Die Wärme von unten
Die alte Welt
Rauer Wind fegte über den Bahnsteig. Lydia schlang ihre Jacke um sich und zog die Schultern hoch. Sie wartete auf den Zug nach München. Um halb neun sollte er kommen, nun war es schon viertel vor. Es war Sommer und würde heute sicher sehr heiß werden, doch hier am Bahnhof war es kalt, viel zu kalt für ihr dünnes Kleid.
Warum machte sie das eigentlich? Weshalb tat sie sich das an? Wenn sie schon mal frei hatte, hätte sie es doch zu Hause viel gemütlicher! Die Kinder waren mit dem Vater weg, das Haus war leer. Doch nun hatte sie die Fahrkarte schon gelöst, also würde sie die Reise auch antreten.
Endlich fuhr die S-Bahn ein, sie setzte sich ans Fenster.
Ein lange nicht wahrgenommenes Gefühl überkam Lydia Hoffmann als sie die Tautropfen betrachtete, die an der Scheibe herabliefen. Dieser Anblick erinnerte sie an etwas, das schon viel zu lange zurück lag.
Die braunen Gleise und Güterzüge gaben ein Bild wieder, welches sich über die Jahre kein bisschen verändert hatte. Es gibt tatsächlich Dinge, die Bestand haben. So sieht der Klee, der den Waldboden bedeckt noch immer so schön grün aus, wie vor zwanzig Jahren, Pasing Bahnhof aber war, ist und bleibt rostig braun.
Die Hackerbrücke wurde in den Achtzigern erneuert, doch sie blieb ohne sichtbaren Unterschied dasselbe Original. Ob dies Absicht war?
Die nächste Station führte sie in den Untergrund. Jetzt war alles finster und das Wasser an der Scheibe schien noch deutlicher zu funkeln.
Diese Station ist dunkelrot, die nächste blau, dann kommt orange. Lydia wollte bei blau raus: Karlsplatz/Stachus, eine gute Entscheidung. Mit dem Stachus beginnt die Fußgängerzone. Oh, wie sie das vermisst hatte! Einst war sie zu Hause in dieser Welt.
Nun lebt sie in einem Vorort mit Reihenhaus, Garten, zwei Autos und Nachbarn, die sie immer gut im Auge behalten.
Wie viel freundlicher war doch die Stadt gewesen! Das machte wohl die Vielfalt aus. Viele Leute auf kleinem Raum, da ist Toleranz gefragt.
Als die Rolltreppe sie nach oben brachte, blitzte ihr die Sonne entgegen. Da gab es noch immer diesen großen Bodenspringbrunnen, in dem sie sich im Sommer oft erfrischt hatte. Marianne und sie hatten sich den Sport erlaubt, zwischen den rotierenden Wasserdüsen hindurchzulaufen, ohne getroffen zu werden. Doch am Schluss war jeder stets völlig durchnässt.
Lydia musste lächeln, denn als sie den Regenbogen sah, den das Springwasser bildete, da sah sie die beiden vergnügten Mädchen von damals vor sich. Danach drückte eine Träne nach außen, denn das war vorbei, unwiederbringlich.
Auf den alten Pflastersteinen, die ihre Füße noch immer kannten, marschierte sie durch den massigen Torbogen, hinein in die breite Einkaufspassage. Tauben liefen vor ihr her, ihr graues Gefieder schillerte in der Sonne. Alle haben am Hals eine Stelle, die alle Farben zeigt, gleich wie ein Opal. Diese Vögel sind immer da, Stadtkinder, daheim auf dem Asphalt. Ihr Gurren ist ein lieblicher Ton.
Bei einem Straßenmaler blieb sie stehen. Sie sah zu, wie er mit einem Kohlestift ein junges Mädchen portraitierte. Das Mädchen sah sehr hübsch aus, sie lächelte geschmeichelt ihren Künstler an, der schokobraun im Gesicht war und Rasterlocken trug.
