braunen, dunkleren Augen Amiras. Sie strotzten so voller Kraft.  

“Bleib liegen”, flüsterte sie und tat dann das, was er niemals erwartet hätte. Mit festen Beinen stand sie auf, warf ihr Haar zurück und blickte den Dämon an. Tränen liefen ihr über die roten Wangen. Tropfen auf den sandigen Boden und ließ dort, wo sie auftrafen, Blumen wachsen. Er konnte nicht anders, als sie wie ein Engel zu betrachten. Das war sie für ihn. Die reine Unschuld, die absolute Menschlichkeit und die vollkommene Liebe.  

Entschlossen ging Amira auf den Dämon zu, bis zu dem Uferrand. Das Wasser schwappte gegen ihre Füße und gefror augenblicklich. Langsam setzte sie einen Schritt nach den anderen. Immer weiter, auf dieses Monster zu.  

“Verschwinde!” “Bleib zurück!” Verzweifelte Stimmen drangen an ihr Ohr, allerdings ignorierte Amira sie. Blanke Wut umflog sie, steuerte sie. Mit jedem weiteren Schritt verlor sie ihre Fassung.  

Fast schon überrascht drehte sich der Dämon zu ihr um. Sein Grinsen wurde breiter, seine Augen nur noch gieriger. Eine Waffe nach der anderen sauste auf sie hinunter. Jedoch kreischte das Mädchen mit heller, ohrenbetäubender Stimme auf. Ein unerträglicher Ton, der jeden fesselte und zum Stillstand zwang. Doch vor allem ließ er die Waffen zerbersten. In einen Regen aus silbernen und braunen Splittern fielen die Überreste ins Wasser, um kurz darauf zu gefrieren. Der komplette See wurde von eine gewellten, gleichmäßigen Eisschichte bedeckt.  

Vollkommene Stille brach ein. Ein Jubelruf ertönte und der erste Werwolf stürmte los. Viele folgten ihm. Voller letzter Kraft rannten sie auf den Dämon zu, sprangen in die Luft und rissen ihn herunter. Es glich dem Massaker zuvor, bloß dass das Machtverhältnis getauscht worden war. Der Dämon ging schreiend, in fast den gleichen Tönen unter, wie sie Amira kurz zuvor von sich gegeben hatte. Ihre Augen brannten noch immer. Die Hände waren zu Fäusten geballt. Sie bekam kaum noch Luft, der Geruch von Eisen und Schwefel war unerträglich geworden. Erst jetzt konnte sie ihn überhaupt wahrnehmen, so dass er sie überrumpelte. Ihre Beine gaben fast unter ihrem Gewicht nach. Aber noch durfte sie nicht aufgeben. Noch hatte sie etwas zu tun.  

Als sie neben dem Dämon zum Stehen kam, war dieser schon längst tot. Seine Augen starrten offen gen Himmel, die Haut hing ihm fetzenweise hinunter und seine 13 Herzen schlugen nicht mehr. Ohne dass jemand etwas bemerkte, schuf sie aus dem Eis immerkalte Phiolen, die niemals schmelzen würde und ließ das schwarze Blut hineinlaufen. Amira wusste nicht ganz recht, warum sie das tat. Könnte es ihr vielleicht helfen, ihn wiederzubeleben. Selten hatte sie auf ihr Bauchgefühl gehört, doch im Stich hatte es sie heute nicht gelassen und so tat sie das, was ihr ihr Bauch zu riet. Heimlich ließ sie die Glasfläschchen in ihrer Kleidung verschwinden.  

“Das war einfach....fabelhaft.” Die dunkle Stimme Arons riss Amira aus ihren Gedanken und ließ sie aufzucken. Ihr Blick glitt von dem toten Dämon auf. Mit großen Schritten ging er auf sie zu. Er hatte sich zurück in einen Menschen verwandelt und nur noch einzelne Stofffetzen erinnerte an seine vorige Form. Sie bereute es leicht, diese nicht gesehen zu haben. Jedoch ließ Amira seine menschliche Form rot anlaufen. Die Stoffreste bedeckten nichts von seinen Intimzonen und schnell senkte sie aus Nervosität den Kopf. Schnell lenkte Amira mit ihren Gedanken zurück in das hier und jetzt.

