»Seltsam«, denke ich.
Etwas Weiches umgibt mich. Es schmiegt sich sanft an meine Haut und streichelt sie.
Es ist überall, gibt mir Geborgenheit, hält mich warm.
Jede Stelle meines Körpers kann es spüren.
Es ist leicht, als würde es nichts wiegen, und doch weiß ich, dass es da ist.
Es fühlt sich an wie Nebel, wie Wolken, die ihren Tau auf die zarten Härchen meiner Arme legen.
Es kitzelt ein bisschen.
»Ist das der Himmel? Fühlt sich so etwa der Tod an?«, frage ich mich.
Verwirrt stelle ich fest, dass es etwas komisch riecht – fast so, als hätte jemand seine Wäsche gewaschen und sie nicht direkt danach aufgehängt.
Es riecht nach nass, nach Chemie, nach Desinfektionsmitteln.
»Endlich«, höre ich ein leises Flüstern direkt neben mir.
Dumpf und verzerrt dringt es in meine Ohren, und doch kann ich es verstehen.
»Es ist so weit. Er wacht auf«, flüstert die Stimme weiter.
»Wer ist da?«, frage ich nach.
Gleichzeitig öffne ich meine Augen – muss sie aber sofort wieder schließen.
Grelles Licht hatte mich geblendet und zwang mich, einen Moment inne zu halten.
»Ich muss es langsamer versuchen«, denke ich und probiere es gleich noch mal.
Erneut öffne ich sie – erst einen kleinen Spalt und dann ganz.
Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das grelle Licht um mich herum zu gewöhnen, und mir wird klar, das hier ist weder der Himmel, noch bin ich tot.
Ich lebe – doch wo bin ich?
Ich versuche meine Umgebung zu erkennen, versuche meine Augen scharf zu stellen – aber es gelingt mir nicht.
Zuerst sehe ich nur zwei Schatten, die sich hektisch bewegen. Dann blitzt überraschend, nur wenige Zentimeter vor mir, ein heller Lichtpunkt auf.
Er streift erst meine linke Pupille, dann meine Rechte.
Er brennt sich tief in meine Augen.
Der Schmerz ist kaum auszuhalten.
Der Lichtpunkt lässt sogar die, sowieso schon unscharfen, Schatten für den Moment noch mal verblassen.
Dann erlischt er genauso plötzlich, wie er erschienen war.
Erneut höre ich ein Flüstern:
»Das ist ein sehr gutes Zeichen. Seine Augen reagieren gleichmäßig auf Licht.
Zwar kann ich es noch nicht hundertprozentig ausschließen, aber es sieht so aus, als hat er keine Verletzungen am Hirn erlitten.«
Dann höre ich einen Augenblick lang nichts mehr, bis sich eine Türe leise quietschend öffnet.
Kurz zuvor ist einer der Schatten neben mir verschwunden.
»Anscheinend verlässt er gerade den Raum«, überlege ich.
»Rufen sie mich bitte, wenn sich an seinem Zustand etwas ändert«, höre ich wieder dieses leise Flüstern – dieses Mal jedoch aus einiger Entfernung.
Anschließend höre ich, wie die Türe zurück ins Schloss fällt.
Ich hatte recht.
Einer der beiden Schatten ist gegangen.
Der Andere ist noch da. Er sitzt nun vor mir.
Schweigt.
Leicht wippt er hin und her, fast unmerklich, und doch sehe ich, wie sich sein Oberkörper im Licht bewegt.
Ich spüre, wie er meine Hand festhält und sie sanft und behutsam streichelt.
Ich spüre, wie seine Finger die Meinen zart umschmeicheln und ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.
Es ist ein bekanntes und doch fremdes Gefühl.
Die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich langsam auf.
Es kitzelt, und ich bekomme eine Gänsehaut.
Ein Schauer fährt mir den Rücken herunter.
Offenbar genieße ich diesen kurzen flüchtigen Augenblick der Sicherheit.
Kurz, flüchtig - denn mir brennt eine Frage auf der Seele, die mich verunsichert, die bis jetzt noch unbeantwortet geblieben ist.
»Wo bin ich hier?«, frage ich nun den Schatten grade heraus.
Doch seine Antwort bleibt er mir schuldig.
Stattdessen bewegt sich der Schatten jetzt auf mich zu.