Lydia versank in den großen braunen Augen des Malers und stellte sich vor, sie würde da vor ihm auf dem Stuhl sitzen, er lächelte sie so an, wie dieses Mädchen hier.
Danach würde er sie fragen, ob er sie einladen dürfe. Er nähme sie mit in seine Welt, mit der U-Bahn zur Münchner Freiheit, in den Englischen Garten, ein Bier am Chinesischen Turm und dann, am Eisbach in der Sonne liegen...
Im Englischen Garten hatte Lydia ihren ersten Joint geraucht, in seinen Büschen ihre Unschuld verloren, vor über zwanzig Jahren.
Einmal hatte sie mit Marianne dort übernachtet. In der Früh wurden sie von der Polizei aufgegriffen und mitgenommen... Das waren noch Zeiten!
Der Maler sah kurz auf, Lydia fing seinen Blick. Wie schön waren doch diese Augen! Nun hatte das Mädchen 10 Euro bezahlt und nahm begeistert ihr Bild mit sich. Der junge Mann forderte Lydia auf, sich auf den Stuhl zu setzten.
„Bitteschön Madame“ sagte er und Lydia fiel wieder ein, wie alt sie eigentlich war.
Sie hatte ihm wohl zu tief in die Augen gesehen, nun dachte er, sie wolle sich malen lassen. Gut, dass er nicht wusste, woran sie wirklich dachte.
Sie verabschiedete sich verlegen.
Am Marienplatz angekommen, kaufte sie sich eine Stehpizza. Dieser Snack war teigig und salzig, der Geschmack war wundervoll vertraut.
Vor dem großen Kaufhof hier fand 1982 eine Großrazzia statt. Über 80% der Leute, die sie durchsucht haben, hatten illegale Drogen bei sich. Es passierte ihnen nichts, es ging nur um eine Statistik.
Doch dieses Ergebnis war frappierend. Lydia war auch dabei, doch sie gehörte zu den
20 %. Sie hatte Haschisch nie gut vertragen.
Nun ging sie auf die Mariensäule zu. Um diese Säule herum lagen damals viele junge Leute in der Sonne auf dem Boden, so wie auch Lydia. Sie verbrachte, als sie in München ihre Lehrstelle hatte, oft ihre Mittagspause hier. Der Boden ist hier glatt und dunkel, wie der an der S-Bahn im Untergeschoss. Wenn man sich im Sommer darauf legt, kommt es sehr warm von unten. Es war nur ein Steinboden inmitten einer großen Stadt, doch er schien niemals schmutzig zu sein. Er war so einladend warm. Wenn sie hier lag, war sie stets glücklich und hatte die schönsten Träume.
Sie bückte sich und fasste den Boden an, er fühlte sich herrlich an. Doch es lag niemand mehr hier herum. Es saß auch keiner mehr da.
Nach der Razzia wurde das Sitzen und Liegen auf dem Boden in München verboten. Wer es dennoch tat, bekam eine Anzeige wegen Landstreicherei.
Sie ging zum Brunnen, schräg gegenüber. Hier durfte man sitzen, es waren Metallgitterstühle aufgestellt, doch alle waren besetzt.
Eine türkische Familie saß da, machte Brotzeit und die Kinder spielten mit dem Wasser. Da sich Lydia an den Rand des Wasserbeckens angelehnt hatte, wurde sie nassgespritzt. Erschrocken sahen sie die Kinder an, doch sie lächelte ihnen zu, da machten sie einfach weiter.
Sie fühlte gerne die Spritzer auf ihrer Haut, am Liebsten hätte sie mitgemacht bei der Wasserschlacht, doch das darf man eben als Erwachsener nicht mehr.
In dem unruhigen Wasser sah sie ihr Spiegelbild, das verzerrt wurde und deshalb hässlich aussah. Doch es spiegelte sich auch die Sonne darin, wie das Funkeln von Diamanten.
Melancholisch saß sie da und starrte in dieses Spiegelbild.