“Danke”, murmelte sie und eilte schnell davon, zu dem jungen Werwolf. Er benötigte nun ihre Hilfe. Sein silbernes Fell war von dem roten Blut befleckt und verfilzt. Es glänzte nicht mehr in den warmen Sonnenstrahlen, sondern stand struppig ab. Die Wolken hatten sich mit dem Tod des Dämons zusammengezogen und leise fielen die ersten, schweren Tropfen. Die Oxide wurden hinunter gedrückt und drohte, alle Anwesenden zu ersticken. Wäre dort nicht Aurelius, welcher mit aller Macht diese auslöschte.  

Suresh lag zusammengekauert an der gleichen Stelle. Sein Atem ging seicht, sein Herz klopfte schwach. Amira ließ sich mit zitternden Knien neben ihm nieder. Erneut liefen ihr die Tränen über die Wangen und laut zog sie den Schnodder ein. All ihre Entschlossenheit, Kraft und Energie waren verschwunden. Sie fühlte sich elendig. Aber sie musste ihn auch noch retten, sonst wäre alles umsonst gewesen.  

Langsam strich sie durch das graue Fell, welches noch übriggeblieben war. Der größte Teil seiner Knochen hatte sich wiederhergestellt und Muskeln und Fleisch formten sich neu über die Wirbel des Rückens. Langsam ließ sie ihre Magie zu ihm hinüber gleiten, um ihn damit zu helfen. Fleischstränge verbanden sich, zogen sich zusammen und bildeten komplette Flächen. Binnen Sekunden war seine Haut vollständig wiederhergestellt und darauf folgte sein Fell. Wie Gras sprossen die Haarbüschel hervor, wiegten seicht im Wind.  

Erschöpft öffnete Suresh die Augen. Bin ich tot? Verwirrt blinzelte er gegen die Sonne und hob den Kopf. Anscheinend nicht.

Er spürte das schwere Gewicht und den schwachen Herzschlag eines Menschens auf seinen Brustkorb. Sein Blick fiel auf Amira. Erschöpft lag sie mit beiden Armen auf seiner Seite, hatte das Gesicht in sein blutrotes Fell vergraben und schien zu schlafen. Ihr Augen waren geschlossen, die Gesichtsmuskeln entspannt. Als wäre er die Sicherheit selbst.  

Zufrieden ließ Suresh wieder den Kopf sinken und schloss die Augen. Sie lebte. Sein Adrenalin war geschwunden und stattdessen breitete sich die Erschöpfung der Sorgen um das so zarte Mädchen und der Zufriedenheit, dass es ihr gut ging, aus. Sein Atem wurde ruhiger, sein Herzschlag langsamer. Er lag nicht mehr im Sterben, wie zuvor. Nein, er war einfach nur noch müde und wollte in einen traumlosen Schlaf abtauchen.

"Suresh?" Die besorgte Stimme seines Vaters drang an sein Ohr. Missbilligend zuckte er mit diesen, ebenso sein Schwanz. Er hatte sich diese Ruhe verdient. Und doch wollte sein Vater sie ihm wieder nehmen.

"Ja", knurrte er und öffnete die goldenen Augen. Es kostete Suresh seine letzte Kraft, den schweren Kopf zu heben. Sein Vater stand genau vor der Sonne. Kalte Schatten, die ihn von der kraftspendende Quelle trennten, warfen sein großer Körper. Es war kein Gigant, aber besaß eine beeindruckende Größe von 2 Metern.  