Stück für Stück kommt er mir näher.
Ich kann erkennen, wie sich die Silhouette seines Kopfes zu mir herunter beugt, sich langsam auf Meinen zubewegt.
Ich werde unruhig, verspüre Angst.
Doch die ist schnell wieder verflogen.
Eben hatte der Schatten noch meine Hand gestreichelt, und ich glaube einfach nicht, dass er wirklich eine Gefahr darstellt. Dennoch frage ich mich, was er von mir erwartet, warum er mir so nahe kommt.
Nur wenige Zentimeter vor meinen Lippen bleibt er stehen, lauscht, bewegt sich nicht, traut sich nicht einmal zu atmen.
Ich verstehe und versuche es noch einmal.
Es ist anstrengend, trotzdem nehme ich alle meine Kraft zusammen und schreie den Schatten so laut an, wie ich kann:
»Wo bin ich? Sagen sie mir bitte, wo ich bin!«
Doch ich bekomme wieder keine Antwort.
Der Schatten bewegt sich nur zurück in seine alte, aufrechte Position.
Erneut spüre ich seine zarten Hände, wie sie die Meine suchen, sie festhalten, sie ganz sanft berühren und streicheln.
Wieder spüre ich dieses bekannte und doch so fremde Gefühl der Sicherheit.
Wieder gebe ich mich ihm hin, sauge es in mich auf, genieße es, lasse meine Frage einfach unbeantwortet im Raum stehen und horche diesem schönen Gefühl nach.
Dann fällt mir etwas Seltsames auf.
Etwas stört die friedliche Atmosphäre.
Es sticht heraus, passt nicht hinein.
Ich konzentriere mich und lausche den vielen Geräuschen um mich herum.
Zwischen all dem Blubbern, dem Surren und Klicken, höre ich es ganz deutlich.
Da ist es wieder – dieses leise Wimmern.
Es dauert an, klingt in sich gekehrt.
Es klingt, als wolle der Schatten es verbergen, als versuche er, es zu unterdrücken.
Dennoch kann ich es deutlich hören, kann ihn spüren, diesen Schmerz, den es mir mitzuteilen versucht.
Dann lässt es sich nicht mehr unterdrücken.
Langsam verwandelt sich das leise Wimmern in ein lautes, verzweifeltes Weinen.
Es übertönt all die anderen Geräusche.
Ich spüre das Warme, das Feuchte auf meiner Hand.
Tränen – seine Tränen.
Tränen, die sich auf meiner Haut verlieren, auf ihr abkühlen und trocknen.
Ich sehe seine Schultern zucken, höre, wie sich seine Trauer in tiefen Schluchzern entlädt.
»Wer ist diese Person?«, frage ich mich wieder und wieder.
»Und warum weint sie so bitterlich?«
Natürlich mache ich mir keine Hoffnungen, von ihr eine Antwort zu erhalten.
Ich weiß, sie kann mich nicht verstehen.
Im Grunde ist es jetzt aber auch nicht mehr wichtig, wer sie ist. Denn, wie aus dem Nichts, trifft mich plötzlich eine weitere, noch sehr viel bedeutungsvollere Frage – eine Frage, die sich mit stetiger Gewissheit ihren steilen Weg in mein Bewusstsein erkämpft.
Sie fühlt sich an, wie ein fester Schlag in die Magengegend, bohrt sich so tief in meine Gedanken, dass sie alles andere unwichtig erscheinen lässt.
Mit einem Mal ist es mir völlig egal, wer der Schatten vor mir ist, warum er weint, oder wo ich mich jetzt gerade befinde.
Mich interessiert nur noch eins:
Wer bin ich?
Fieberhaft denke ich nach, suche nach einem Namen, suche nach mir, meiner Identität.
Wer bin ich?
In meinem Kopf ist die Antwort, das weiß ich.
Ich will nach ihr greifen, versuche sie zu erreichen und doch bleibt sie mir verborgen.
Krampfhaft, fieberhaft versuche ich die Angst in mir, zu unterdrücken.
»Wer bin ich«, quält sie mich?
Panik steigt in mir auf. Ich fühle, wie sie mich überrollt – von mir Besitz ergreift.
Ich spüre den Druck auf meiner Brust.
Er schnürt sie mir zu. Er wird immer stärker, wie eine Schlinge, die sich unaufhaltsam zuzuziehen scheint.