Sie fühlte sich plötzlich willkommen hier in der Stadt, daheim, so wie damals.
Als sie den Bund er Ehe geschlossen hatte, glaubte sie ihrem Mann, der sagte: „Die Stadt ist teuer und grau. Was willst du dort? Kein Grün weit und breit, keine Natur. Unsere Kinder sollen es besser haben. Sie sollen in keinem Wohnblock aufwachsen müssen, sie brauchen ein eigenes Haus mit Garten.“
Das hatten sie nun.
Doch die Nachbarn waren böse und das Haus abzuzahlen war auch kein Zuckerschlecken. Einkaufen gingen sie immer in den selben Supermarkt und auch dort wurde man beobachtet, begutachtet und ausgefragt.
Lydia ist im Westend aufgewachsen. Die Wohnung war im 3. Stock, klein und alt. Im Haus gab es viele Kinder in ihrem Alter. Im Innenhof spielten sie Völkerball, jeden Tag, auch bei Regen. Sie teilten sich alles und hatten deshalb nie zu wenig. Es war, als hätte sie ein Duzend Geschwister.
Als sie älter waren, zog sie mit Marianne durch die Stadt. Mit Tram-Bahn und Bus kamen sie überall hin, es wurde niemals langweilig.
Und Lydias Kinder?
Sicher ging es ihnen nicht schlecht, doch die Leute in den Reihenhäusern sind eben nicht so großzügig, wie die in den Wohnblöcken. Und auch zwischen den Kindern, geht es darum, wer am Meisten hat. Ins Haus dürfen sie kaum Freunde einladen, weil sonst der Teppich schmutzig wird. Und wenn sie im Garten Ballspielen, fällt andauernd der Ball über den Zaun. Solange, bis der Nachbar sich wieder beschwert. Nachbarn beschweren sich andauernd, das scheint wohl ihre Aufgabe zu sein.
Lydia war nicht glücklich in der feinen Wohngegend, sie war ein Kind er Hinterhöfe, der Straße und der Fußgängerzone. Sie wollte nie einen Lebensraum, der auf ein Haus beschränkt ist, das immer gepflegt und verteidigt werden muss.
Es ödete sie an, stets die selben Leute um sich zu haben, alles Deutsche, alle etwas Besseres. Das Leben in der kleinen grauen Altbauwohnung war um so viel freier, als das jetzt.
Wieder musste sie weinen.
Sie stand auf und ging an den Ort, der schon so oft geholfen hatte: Die Münchner Frauenkirche.
Vor ganz vielen Jahren, als die Kirche errichtet wurde, da ärgerte sich der Teufel, weil sie so schön geworden war. Als niemand da war, schlich er sich hinein, um zu überlegen, wie er hier Schaden anrichten könne. Doch als er eintrat, überfiel ihn größte Heiterkeit, denn er stellte fest, dass die Kirche nicht ein einziges Fenster hatte.
Vor Freude stapfte er mit einem Fuß in den Boden und lief zufrieden davon.
Diesen Fußabdruck kann man heute noch sehen, im Boden der Frauenkirche ganz am Eingang. Und wenn man an dieser Stelle steht, sieht man tatsächlich kein einziges Fenster, denn sie werden von den Säulen verdeckt.
Lydia stand da und schaute ehrfurchtsvoll in das scheinbar fensterlose Gebäude. Dann ging sie auf der linken Seite nach vorne und setzte sich in die dritte Reihe, ihr Stammplatz, er war wie ein Refugium.
Genau auf dieser Bank hatte sie einst drei Stunden lang gesessen, um auf ihre Marianne zu warten. Die Mädchen wollten sich hier treffen, denn sie hatten beide ihre ersten Vorstellungsgespräche für die Lehrstellen. Lydia war schnell fertig, denn ihr Termin war früh und es dauerte nicht sehr lange.