"Du lebst. Gut", entgegnete sein Vater nur distanziert. "Froh?" fragte er voller Sarkasmus. Voller Wut drehte er sich auf den Bauch, so dass Amira nicht geweckt wurde, er aber mit all seiner Wut Aron in das emotionslose Gesicht blicken konnte. "Natürlich", antwortete dieser nur, doch ohne einen Funken Menschlichkeit. Angewidert rümpfen Suresh die Nase. "Dann kannst du ja jetzt gehen." Erwartungsvoll sah er seinen Vater an. Er konnte ihn kaum noch ertragen. Nicht nur war er zu einen, seine Klassenkameraden würden es als ein Arschloch bezeichnen, geworden, sondern hatte auch die Leben der Menschen, die er am meisten schätzte, gefährden müssen. Es war nicht Amiras Kampf gewesen, sondern der des Werwolfclans Custos. Trotzdem hatte sie sich ihn gestellt, hatte den Sieg für sie bestimmt und damit ihr Leben für das der anderen riskiert.  

Missmutig drehte Suresh sich zu ihr. Die braunen Locken fielen ihr über die zarten Wangen, blasser Schweiß hing an ihrer Stirn und die kleinen Finger hatte sich in sein Fell vergraben. Obwohl sie erschöpft aussah, wirkte sie auch glücklich. Als schenkte er ihr mit seiner Anwesenheit die Sicherheit, die ihr Nächtelang gefehlt hatte zum Schlafen. Suresh beugte sich weiter zu ihr vor und leckte vorsichtig ihre Wange ab. Die letzten Überreste der vergossenen Tränen verschwanden.

Er spürte den abwesenden Blick seines Vaters auf sich. Selbstsicher hob Suresh den Kopf und betrachtete ihn aus müden Augen. "Ist noch etwas, Vater?" "Nein." Still sahen sie sich einander an, bevor Aron mit großen Schritten davonzog. Erleichtert atmete der junge Werwolf auf und verkroch seine Nase in den Haaren Amiras. Der frische Duft von Apfel umwob ihn.

Kapitel 8

 

Als Amira den Kopf hob, fühlte sich ihr Nacken steif an. Mit jeder Bewegung knackte und knirschte er, als wäre sie in der falschen Haltung eingeschlafen. Müde richtete sie sich auf. Mit einem herzhaften Gähnen streckte sie ihre Arme von sich und genoss die kühle Brise, die sie umgab. Der Himmel färbte sich dunkelblau, kein Stern war zu sehen und schwach kämpften sich die seichten Strahlen des Mondes durch die dicke Wolkendecke. Leise rauschten die Blätter der umliegenden Bäume. Die kühle, frische Luft des Waldes umgaben sie.

Verwirrt zuckte das Mädchen zusammen und sah sich panisch um. Wie war sie hierher gelangt? Ihre Augen suchten die Schwärze ab, jedoch vergeblich. Sie konnte sich an nichts erinnern.

"Auch endlich wach?" Erschrocken zuckte Amira erneut zusammen und drehte sich zu der Geräuschquelle. Sie erkannte augenblicklich Stimme Suresh. "Was ist passiert?" fragte sie verwirrt und ließ abermals ihren Nacken knacken. "Du bist vor lauter Erschöpfung eingeschlafen. Man hielt es für das Beste, dich schlafen zu lassen", erklärte er. Das es sein Vorschlag gewesen war, verschwieg er.

Vor Amiras Gesicht tauchten die goldenen Augen auf, verschwommen zeichneten sich die Umrisse des Wolfkopfes ab. Amira konnte sich noch immer nicht erinnern, was geschehen war. Verwirrt strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und stand auf. Ihre Beine zitterten unter dem Gewicht, benebelt schwankte sie, als wäre sie auf hoher See im Orkan.  