Aber warte ...
Etwas lässt mich einen kurzen Moment innehalten, stoppen, nachdenken.
Etwas stimmt nicht. Etwas hat sich verändert.
Der Schatten, der eben noch meine Hand gestreichelt hat, ist nun verschwunden. Stattdessen sehe ich zwei andere Umrisse, zwei neue Schatten, vor mir.
Sie bewegen sich schnell, flüstern, fassen mich überall an.
Sie halten mich fest.
»Nein, nein, ich will das nicht!«, schreie ich.
»Lasst mich in Ruhe! Ich will das nicht! Lasst mich los!«
Niemand scheint mein Geschrei zu hören.
Niemand reagiert darauf.
Keinen der beiden neuen Schatten scheint es auch nur ansatzweise zu interessieren.
Stattdessen hält jetzt einer der beiden meinen Arm fest.
Er versucht, ihn auf das Bett zu drücken, doch das lasse ich mir nicht gefallen.
»Nein!«, brülle ich laut heraus. »Das lasse ich nicht zu! Lass meinen Arm los.«
Mit aller Kraft wehre ich mich dagegen.
Und erst gelingt es mir sogar, mich aus seinem festen Griff zu befreien.
Der Schatten lässt von mir ab.
Aber dann kommen plötzlich noch mehr neue Schatten herangestürmt.
Es scheint fast so, als wären es Hunderte.
Sie greifen nach mir, stemmen ihr Gewicht auf mich und drücken mich zurück in die Liegeposition.
Sie halten mich fest.
Ich kämpfe!
Ich kämpfe um mein Leben.
Ich …
Verzweifelt versuche ich mich zu befreien, drehe mich von links nach rechts und zurück, winde mich unter ihren Händen, schlage, so fest ich kann, um mich.
Keiner meiner Schläge trifft ins Ziel.
Es ist aussichtslos.
Mein Herz rast – es überschlägt sich fast.
Ein weiteres Mal spüre ich diesen Druck auf meiner Brust.
»Luft! Luft! Ich bekomme keine Luft!«
Doch wieder verlieren sich meine Worte in dem grellen Licht um mich herum – ohne Gehör, ohne Hilfe.
Ich merke, wie die vielen Stimmen um mich herum zu einer Einzigen werden, sehe, wie sich ihre Umrisse aufweichen, sich in eine wabernde, schwarze Masse verwandeln.
Sie kommt auf mich zu – hüllt mich ein.
Dann spüre ich diesen kurzen Schmerz auf meiner Haut, ein Stechen.
Nur Sekunden später ist alles vorbei!
Stille …
Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder zurückkehre, bis sich mein Bewusstsein seinen Weg aus der Traumwelt zurück in diese, die reale Welt erkämpft hat.
Erleichtert öffne ich langsam die Augen – und auch wenn das grelle Licht in ihnen schmerzt und sie blendet, so kann ich ihn doch erkennen.
Ich spüre ihn, spüre seine Wärme.
Er ist wieder da.
Der Schatten ist zurückgekommen, sitzt neben mir und streichelt sanft meine Hand.
Jetzt bin ich ruhig – ganz ruhig.
Die Gewissheit, dass der Schatten wieder da ist, lässt mich meine Angst für den Moment vergessen und alle meine Fragen unwichtig werden.
Erneut schließe ich meine Augen und lasse mich zurück ins Traumland fallen.
Wehrlos und schutzlos vertraue ich darauf, dass der Schatten auf mich aufpassen wird, mich beschützen wird – so lange, bis ich wieder aufwache.
Seit dem sind einige Stunden vergangen.
Ich fühle mich noch ein wenig benebelt, bin aber wach genug um meine Umgebung wieder wahrzunehmen.
Noch lasse ich meine Augen geschlossen, gebe ihnen Zeit, sich auf das grelle Licht vorzubereiten, das sie gleich erwarten wird.
Schließlich fühle ich mich bereit und öffne sie.
Langsam und vorsichtig.
Überrascht stelle ich fest, dass aus den grauen und schwarzen Schatten nun farbige Konturen geworden sind.
Zwar kann ich noch keine Gesichter erkennen, aber ich sehe die Umrisse der Personen vor mir.
Ich kann bestimmen, ob sie dick oder dünn, weiblich oder männlich sind.