Es ging ihr gar nicht gut. Sie hatte alles falsch gemacht. Die Eignungsprüfung hatte sie nicht bestanden, völlig vermasselt. Und den Test, der ihre allgemeine Intelligenz und Merkfähigkeit überprüfen sollte, ebenfalls. Sie war völlig zerstört, mit den Nerven am Ende. Sie hielt von sich selbst überhaupt nichts mehr. Wie sollte sie das nur ihren Eltern sagen? Diese Schande!
Was war sie noch wert?
Als sie dann hier saß, da wusste sie, sie würde nicht früher gehen, bevor Marianne hier wäre, denn sie konnte nicht nach Hause, ohne vorher mit ihrer Freundin gesprochen zu haben. Sie brauchte jemanden, der ihr sagte, was sie tun sollte, fühlen sollte, wie alles weitergehen soll.
Doch die Einzige, die kam, war eine alte Schwester, die ihr freundlich zulächelte.
Lydia kniete nieder, tat so, als würde sie beten. Sie wollte vor der Schwester nicht preisgeben, dass die Kirche nur ein Treffpunkt war.
Doch als sie nach vorne auf den Alter sah, fiel ihr ein, dass sie ja wirklich beten könnte. Vielleicht würde das helfen.
Es half. Wie ein Wunder war das, es gab eine stille Stimme, die ihr sagte, was sie wirklich noch wert war und dass diese Prüfungen unwichtig waren. Ihren Wert kann man nicht prüfen.
Nach drei Stunden verließ sie das Gebäude, seither wusste sie, dass es Gott gibt.
Lydia versuchte nun ähnlich zu denken als damals. Doch es gelang ihr nicht, ihre Probleme waren anders. Und so saß sie einfach nur da und ließ die Kirche auf sich wirken. Nach einiger Zeit, fühlte sie sich getröstet, so wie früher.
Als sie die kühle Kirche verließ, fiel die hoch stehende Mittagssonne angenehm heiß auf ihre Schultern. Wieder ging sie auf den Brunnen zu, dort wollte sie sich setzen, um noch etwas zu verweilen und ihr Gesicht zu bräunen.
Unter der Isarbrücke
Während Lydia am Ende ihres Stadtbummels angekommen ist, stehe ich gerade erst auf.
Mein Bett auf der Parkbank war weich heute Nacht.
Diese Stadt ist mir zu Füssen gelegt, denn wenn ich auf ihr gehe, dann ist sie unter mir. Ich bin ein Nichts unter den Menschen und nichts ist an mir, was einen Wert darstellen könnte. Gehe ich durch diese Gassen, durch die fetten Einkaufsstraßen, so sehe ich eine Welt, die nicht für mich bestimmt ist. Und dennoch hat diese Stadt etwas übrig für mich, so wie auch der Wald etwas hat, was sich jeder Mensch, egal wer oder was er ist, zu eigen machen kann.
München, auf deinen Steinen darf ich liegen, sitzen gehen, zumindest dort, wo Landstreicherei nicht völlig verboten ist. Deine Kirchen darf ich betreten, deine Mauern streicheln. Dem Eichhörnchen im Park darf ich ein Popkorn geben und den Fischen im Fluss werfe ich einen feuchten Blick zu.
Es gibt viele Menschen in dieser Stadt, die mich nicht leiden können, die sich wünschen, meines Gleichen wäre nicht hier, doch du selbst, die du alle hier beherbergst, du nimmst mich an, bedingungslos.
Du bist nicht nur um mich, Stadt, du bist in mir, tief in meinem Herzen hast du dich breit gemacht und schenkst mir das Gefühl der Heimat.
So wie die Taube, bin ich dein Schützling und egal, ob ich arbeite oder nicht, ob ich trinke oder nicht, ob ich schlafe oder wache, bin ich in dir.
Auch du bist Natur, denn du bist von Menschenhand gemacht und der Mensch ist Natur. Wo Natur gedeiht, da ist auch Gott.