Suresh stand besorgt auf. Er spürte die Unsicherheit und Kraftlosigkeit, die sie umgab. Es glich einem Wunder, das sie jetzt schon stand. Doch das Mädchen war tapfer. Vorsichtig drängte er seine Flanke an ihren Arm und bot ihr halt. Ihre inzwischen kalten Finger krallten sich in das silberne Fleisch und rissen an den frisch verheilten Wunden. Leise stöhnte er vor Schmerz auf. Bis das letzte Stechen verklungen war, könnten Monate vergehen. Vielleicht war er nicht mehr gefährlich verletzt und es war auch keine offensichtliche Wunde erkennbar, allerdings war das Fleisch strapaziert, die Haut entzündet. Es würden schlaflose Nächte folgen, das war ihm klar.   

Zusammen schritten sie die Böschung hinauf, am Ufer vorbei, durch das kleine Stück Wald. Die Lichter des Gemeinschaftsraums brannten wie eh und je. Seine Muskeln verspannten sich, als er die Umrisse verschiedenster Menschen erkannte. Unter ihnen sein Vater, Aron.  

Die Glastür war geschlossen, kein Ton konnte nach draußen gelangen. Mit zittrigen Händen schob Amira die Tür auf und betrat den Raum. Stille breitete sich aus, Blicke lagen auf ihr und der Atem wurde angehalten. Armir war der erste, welche die Stille brach. Erfreut sprang er auf und umarmte sie stürmisch, gefolgt von Titia, welcher Tränen über die Wangen lief.  

"Dir geht es gut", stellte sie glücklich fest. Die Umarmung der zwei schmerzte Amira und doch genoss sie die Berührungen und den kitzelnden Atem an ihrem Nacken. Selbst Suresh drängte sich gegen sie, als wolle er sie ebenso umarmen.  

"Natürlich. Hast du etwa gedacht, ich gebe jetzt schon den Löffel ab?" entgegnete sie, zu ihrer eigenen Überraschung, belustigt. Titia schüttelte schnell den Kopf. Ihre blonden Haare flogen wild und strichen über Amiras Schultern. Gänsehaut bildete sich an diesen Stellen. Sie lächelte innerlich auf.

"Warum dann so aufgelöst?" fragte sie und vertiefte die Umarmung. Noch nie hatte Amira so sehr eine Geste begehrt, wie gerade jetzt. Sie schenkte ihr die Kraft, überhaupt noch auf den Beinen stehen zu können.  

"Du lagst da wie halbtot und Aurelius und Aron haben uns nicht zu dir gelassen. Selbst eine Decke durften wir euch nicht bringen", murmelte Titia mit trauriger Stimme. Ihre Augen glitten wütend zu den zwei genannten. Aurelius konnte nicht anders, als sie breit anzugrinsen und mit einer fröhlichen Geste das Glas zu zunicken. Erbost zog sie die Luft ein und wandte den Blick von ihm ab. Arons Gesicht war stets zu einer emotionslosen Maske verzogen.

"Mir geht es ja gut", beruhigte Amira sie. "Ein Glück", brummte Armir und Suresh nickte zustimmend. "Als ob ich so schnell sterben würde", murmelte sie und versank mit rotem Kopf in ihren Haaren. "Da hast du recht. Komm, lass uns setzen. Ihr seht fertig aus." Auffordern löste Titia sich aus der Umarmung und grinste sie heiter an, wobei sogar ihre Augen funkelten und dem Gold der Sonne glichen. Mit der gleichen Intensität und Energie strahlten sie. Zustimmend nickte die restlichen drei, während die älteren Herren und eine Dame ihnen Platz machten.  

Amira ließ sich erschöpft neben Aurelius fallen, welcher sie mit den Lippen am Glasrand, aufmerksam beobachtete. "Alles okay bei dir? Du hast ziemlich viel Magie genutzt." Besorgt glitt sein Blick zu ihren noch immer zitternden Händen, mit denen sie nichts mehr halten konnte. Titia und Armir nahmen neben ihr Platz, während Suresh sich zu ihren Füßen hinlegte und sich an ihren Beinen drängte.  