Ich sehe, dass fast alle Personen in dem Raum einen weißen Kittel zu tragen scheinen.
Es sind Ärzte.
»Natürlich«, überlege ich. »Jetzt weiß ich, wo ich bin.
Warum habe ich daran nicht schon früher gedacht.
Ich liege in einem Krankenhausbett.
Dieses weiche leichte Etwas, das jede Stelle meines Körpers umgibt, ist die Bettwäsche – und sie ist es auch, die diesen Geruch nach Desinfektionsmitteln verströmt.«
Wie aufs Stichwort tritt einer der Ärzte an mein Bett.
Erneut blitzt nur wenige Zentimeter vor mir dieser helle Lichtpunkt auf, streift, wie erwartet, erst die linke und dann die rechte Pupille.
Der Schmerz in meinen Augen lässt die Farben zwar für einen kurzen Moment verblassen, und doch rückt er gleich darauf wieder in den Hintergrund.
Ich konzentriere mich.
Ich konzentriere mich nicht auf den Schmerz, sondern auf eine der Personen, die neben meinem Bett stehen.
Es ist die einzige Person, die keinen weißen Kittel trägt.
Und wie, als träte ich durch eine Tür, kommt sie zurück.
Ich konzentriere mich auf die Erinnerung.
Die Erinnerung, die mich unaufhaltsam einzuholen scheint, eine Erinnerung, die mir alle meine Fragen beantworten wird.
Es war genau 7:32 Uhr, als mein Blick mal wieder auf die Uhr im Armaturenbrett fiel.
Genervt saß ich bereits über eine Stunde in meinem Wagen und wartete darauf, dass die Blechlawine vor mir endlich weiter rollen würde.
Doch nichts tat sich.
Minute um Minute verstrich, ohne, dass sie sich nennenswert vorwärts bewegte.
Klar, ich wohnte in Köln.
Stau, volle Straßen, wenig Parkplätze und der Lärm waren für uns Kölner völlig normal.
Dennoch hatte wohl niemand von uns geahnt, dass ausgerechnet heute Morgen, der komplette Verkehr rund um Köln zusammenbrach.
Es ging weder vor, noch zurück!
Stoßstange an Stoßstange standen wir dicht gedrängt auf den Kölner Ringen und warteten vergebens darauf, endlich wieder den Fuß auf das Gaspedal stellen zu können, statt es unbeachtet rechts neben dem Bremspedal liegen lassen zu müssen.
Einige von uns, den Wartenden, waren sogar schon aus ihren Fahrzeugen gestiegen und vertraten sich draußen auf der Straße die Beine.
Andere von uns standen in kleinen Grüppchen zusammen und diskutierten darüber, was dieses Verkehrschaos verursacht haben mochte.
Und wieder andere, wie ich zum Beispiel, saßen einfach nur genervt und missmutig in ihren Autos und ließen sich von den Nachrichten im Radio berieseln.
Sie waren beinahe vorüber.
Hastig drückte ich auf den Knöpfen des Autoradios herum, änderte die Frequenzen, immer in der Hoffnung, dass vielleicht einer der Sender mal über dieses Chaos hier und dessen Ursache berichten würde.
Fehlanzeige.
Außer den, fast schon normalen Berichten über Terroristen, Flüchtlinge und irgendwelche Politiker, die den Rücktritt anderer Politiker forderten, gab es anscheinend nichts Neues oder gar Interessantes zu erzählen.
Lediglich in den Staumeldungen wurde kurz darauf hingewiesen, dass man sich rund um Kölns Innenstadt auf etwas längere Wartezeiten einrichten müsse.
Das war auch schon alles.
Ich seufzte.
Enttäuscht ließ ich mich wieder zurück in den Fahrersitz fallen und lauschte dem nun folgenden Wetterbericht.
»Viele Wolken, kaum Sonne und den ganzen Tag über Regen, begleitet von Temperaturen um sechszehn Grad«, tönte es voller Überzeugung aus den Lautsprechern.
Verwundert sah ich durch das Seitenfenster nach draußen.
»Ob der Moderator selbst mal raus geschaut hat, bevor er das in die Welt hinaus posaunte?«, fragte ich mich.
Eben hatte ich das Fenster meines Wagens sogar heruntergelassen, um die warme Brise zu genießen, die nun hereinwehte. Auch die Sonne schien, und auf der Anzeige im Armaturenbrett standen angenehme achtzehn Grad Außentemperatur.