Wir haben uns ein Nest gebaut, wohnen in einem Ballungszentrum, so wie viele, viele andere Geschöpfe dieser Erde. Es gibt einige Dinge, die haben alle gemeinsam. Wie das Spinnennetz oder der Kaninchenbau sind unsere Behausungen genial und schön. Bewundernswert exakt sind unsere Häuser, Strassen, Züge, Autos.
Ich kenne und ich liebe dies Alles. Zumindest dann, wenn meine Gesundheit mir keinen Streich spielt. Denn es gibt auch Tage, an denen mich der morgendliche Kater so niederschmettert, dass ich schon froh bin, wenn ich aufstehen kann. Selbst der erste Schluck Wein hilft nicht, lässt mich würgen oder gar erbrechen. Dann wünschte ich mir wieder, ich wäre ein solider Mensch mit einer Wohnung und einer Arbeit. Wenn es mir schlecht ginge, marschierte ich zusammen mit meiner Krankenversicherungskarte zum Doktor. Der schickte mich ins Bett.
Aber nein, stattdessen lebe ich auf der Straße, Wind und Wetter ausgesetzt, weiß tagsüber nicht, wo ich mich hinlegen kann, wenn ich krank bin. Denn in der Nacht, da ist vieles möglich und am Tag eben wenig, für mich, in der Stadt.
Oft hilft ein kühles Bad in der Isar, dort wo sie Rattengift gestreut haben, denn an den Orten, an denen die anderen baden, bin ich nicht erwünscht. Ich verstehe das, ich biete ja auch keinen schönen Anblick. Wenn ich mich so fühle, wie ich mich eben manchmal fühle, dann traue ich mir auch gar nicht zu, Menschen zu begegnen. Bestenfalls vielleicht noch meinen Kumpels von ‚unter der Brücke’, auch wenn dies nicht viel hilft. Denen geht es ja ähnlich. Aber wenn einer krank ist von uns, dann lässt man ihn lieber in Ruhe, solange, bis er sich gefangen hat und wieder lachen kann. Denn das Lachen ist für uns sehr, sehr wichtig.
Manchmal wünschte ich mir, ich hätte jemanden, der auch in schlechten Zeiten für mich da ist, einen Freund, der zu mir steht. Doch der einzig wirklich treue Freund, das ist die Stadt selbst, denn sie lässt mich niemals fallen.
Die ist nicht so wie der liebe Gott, der sich in Luft auflöst, wenn ich mit mir nicht mehr ins reine komme oder betrunken bin. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass ich ihn gerade dann bräuchte, doch dann ist er nicht da. Er ist sogar so weit weg, dass ich selbst nicht mehr auf die Idee komme, nach ihm zu rufen. Vielleicht beißt sich die Katze da in den Schwanz, aber er ist ja schließlich Gott, nicht ich, soll er doch etwas ändern!
Oft denke ich an meine Kindheit. Wie war sie da, meine Stadt? Da waren die Einwohner noch nicht so wie eine Mauer an verachtenden Blicken, sie kamen mir nicht entgegen wie ein Mähdrescher, eher wie eine Welle Salzwasser, in die man eintauchen konnte. Ja und meistens gelang es mir sogar, mit ihr in die selbe Richtung zu wollen.
Ich hatte Freundinnen, mit denen ich im Hof Völkerball spielte und überall in der Stadt unterwegs war.
Der Englische Garten, heute eine Möglichkeit, an Geld und Bier zu kommen, eine Schlafstätte, wenn man lange genug wartete, bis alle Leute weg waren. Damals, ein Treffpunkt, Badeplatz, ein Ort, an dem man sich frei bewegen konnte, jemanden kennen lernte, Haschisch rauchte oder am Chinesischen Turm einkehrte.