"Ja, mir geht es, naja, okay trifft es gut. Ich bin fertig, fühle mich komplett ausgelaugt, aber einfach nur glücklich, dass es den meisten gut geht", antwortete das mädchen. Nervös strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie spürte jedes einzelne Augenpaar auf ihr. Jeden einzelnen interessierten Blick und jeder einzelne Kommentar, dass sie auch nur denken könnte. Über sie, das dicke, kleine, aber vor allem schwache Mädchen, das Leben gerettet und den Kampf für sie entschieden hat.

"Dein Fußwärmer sollte vielleicht auch nicht deine Nähe suchen, denn Suresh", vorwurfsvoll sah er auf den Werwolf hinab, "raubt dir all deine Magie." Mit großen Augen sah sie zu ihn hinab und er erwiderte seinen Blick. Laut seufzte Suresh. Er wirkte sichtlich genervt, von den Worten des alten Mannes. Er kämpfte sich schwerlich hoch, um in den Weiten des Hauses zu verschwinden und nicht viel später wieder aufzutauchen, frisch angezogen und in seiner menschlichen Form. In der Zwischenzeit herrschte absolute Stille. Armir und Titia waren sprachlos, wussten nicht so recht, was sie fragen, oder worüber sie reden sollten. Amira hatte den Kopf an die Lehne gelehnt, ihre Augen waren geschlossen, der Atem ging ruhig. Sie hatte sich von dem Kampf noch immer nicht erholt. Der Blick Aurelius lag Aufmerksam auf ihr und prickelte, wie die Stiche einer Mücke. Unangenehm und unerwünscht. An liebsten würde sie sie abschütteln, oder hinausrennen. Einfach nur fort, von allem. Aber selbst dafür war sie zu schwach.  

“Wie spät haben wir es?” fragte Amira mit dem Blick starr hinauf. “Kurz vor 4 Uhr”, antwortete Armir, als niemand auf ihre Frage einzugehen schien. Interessiert richtete sie sich auf und schaute durch das Fenster hinaus. Der Wald lag stockdunkel da, die Umrisse der Bäume waren nicht mehr zu erkennen. Stattdessen spiegelte sich das Bild der Anwesenden im Raum wider.  

“Dafür ist es doch viel zu dunkel”, flüsterte sie erstaunt. “Morgens”, fügte Aron sichtlich genervt hinzu. “Oh.” Still blickte sie hinaus. Ihr Mund öffnete sich, ihre Augen weiteten sich. Immer schnell begann ihr Herz zu pochen und schüttete Adrenalin durch ihren Körper.  

“Bitte was?” Fast schon kreischend drehte sie sich panisch zu Armir. “Wir haben es 4 Uhr morgens”, wiederholte er sichtlich irritiert. “Warum hat mich niemand früher geweckt? Meine Mutter wird mich köpfen! Wie soll ich ihr das erklären?” Panisch sah sie sich im Raum um, doch niemand schien groß darauf eine Antwort zu wissen. Der Junge zuckte nur müde mit den Schultern. Erst jetzt fiel Amira die tiefen Augenringe ihrer Mitmenschen auf.  

“Ich muss los”, stotterte sie noch immer panisch. Zügig sprang Amira auf und rannte los, durch den Flur mit den vielen Paar Schuhen und Jacken und durch die dunkle Holztür hinaus, in das schwarze Meer aus Bäumen. Sie musste nichts erkennen, um zu sehen, wohin sie lief. Ihre Füße führten sie automatisch zum Waldrand, die Straßen hinauf, bis zu ihrem Haus.  

Die Stadt lag still da, die Eulen hatten aufgehört zu singen und die Hunde und Katzen zu jammern und zu heulen. Kalt wehte ihr der Wind entgegen und fraß sich durch ihre Jacke. Zitternd beschleunigte sie ihren Gang, um kurz darauf zu rennen.  

Die Nacht bereitete ihr Angst. Amira war das erste Mal seit langem schutzlos, hilflos. Ihre Magie war verbraucht, ihr Geist müde und ihr Körper träge. Ein weiterer Kampf würde ihr Ende bedeuten.  