Keine Spur von Regen.
Sicher, ein paar einzelne Wolken zogen hier und da vorbei – aber die sahen nun überhaupt nicht nach Regen aus.
Es war quasi das perfekte Wetter, um ganz gemütlich durch Kölns Innenstadt zu bummeln, und dabei die Auslagen der Geschäfte zu bewundern.
Zumindest war der Stadtbummel genau das, was ich mir für heute vorgenommen hatte.
Wieder verließ ein Seufzer meine Kehle und ich überlegte, ob das wohl heute noch klappen würde.
Ich war mir da nicht mehr so sicher, denn der Verkehr stand immer noch still.
Auch eine Stunde später hatte sich noch nichts verändert.
Mein Wagen stand immer noch an genau derselben Stelle, und so langsam bereute ich es, dass ich mir ausgerechnet heute Urlaub genommen hatte.
Hinzu kam, dass ich Lisa, meiner geliebten Lebensgefährtin, davon nichts erzählt hatte.
Ich musste unbedingt vor ihr wieder zu Hause sein, sonst würde das die ganze Überraschung, die ich für sie geplant hatte, vollkommen ruinieren.
Allerdings wurde das mit jeder weiteren Stunde, die einfach nur sinnlos auf der Straße verstrich, schwieriger.
Und dabei hatte ich mir an diesem Morgen viel Mühe gegeben, damit sie nichts von meinem Plan für heute mitbekam.
Wie an jedem normalen Arbeitstag hatte mein Wecker auch heute Morgen um sechs Uhr früh geklingelt.
Natürlich hatte ich ihn erst zwei Mal weiter gestellt, bevor ich tatsächlich aufstand – und das, obwohl ich lange vor dem ersten Klingeln wach im Bett gelegen hatte.
Aber, es musste einfach alles so aussehen wie immer. Sie sollte glauben, dass ich gleich, wie sonst auch, zur Arbeit fahren würde. Deshalb folgte ich meinem gewohnten morgendlichen Ritual und ging anschließend ins Bad, um mich für den Arbeitstag frisch zu machen.
Obwohl ich aufgeregt und hellwach war, und es mir wirklich sehr schwer viel, mir das Dauergrinsen zu verkneifen, bemühte ich mich, beim Zähneputzen, Rasieren und Duschen, möglichst müde auszusehen.
Ein möglichst verschlafen klingendes »Guten Morgen mein Schatz!«, welches ich ihr dann auf meinem Weg zurück ins Schlafzimmer zurief, und ein herzhaftes Gähnen und Strecken rundeten meine Darstellung gekonnt ab.
Bis jetzt war das Schauspiel noch einfach.
Doch bis jetzt waren wir beide uns an diesem Morgen auch noch nicht persönlich begegnet.
Erst dann würde sich zeigen, ob meine Amateurvorstellung wirklich erfolgreich war, und ob Lisa tatsächlich nichts merken würde. Aber auf das Zusammentreffen, das wusste ich, würde ich nicht mehr lange warten müssen.
Ich stand grade vor unserem Kleiderschrank und suchte, in der Hoffnung, dass die Farben später wenigstens einigermaßen zusammenpassen würden, Anzug, Hemd und Krawatte heraus, als Lisa ebenfalls das Zimmer betrat.
Sie steuerte direkt auf mich zu.
Dann stand sie hinter mir.
»Guten Morgen schöner Mann«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Sie legte währenddessen ihre Hände vorsichtig von hinten an meine nackten Hüften und ließ sie anschließend ganz langsam, ganz behutsam nach vorne, hinauf zu meinem Brustkorb, gleiten.
Ich spürte, wie ihre langen Fingernägel die sechs leichten Hügel auf meinem Bauch streiften.
Ich spürte, wie sie sich langsam vorarbeiteten und Stück für Stück jeden Zentimeter meiner Haut berührten, bis sie zum Schluss meine Brust erreichten.
Ich bekam eine Gänsehaut und hielt inne.
Zwar wusste ich nicht, wie sie das machte, aber dieser hier, war wieder einer der Momente, in denen ich mich fühlte, wie ein echter Mann.