Was haben wir da nicht alles erlebt! Ich lernte Jim dort kennen. In den war ich sehr lange verliebt und eine Zeitlang ging das gut mit uns beiden. Der Eisbach war unser Treffpunkt. Wir sind im Wasser herumgetobt, solange, bis wir müde waren, dann sonnten wir uns an seinem Ufer. Wenn wir Durst bekamen, gingen wir zum Turm, am Rande des Parks entlang, dort wo ein kleines Waldstück ist, um in dessen Schutz uns niederzulassen, hinter einem Busch, im Geäst miteinander rumzumachen. Es war höchst spannend, nicht entdeckt zu werden, denn es wimmelte stets von Spaziergängern. Vor allem die Hunde spürten uns gerne auf und wir mussten schnell unsere Kleidung in Ordnung bringen.
Ich muss immer lächeln, wenn ich dort vorbeigehe. Und wenn ich ganz intensiv daran denke, dann machen sich Gefühle in mir breit, von denen ich eigentlich dachte, sie wären schon lange tot.
Tot ist in mir so manches, meine Weiblichkeit vor allem. Was ich bin, wie ich mich gebe, bin ich einfach nur ein Penner, egal ob männlich oder weiblich. Vor fünf Jahren hatte ich mal einen Mann an meiner Seite, Hans. Er besaß einen großen Schäferhund, um den er sich meist mehr Sorgen machte als um mich. Seine Küsse schmeckten wahrscheinlich wie die meinen, nach Bier oder Wein. Damals benutzte ich noch eine Zahnbürste und wusch mich häufiger als jetzt. Doch Hans legte nicht sehr viel Wert auf solche Dinge, also ließ ich es bald bleiben, mich um meinen Körper zu kümmern.
Es ist nicht so einfach bei uns. Wir haben nun mal kein Bad, in dem Alles bereitsteht. Wenn wir uns waschen wollen, dann suchen wir uns einen einsamen Fleck an der Isar. Einsam, weil wir keine Badebekleidung haben. Wenn wir uns waschen, tun wir das heimlich.
Aber es gibt noch die Mission, dort kann man duschen gegen ein paar Cent. Wenn man kein Geld hat, braucht man Überredungskünste.
Hans ist gestorben, Leberzirrhose, wie so viele. Ein großes Ding ist das nicht, wenn einer von uns stirbt, eigentlich sind alle froh, wenn es einer weniger ist, der die Stadt in den Schmutz zieht.
Dennoch gehören wir dazu, so wie die Mülltonne zum Reihenhaus gehören Stadtstreicher auch zur Stadt. Eine Stadt ohne Penner gibt es praktisch nicht, außer vielleicht Singapur. Doch das ist so weit weg, ein anderes Land, eine andere Welt.
Wir sind geduldet hier, wenn wir uns an die Spielregeln halten und nicht großartig auffallen. Habe ich etwas Geld, dann setze ich mich gerne in das Cafe am Hauptbahnhof Untergeschoss. Ich gehe vorher auf die Toilette, wasche mir Hände und Gesicht. Auch Duschen gibt es hier. Wenn das Geld reicht, kann ich mich also richtig waschen, den ganzen Körper. Ich versuche den Geruch loszuwerden. Die Bahnhofsmission gibt am Mittwoch Kleidung aus. Doch man bekommt nicht immer etwas Passendes.
Ich gehe nur ordentlich ins Cafe, denn ich kann nicht riskieren, dass ich mich da nicht mehr blicken lassen kann. Wo bekäme ich sonst meine Suppe? Ohne eine Suppe ab und zu würde ich wahrscheinlich sterben.
Wenn ich total betrunken bin, so dass ich mich nirgends mehr blicken lassen kann, dann gehe ich ins Obdachlosenasyl. Die Leute dort kümmern sich immer um mich. Aber wenn die Wehrdienstverweigerer da sind, werde ich wie Vieh behandelt.
Die Klosterschwestern hingegen sind wirklich nett, sie lächeln mich noch an, auch wenn ich stinke wie ein Alkohollager. Dort gibt es auch Suppe. Mein Problem ist nur, dort hinzukommen. Ich bin daheim am Isartor und das Asyl ist am Ostbahnhof. Für die Fahrkarte habe ich kein Geld oder es ist mir zu schade. Wenn ich aber beim Schwarzfahren erwischt werde, lande ich im Gefängnis, ist mir schon passiert. Das hieße keinen Alkohol zu bekommen, die Hölle also.
