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Roman
Robin Hoffmanns Leben
„Unbarmherzig bist du dieser Welt überlassen. In allem was du tust, in allem was du denkst, hast du nichts in der Hand.
Keine Ahnung, weshalb du lebst, keine Ahnung woher und wohin.
Es ist ein Strohhalm, der dich hält, er steht und fällt mit dem Wind.
Nichts kann dir wirklich helfen, niemand wird dich trösten, du bist allein“, schrieb der Junge, der auf der Bahnhofstoilette saß.
Er hatte schon lange keine Wände mehr um sich, keinen Schutz vor der Welt. Ein paar Minuten nur wollte er hier verweilen; manchmal wünschte er sich, er müsse nie mehr weg. In diesem winzigen Raum gab es ein Waschbecken und einen Aschenbecher. Vor allem aber gab es ein Schloss an der Tür.
Eine stille Weile später begann er zu lesen, was an den beschmierten Wänden geschrieben stand. Inmitten obszöner Sprüche und sexueller Angebote las er:
„Die Schuld kam zurück, Jesus.“
Die müden Augen des Jungen wurden feucht, es brannte; er legte die Finger auf das Wort „Jesus“. Doch er ließ es los, nahm den Stift erneut zur Hand und schrieb die Telefonnummern ab. Zwei davon könnten Agenturen sein. Er wollte überleben, das war alles.
Sein Kopf fiel herab, baumelte kraftlos zwischen den Beinen. Er nahm den Gestank der Pisse wahr, doch es wurde ihm nicht übel, schon lange nicht mehr. Er hat viel Übleres erlebt ohne sich zu würgen. Aus ihm ist ein harter Kerl geworden.
„6. Februar 2025“, schrieb er über seine Eintragungen;
„Wie soll das nur weitergehen?“, schrieb er darunter.
„Es donnerte an die Tür: „Hey, Beeilung bitteschön! Andere müssen auch!“, dröhnte eine verärgerte Stimme.
Ihm blieb keine Zeit, nirgends. Überall waren Menschen, die ihn verscheuchten. Er faltete sein Blatt, steckte es ein, zog die Hose hoch, spülte, was nicht vorhanden war, hinunter.
„Moment!“, rief er während des nächsten Donnerns und ging ans Waschbecken.
Seine Augen im Spiegel gaben das Licht der Umgebung wider. In ihnen spiegelte sich nicht nur Helles, sondern auch Schatten, der das Licht verdeckte. Der ließ nicht hinein, was gut war und ließ nicht hinaus, was gut war.
Das Wasser, welches ihm aus dem verkalkten Hahn an die Brust spritzte, war eiskalt. Dennoch klatschte er es sich ins Gesicht. Sehr sauber wurde er nicht davon, doch das war besser als nichts.
Dann reckte er den Hals, schob die Brust nach vorn, er roch sich selbst.
„Was ist?“, fragt er überlegen und versperrt dem Störenfried den Weg.
Der schubst ihn unsanft auf die Seite. Der Junge schubst zurück, zieht aber seinen Gegenspieler zu sich her, damit er nicht gegen den Türstock knallt, und grinst ihn an.
Der Mann sieht in die Augen des Jungen, betritt die Toilette, sperrt nicht zu. Der Junge wartet einen Moment vor der Tür, dann geht er hinein.
Felix
Felix Jung schreckte hoch aus einem schrecklichen Traum. Fast war er dem lauten Wecker dankbar für die Beendigung dieser Nacht.
Auf seiner Stirn stand Schweiß, die Hände zitterten. Viele Jahre schon kehrten diese Bilder, in denen er seinem Vater begegnet, wieder. Dieser Mann im Traum vermittelt Felix Freundschaft und Stärke. Doch das Glück währt nicht lange: Die Tür geht auf, zwei Männer stürmen herein, Felix wird geschlagen, der Vater geht dazwischen und wird getötet.
Endlich bekommt Felix seinen Vater zu Gesicht, sogleich trennt sie aber der Tod.
Die Gefühle bei diesem Traum sind so intensiv, dass Felix dazu neigt, danach zu weinen.
„Wie war mein Vater?“, hatte er einst seine Mutter gefragt.
„Gar nicht. Er war gar kein Vater“, kam die Antwort.
Emir Behem ist davongelaufen als er von der Schwangerschaft erfuhr. Die Mutter kannte ihn wenig, der Sohn überhaupt nicht. Er ist daheim in einem fernen Land. Niemand weiß, ob er jemals zurück dachte.