Laut rasselte ihr Atem, panisch huschten ihre Augen durch die dunkle Welt. Nur Straßenlaternen und der Mond erhellten ihre Umgebung. Schatten lagen wie Menschen da. Das Leuchten von Augen in jedem dieser Umrisse. Vampire und Dämonen. Überall lauerten sie auf sie. Überall - angriffsbereit.  

Amiras Herz schlug hart gegen ihre Brust, ihre Lunge konnte mit dem ganzen Sauerstoff nichts mehr anfangen. Ihre Füße flogen über den kalten Asphalt, während sie ihre Jacke zu hielt. Die Tasche hatte sie vergessen, jedoch konnten die drei sie ihr auch am Morgen mitbringen. Falls sie zur Schule gehen würde.  

Keuchend erreichte Amira das Backsteingebäude. Stille und Dunkelheit umhüllten es. Schnell kramte sie einen Ersatzschlüssel unter einen Blumentopf hervor, um mit zitternden Händen die Haustür zu öffnen. Schweiß lief ihr über die Stirn, an den Armen entlang, bis zu ihren Fingerspitzen. Der Schlüssel traf zu laut auf das Schloss ein, die Tür quietschte zu schrill und ihre Schritte knarzten zu auffallend auf der Treppe für sie.  

Die Schatten der Unsichtbaren verließen sie auch nicht in ihrem eigenen Zimmer. Fast schon panisch stolperte sie in ihr Zimmer, um dort das Licht anzuschalten. Ihr Herz blieb stehen, um darauf weiter zu schlagen.  

Amira wollte vor Freude schreien. Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Eltern wütend in ihrem Zimmer stehen würden. Der Blick missbilligend auf ihr, die Lippen geschürzt und die Arme vor der Brust verschreckt. Doch stattdessen war sie allein. Niemand hatte auf sie gewartet, niemand würde sie jetzt anschwärzen.  

Erleichtert ließ sie sich auf das Bett fallen. All die Müdigkeit und Sorgen erreichten sie wieder. Erschöpft streifte sie die Klamotten von ihrem verwundeten Körper. Derweil fielen ihr die Schürfwunden und blauen Flecke auf, wie sie schmerzend an ihrem Körper lang zogen und mahnend an ihr hafteten. Missmutig stand Amira auf, ums ich in den Wandspiegel zu betrachten. Ihr rundes Gesicht blickte ihr müde entgegen, ein blaues Veilchen zog sich über ihr linkes Auge. An der Wange hefteten mehrere blaue Flecke und Schürfwunden. Nichts von langer Dauer, stellte sie fest. Es würde ein leichtes für sie werden, diese am nächsten Tag verschwinden zu lassen. Wenn sie wieder genug Energie besaß.

An ihrer rechten Seite lag ein riesiger blauer Fleck, welcher eher lila und grün war, als blau. Mit schmerzverzogenem Gesicht tastete sie die Wunde ab. Nichts gebrochen, allerdings verstaucht und angebrochen. Ihre Augen bleiben an den unschönen Seiten ihres Körpers hängen. Die Brüste hingen unschön, genauso wie das Bauchfett. Röte stieg Amira in das Gesicht und schnell verdeckte sie die Brüste mit ihren Händen.  

Schnell senkte sie den Kopf und betrachtete die Beine. Einzelne Schürfwunden, ein blauer Fleck und ein verstauchter Fußknöchel. Erleichtert atmete Amira auf. Sie hatte Glück im Unglück gehabt.  

Erschöpft kroch sie erneut in ihr Bett, um müde die Augen zu schließen und in einen Albtraum zu gleiten.  