Für unsereins gibt es keinen professionellen Entzug, vor allem dann nicht, wenn wir uns straffällig gemacht haben, wir müssen einfach trocken bleiben, egal was dabei mit dem Körper passiert. Denn wir sind ja sowieso nichts mehr wert, keine Menschen, nur Abfall.
Ja, man fühlt sich oft nicht so toll als Schattenseite der Stadt. Aber der Schatten liebt sein Original, die vertrauten Strassen und Häuser. Auch wenn kein zu Hause hier mir allein gehört, so gehört mir doch alles. Ich liebe das weiche Gras an der Isar, das Rauschen des Wassers, die Vögel im Englischen Garten und den warmen Boden am Marienplatz.
Ich liebe die Erinnerungen an meine Jugend, die hier um jede Ecke blitzen und mir zuzwinkern, mir das Gefühl geben, für immer jung und schön zu sein.
Und meine Kumpels von jetzt, die habe ich auch ganz gern. Sie sind keine Freunde, auf die man sich verlassen kann, doch man kann ihnen alles sagen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Jeder erzählt hier jedem Alles. Wir wissen voneinander, weshalb wir die sind, die wir sind und wir reden nicht über die Hoffnungslosigkeit unserer Zukunft.
Manchmal arbeiten wir sogar zusammen. Das Arbeitsamt vergibt Jobs für sechs Euro die Stunde. Wir dürfen Sandkästen ausschaufeln oder Unkraut jäten. Das macht unter Umständen Spaß, wenn man mit den richtigen Leuten zusammen ist und die Gesundheit mitspielt.
Ja, die Gesundheit, die ist schuld an meinem Schicksal.
Als ich noch ein normales Leben führte, hatte ich bereits als Kind diese Beschwerden. Höllische Kopfschmerzattacken, Übelkeit, Ohnmacht, das kam immer wieder, ich bekam keine Luft mehr. Doch alle ärztlichen Untersuchungen wiesen nach, dass ich kerngesund bin. Die Anfälle aber kehrten wieder und alles, was ich dagegensetzen konnte, war Alkohol. Das war das einzige Medikament, das half, zumindest gegen die Atemnot und die Angst, diesen Zustand nicht zu überleben.
Wenn man jung ist, wird einem der eine oder andere Rausch noch verziehen, wenn man älter wird, nicht mehr. Ich verlor meinen Job, meine Wohnung, alles.
Unschuldig? Ja, sicher bin ich das. Doch das sind wir alle. Die Penner hier haben alle so eine Geschichte, wer lebt denn auch freiwillig so?
Heute geht es mir einigermaßen gut, körperlich. Doch nicht mehr lange, denn ich brauche bald meinen Alk und es ist mir noch nicht gelungen, welchen aufzutreiben. Also marschiere ich los, klappere meine Stellen ab. Erst die Caritas wegen Geld, die werden mir nichts geben, ich war ja gestern erst da. Dann der Marienplatz, dort treffe ich vielleicht Christoph und Paul beim Betteln. Entweder setze ich mich auch hin oder sie geben mir was ab, wenn es gut gelaufen ist.
Sollte davon nichts fruchten, dann ab zum Englischen Garten. Man kann am Chinesischen Turm ganz gut stehen gelassene Bierkrüge leeren. Auch das Schnorren klappt normalerweise, viele Leute geben Geld her, wenn man ihnen eine gute Geschichte auftischt. Von meiner Clique sind in der Regel auch welche im Garten.
Aber die Hitze brennt mir auf den Schädel, mein Kreislauf macht mir zu schaffen. Ein Schluck Wein würde sicher helfen.