Ihre Wärme, ihre Nähe wirkte wie ein Katalysator, der meine innere Kraft immer wieder aufs Neue zu entfesseln schien.
Stark, als könnte ich alles erreichen.
Stolz, als würde die Welt mich um mein Leben beneiden.
Langsam legte sie dann ihren Kopf auf meine Schultern, umarmte mich und drückte mit ihren Händen die zarten, leicht gekräuselten Härchen auf meiner Brust nieder.
Einen Augenblick lauschte ich ihrem ruhigen und gleichmäßigen Atem.
»Guten Morgen schöne Frau«, unterbrach ich schließlich die Stille um uns herum.
»Oh, Mist«, schoss es mir gleichzeitig durch den Kopf, denn ihre Umarmung hatte für einen kurzen Moment an Kraft verloren.
»Ob sie etwas gemerkt hat?«, überlegte ich.
»Das klang vielleicht zu wach für meine Verhältnisse?! Egal! Augen zu und durch! Einfach weiter machen. Ich darf mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen«, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf.
»Schau mal Schatz, geht das? Kann ich diese Kleidung zusammen anziehen?«, warf ich blitzschnell die Worte, so gleichgültig ich nur konnte, in den Raum.
Dabei löste ich mich aus ihrer Umarmung, drehte mich zu ihr um, und hielt ihr den Anzug, das Hemd und die Krawatte vor die Nase.
Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie mich irritiert an, doch dann schüttelte sie nur lachend den Kopf und meinte:
»Sorry Süßer, aber das geht gar nicht.«
Dabei strich sie mir mit ihrer Hand über die Wange und warf mir einen gespielt mitleidigen Blick zu.
Vorbei waren die Gefühle von Männlichkeit, Stärke und Stolz.
Ich hatte diesen schönen Moment mit meiner Unachtsamkeit verdorben.
»Hach ne, ihr Männer und die Mode. Das sind zwei verschiedene Welten, die eben einfach nicht zusammenpassen«, trat sie verbal noch mal nach und fing wieder an zu lachen.
»Du kannst auf einen dunkelblauen Anzug kein rotes Hemd tragen, es sei denn, du willst für Super-Mario-Kart als Darsteller anheuern. Nein, so kann ich dich auf gar keinen Fall zur Arbeit gehen lassen!«
Dann war es genug. Ihr Lachen verstummte.
Sie trat an mir vorbei, griff selbst in meinen Kleiderschrank und holte ein Anderes, ein weiß meliertes, Hemd heraus.
»Hier«, meinte sie und hielt es mir hin.
»Wenn du darauf noch die braune Krawatte, diesen Gürtel und deine dunkelbraunen Schuhe anziehen würdest …«
Erneut griff sie in den Kleiderschrank.
»… dann lass ich dich guten Gewissens vor die Türe gehen. Zumindest wirst du damit nicht als Super-Mario-Kart-Darsteller tituliert.
Gibt es denn heute etwas Besonderes auf der Arbeit, wofür du dich so chic machen musst?«, fuhr sie fort.
»Nein, wie kommst du darauf?«, antwortete ich wahrheitsgemäß mit einem möglichst gleichgültigen Schulterzucken.
»Na, du bist aufgedreht heute Morgen. Und, du hast mich noch nie nach meiner Meinung zu deiner Kleidung gefragt. Also, was ist los? Sag, für wen machst du dich so chic?«, hakte sie nach.
»Nichts ist los«, log ich, dass sich die Balken bogen.
»Ich würde mich für niemanden chic machen, außer vielleicht für dich«, ergänzte ich mit einem verschmitzten Lächeln.
Untermalt durch ein weiteres Schulterzucken, welches meine Unschuld noch einmal beteuern sollte, bemühte ich mich ihrem forschenden Blick standzuhalten.
Innerlich kämpfte ich dabei gegen mein Grinsen an.
Nur zu gern hätte ich ihr von meinem Vorhaben für heute erzählt. Doch zum Glück wandte sie irgendwann ihren Blick ab und ließ es auf sich beruhen.
Sie hakte nicht weiter nach.
Stattdessen wechselten wir einfach das Thema und sprachen über etwas anderes.
Und während ich versuchte, ihr zuzuhören, zwängte ich mich in den Anzug, knöpfte das Hemd zu und band mir den Gürtel, den sie mir rausgesucht hatte, um.