Amira hatte fest damit gerechnet, erst mit ihrem Weckerklingeln aufzuwachen, doch stattdessen schreckte sie aus einem Albtraum hervor. Ihr Mund war noch zu einem Kreischen geöffnet, der Schweiß rann ihr über die Stirn. Ausgelaugt setzte sie sich auf, schaltete das Licht an und versuchte, ihr schnell klopfendes Herz zu beruhigen. Es war nur ein Traum. Nicht mehr.  

Jedoch konnte sie das selber kaum glauben. Es hatte sich so echt angefühlt, so real. Der Dämon glich dem von dem heutigen Angriff. Er trug ebenfalls eine Maske, die jedoch sein ganzes Gesicht bedeckte. Sie hatte eine menschliche Gestalt, mit emotionslosen Lippen, die zu einen Strich verzogen waren, die Nase steif und symmetrisch und kalte Augen, ohne Leben in diesen. Die komplette Gesichtsbedeckung war grau gewesen und statt schlitzen an den Augen, waren Augen eingearbeitet gewesen. Und obwohl es so künstlich, so falsch und so unecht aussah, wirkte sie trotz alle dem menschlich und gleichzeitig Monströs. Der Körper besaß keine zehn Arme, sondern nur zwei und genauso war er nicht riesig, sondern normal. Allerdings besaß er einen Skorpionschwanz, der unruhig hin und her zuckte.  

Bedrohlich war das Wesen auf sie zugegangen. Schwefel und Hitze strahlten von ihm ab, die Haltung war tierisch, die Ausstrahlung mörderisch. Mit knochigen Fingern, lange Krallen als Fingernägel an diesen, griffen nach ihrem Handgelenk.

“Du hast uns etwas gestohlen!” Sie hatte sich nicht bewegen können. Nicht schreien, weinen oder wehren können. Sie war schutzlos diesem Wesen ausgeliefert gewesen. Und immer wieder hatte es die gleichen Worte gesäuselt. Mit den Krallen strich es ihr die Locken beiseite, hauchte am Ende die Worte und dann kroch er in sie hinein. Jedoch wachte sie schreiend auf, bevor der Dämon vollständig in sie hineinkriechen konnte.  

Mit noch immer klopfendem Herzen ging Amira zu ihren Klamotten, welche achtlos auf den Boden lagen. Sie zog die kalten Phiolen heraus mit dem schwarzen Blut. Selbst das Mondlicht wurde von der Flüssigkeit verschluckte und raubte jeden Lichtschimmer. Als wäre es der Tod selbst.  

Interessiert musterte sie es. Das Blut könnte ihr Hilfsmittel sein, um ihn zurückzuholen. Um ihren Fehler zu korrigieren, den sie einst begannen hat. Nie hatte sie dafür Konsequenzen gezogen, nur ihre Reue. Allerdings konnte sie dies von jetzt an ändern. Amira war bereit, alles für ihn zu tun. Selbst zu sterben.  

Entschlossen legte sie die Phiolen beiseite, um zu duschen, sich neu einzukleiden und kurz darauf leise die Treppe hinab zu stürmen. Die Jalousien waren nicht heruntergezogen worden, nur der Türgriff hinab gerichtet. Genervt atmete sie aus. Wie leicht es doch war, hier einzubrechen.  

So leise wie es möglich öffnete Amira die Glastür zum Garten hinaus und schloss sie hinter sich. Der Himmel war klar, die Sterne und der volle Mond leuchteten über ihr. Nicht weit entfernt konnte sie die Nachbarskatze sehen. Aus schmalen Schlitzen, mit grünen Augen, die sie nur erkennen konnte, saß sie steif auf dem Zaun. Das getigerte Fell war von dem leichten Wind zerzaust. Amira kam ein schrecklicher Gedanke. Was würde mit der Katze geschehen, wenn sie dieser das Blut einflößen würde?

Obwohl sie noch ausgelaugt war, konzentrierte sie sich und rief die Magie aus ihr heraus. In warmen Wellen umgab sie sie und beruhigte ihren gesamten Körper. Amira fühlte sich nicht mehr schwach oder gebrechlich. Nein, nun könnte sie sich jeden Gegner stellen. Egal ob Vampir oder Dämon.  