Hilfesuchend, schnorre ich ein junges Mädchen an, doch die sagt: „Verpiss dich, Alte!“
Sie schiebt mich grob bei Seite.
„Schönen Dank auch“, sagte ich und schleppe mich weiter.
Auf dem Rücken habe ich einen roten Rucksack, in den Händen zwei Plastiktüten. Da sind all die Dinge drin, die ich dringend brauche, bei denen ich nicht riskieren kann, dass ich sie verliere. Ich habe auch noch mehr Klamotten in einem Plastiksack unter der Brücke, meine Vorräte.
Doch ohne Schlafsack bin ich aufgeschmissen, ohne meine kleinen Erinnerungen auch. Ausserdem sind noch Kartoffelchips in den Tüten, Kuchen, Bonbons, Waschzeug, Deo, Schuhe, Socken, ein Haarband und... ja genau: Notfallschnäpse! Die sind eigentlich für den Magen gedacht, doch die ist jetzt meine Rettung.
Ich gehe aus der Schusslinie und gebe mir zwei Underberg. Die waren ein Geburtstagsgeschenk von Peter. So etwas Teures würde ich mir niemals kaufen, doch ich denke, Peter hat sie auch nicht bezahlt.
Nach dem ersten Fläschchen fühle ich, wie mein Körper sich erholt und meine Laune hebt. Nun weiß ich wieder, ich schaffe es auch heute, Geld aufzutreiben, Wein zu bekommen, durchzuhalten, Freude zu haben.
Es blinkt mir golden glänzend die Mariensäule zu und die Männlein oben an der Rathausuhr tanzen ihren Mittagsreigen. Gerne würde ich mich zu ihren Füßen niederlassen, doch das Sitzen auf dem Boden ist in der Fußgängerzone verboten. Früher durfte man das. Ganz unterschiedliche Menschen haben sich hier auf dem Boden vor der Mariensäule getroffen und auch am Brunnen ein Stück weiter unten.
Da waren junge Leute, die ihre Mittagspause an diesem Ort verbrachten, Studenten, die für Prüfungen lernten, Rucksacktouristen, die Kontakt zu den Einheimischen herstellen wollten, Menschen, die sich einfach mal hinsetzen mussten und Penner natürlich.
Eigentlich waren die Obdachlosen hier nicht das Feindbild, das sie heute sind. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit meiner Freundin Lydia oft hier saß und mich mit denen unterhielt. Sie waren lustig, hatten tolle Geschichten auf Lager und drehten uns Zigaretten.
Solche Jugendlichen scheint es nicht mehr zu geben. Seitdem Landstreicherei hier verboten ist, sind auch wir verboten, für jedermann.
Ich gehe zum Brunnen und setze mich für einen Moment an dessen Steinrand, denn ich will das Wasser fühlen, mit dem ich als Kind spielte, das Gefühl ist so alt wie ich selbst.
Ich strecke mein Gesicht der Sonne entgegen. Auch sie scheint für uns alle, sie macht keinen Unterschied zwischen den Menschen. Dankbar schließe ich die Augen und lasse das helle Licht auf mich wirken.
Da fasst mich jemand an. Erschrocken reiße ich die Augen auf, mein erster Gedanke: Polizei! Erwischt! Ich darf hier nicht sitzen.
Doch wen ich da sehe, das kann ich gar nicht glauben: Es ist Lydia. Sofort schäme ich mich abgrundtief für das, was aus mir geworden ist. Sie soll mich so nicht sehen! Am liebsten würde ich mich verstecken, doch das geht nicht.
Sie sieht mich an und weint. Warum weint sie? Ist mein Anblick so schrecklich? Nein, das ist es nicht. Sie ist traurig, wirklich traurig, wegen sich selbst.
Langsam stehe ich auf, da umarmt sie mich, mit all meinen schmutzigen Klamotten und drückt mich an sich, voller Inbrunst.
Unsere Füße stehen auf dem Kopfsteinpflaster der Stadt, sie fühlen die Wärme von unten.
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2011
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