Schließlich legte sie mir behutsam die Krawatte um den Hals, zog mich ein Stück näher zu sich heran und drückte mir einen sehr leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.
Natürlich folgte ich sogleich ihrem Befehl und genoss das Fangspiel unserer Zungen in unseren Mündern.
Ihre Bewegungen wurden plötzlich schneller, und auch ihr Atem legte auf einmal mehr und mehr an Geschwindigkeit zu.
Ich spürte, wie sie ihre Hüfte dichter an mich presste, und tat es ihr gleich, bis …
Bis sich ihre Lippen genauso plötzlich wieder von den Meinen lösten, sie sich umdrehte und sie mir im Weggehen zuzwinkerte.
»Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag, schöner Mann«, flogen ihre süßen Worte durch die Luft und ließen mich allein mit ihnen im Raum zurück.
Unwillkürlich musste ich schmunzeln.
Was auch immer es war, was Lisa zu ahnen glaubte – das war definitiv ein Markieren ihres Reviers.
Aber, eins musste ich neidlos anerkennen:
Sie wusste einfach, wie man einen Mann zu behandeln hatte.
Sie wusste genau, was Frau sagen oder tun musste, damit Mann auch das tat, was sie von ihm erwartete – nämlich wieder zurück in ihren Arm zu kommen, statt einfach in einem anderen zu verweilen.
Dabei würde ich diese Frau, um nichts in der Welt, freiwillig wieder gehen lassen.
Denn seit dem Abend, an dem wir beide uns kennengelernt hatten, betrachteten wir uns als eines der wenigen glücklichen Paare, das alle Schwierigkeiten zusammen meistern konnte.
Es war sprichwörtlich die Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Dabei hatte ich gerade eine, weniger wundervolle, Beziehung hinter mir, und hatte eigentlich gar keine Lust darauf, jemand Neues kennenzulernen.
Schon einige Male hatten Freunde und Familie versucht, mich neu zu verkuppeln. Immerhin war diese katastrophale Beziehung beinahe zwei Jahre her gewesen.
Seit dem hatte ich, außer einigen, nicht erwähnenswerten, One-Night-Stands, keine Freundin mehr gehabt.
Doch ich war glücklich damit. Das wollte mir nur niemand glauben.
Ich genoss einfach das Singledasein und hatte fürs Erste auch nicht vor gehabt, an meiner Situation etwas zu ändern.
Es war simpel, problemlos und viel weniger stressig.
Ich war niemandem Rechenschaft schuldig, konnte kommen und gehen, wann ich es wollte, und konnte tun und lassen, was und mit wem ich es wollte.
Das Wichtigste aber daran war, dass ich meine Freunde und meine Familie treffen durfte, wann und so oft ich wollte.
Das war in meiner letzten Beziehung nicht möglich gewesen.
Diese Frau hatte einfach über alles und jeden hergezogen, der mit mir zu tun hatte oder haben wollte.
Sie fand immer etwas, worüber sie lästern konnte, und hatte es schließlich sogar geschafft, meine Familie und meine Freunde zu vergraulen.
Danach gab es nur noch mich und diese Frau.
Freunde waren keine mehr da, Familie nur noch zwangsweise an Feiertagen.
Sie hatte mich vollkommen vom Rest der Welt abgeschottet.
Ich gehörte quasi nur noch ihr – eben genau so lange, bis es mir endlich aufgefallen war, und ich blitzschnell die Reißleine der Trennung zog.
Danach hatte ich fürs Erste keine Lust mehr auf eine neue Beziehung.
Und hätte mir damals wer erzählt, dass dieses Liebe-auf-den-ersten-Blick-Ding wahrhaftig existiert, hätte ich für diesen Jemand nur ein müdes Lächeln übrig gehabt.
Aber dann belehrte mich das Schicksal zum Glück eines Besseren.
Ein paar Kollegen und ich hatten uns auf ein Feierabendbier in einer Bar verabredet.
Eigentlich hatte ich schon abgesagt, weil mein Kalender für den nächsten Tag ziemlich überladen war und ich deshalb lieber früh schlafen gehen wollte.
Aber sie hatten es geschafft, mich doch zu überreden.
Und als wir an diesem Abend so gemütlich beieinandersaßen und uns über die wichtigen Dinge des Lebens, wie Arbeit und Politik unterhielten, spürte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2521-8
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