Ihr Blick glitt wieder zu der getigerten Katze, welche sich keineswegs bewegt hatte. Stattdessen hatte sie neugierig den Kopf leicht schräg gelegt und musterte das Mädchen aus den grünen Augen. Sie ahnte nichts von ihrem grausigen Schicksal.  

Amira ließ ihrer Magie freien Raum. Augenblicklich breitete sich diese aus und umwob die Katze. Griff mit warmen Krallen nach dem Fell und zog sie zu den Mädchen. Laut jammerte sie, wehrte sich, so gut wie sie konnte. Doch vergeblich. Die Katze war gefangen und blickte einer dunklen Zukunft entgegen. Neugierig ließ Amira die Phiolen neben ihr schweben. Was sie nun auch tat, sie tat es mit der Magie. Keinen einzigen Finger rührte sie an die Katze, oder den Dämonenblut. Der eiserne Verschluss öffnete sich und kleine Tropfen des dickflüssigen Bluts flogen hinaus, auf die Katze hinzu. Angst breitete sich in dem Tier aus. Sie wollte schreien, miauen, so laut sie konnte. Jedoch nahm das Mädchen der Katze die Stimme. Sie lähmte sie und kontrollierte damit den gesamten Körper der Katze.  

Steif und von der Magie gefesselt, wurde ihr die Flüssigkeit in den Rachen hinunter gezwungen. Gebannt beobachtete das Mädchen ohne emotionale Regungen das Geschehen vor ihr.  

Erst weiteten sich die Augen des Tieres, dann wurden sie pechschwarz, um kurz darauf normal zu werden. Amiras Magie zerriss, unter der Macht der Katze. Wutentbrannt sprang sie fauchend auf, um darauf das Weite zu suchen. Fasziniert sah die Braunhaarige dem Wesen hinter her. Sie konnte es nicht fassen, was für eine Wirkung das Blut auf die Katze besaß. Nicht nur waren ihre Magiestärke und Reserven gestiegen, sondern auch die Stärke des Körpers und die Intelligenz.  

Amira benötigte mehrere Minuten, bis sie sich gefasst hatte. Sie konnte es nicht glauben. Das wenige Blut könnte der Schlüssel zur Wiedererweckung sein. Fast schon besessen starrte sie die dunkle Flüssigkeit, welche die Lösung für alles zu schienen sei, an, während ihre Kehle danach lechzte, wie ein Hund nach Fleisch. Ihre Augen weiteten sich und panisch schleuderte eine Druckwelle die Phiolen weg. Sie zerbrachen in tausende Eissplitter, die Flüssigkeit tropfte auf den Boden und vernichtete jeden Grashalm, das es zu greifen bekam. Was hatte sie getan?  

Fassungslos sah Amira der Katze, die schon längst das Weite gesucht hatte, hinterher. Was hatte sie bloß diesen armen Wesen angetan? Wie hatte sie nur gekonnt?

Tränen rannen Amiras Wangen hinab. Ihre Beine gaben unter dem Gewicht nach und fassungslos kam sie auf dem Boden auf. Wie hatte sie nur so etwas schreckliches tun können? Amiras Blick fiel auf ihre Hände. Harmlos, leicht kleine und pummelige Hände, die niemals einem Lebewesen etwas zu schaden tun könnten. Wie konnte sie nur?

Ihr Blick fiel auf die Überreste des Blutes. Ein Gedanke reichte, um es in schwarzen Feuer aufgehen zu lassen. Die Wärme nahm ihr die letzte Kraft. So leise wie sie konnte, schlich sie sich wieder hinauf in ihr Zimmer, um dort weinend zusammen zubrechen. Was hatte sie nur getan? Sie hatte eine arme, unschuldige Katze in ein Monster verwandelt. Dabei war es sogar verboten!

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Tag der Veröffentlichung: 13.09.2018

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