Der Vater aus dem Traum ist deutsch. Vielleicht ist er ja nicht der Vater. Doch Felix empfindet so zu ihm. Es ist ja nur ein Traum.
„Wie siehst du denn heute aus?“, fragte Lydia Jung ihren Sohn am Morgen des 10. Mai 2025.
Felix gab nur ein knurrendes Geräusch von sich und verschwand im Bad. Man sah ihm seinen Albtraum an, seine Verzweiflung, seine Trauer.
Er hasste sich dafür. War wirklich etwas passiert? Gab es irgendeinen Anlass, Tränen fließen zu lassen? Gott, was war er nur für ein Schlappschwanz!
„Besser?“, fragte er die Mutter, als er aus dem Bad kam.
Sie küsste ihn auf die Wange, er wehrte das ab. „Ich bin kein kleines Kind mehr, Mami!“, rief er aus.
„Auch große Kinder darf man küssen. Und überhaupt haben Mütter eine Sondergenehmigung“, sagte sie scherzhaft.
Felix lächelte. Irgendwie war sie schon in Ordnung, auch wenn sie nervtötend sein konnte.
„Kommst du heute Mittag heim?“, frage Lydia.
„Am Nachmittag, denke ich“, gab er, in seine Kaffeetasse starrend, zur Antwort.
„Du gehst wohl mit Nikolai zum Imbiss?“, fragte sie vorsichtig. Sie wusste, dass Felix ihre Fragerei nicht mochte, doch sie musste ja wissen, ob sie kochen soll.
„Nein“, entgegnete er nachdenklich, „ich muss kurz bei den Silberbachs vorbeischauen.“
„Alles klar“, sagte die Mutter ohne weiter nachzudenken.
Aber nun wollte Felix etwas loswerden: „Nadja hat Hausarrest. Sie hat was Schlimmes angestellt. Gestern rief sie mich an. Sie hat mich schon sehr lange nicht mehr angerufen. Es muss wirklich ernst sein dieses Mal.“
Nun hatte Lydia ihm aus Versehen den Kopf gestreichelt, um zu trösten. Sie konnte sich solche Berührungen einfach nicht abgewöhnen.
„Dass diese Eltern so schrecklich wenig Verständnis zeigen für ihr Kind“, seufzte sie.
„Ja, die sind entsetzlich“, sprach Felix.
Dann drückte er seine Mutter kurz an sich, sie war ganz perplex.
„Bis dann, Mami“, sagte er und machte sich auf den Weg zur Schule.
Nadja
Nadja freute sich auf Felix. Normalerweise war er ihr eher lästig, sie hasste ihn von Zeit zu Zeit. Nun aber war er nicht nur für sie da, wenn sonst keiner mehr kam, sondern auch der einzige Besucher, den die Eltern in ihrem Hause akzeptierten.
Felix ist viel zu gut für diese Welt, vor allem zu gut für Nadja. Sie wollte niemals jemanden wie ihn an ihrer Seite. Seine Dienste haben sich zwar in mancher Notlage als praktisch erwiesen, doch im Prinzip wäre sie froh, würde er aus ihrem Leben verschwinden. Heute war das anders. Sie wollte ihm erzählen von den Dingen, die sie erlebt hat, die sie geschafft hat zu durchleben. Sie war stolz auf sich, so verwegen zu sein. Dabei wusste sie sehr gut, dass nur Felix das Talent besaß, diese Eigenschaft an ihr zu bewundern. Sie brauchte jetzt einen Bewunderer; gut, dass sie einen hatte.
Was hat sie also hinter sich, welches ihr diese Haftstrafe einbrockte?
Am Abend des 8. Mai 2025 war sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben auf einer Polizeiwache. In einen Kampf mit zwei Männern verwickelt, geriet sie auf die Fahrbahn und verursachte so einen Verkehrsunfall.
Nadja war sehr betrunken, es war schwierig für die Beamten herauszufinden, was geschehen war, wer Schuld hatte an diesen Dingen. Zum Einen schien Nadja Opfer eines Angriffs zu sein, zum Anderen hatte sie ganz offensichtlich ein übles Spiel mit ihren Begleitern getrieben.
Doch was auch immer sie getan hat, die Tatsache, dass sie ein minderjähriges Mädchen war, schützte sie vor aller Schuldzuweisung, sie wurde von den Beamten nach Hause gebracht.
Die Eltern, Michael und Mira Silberbach waren entsetzt. Ausgerechnet ihre Tochter, aus guter Familie, erlaubte sich in etwas Derartigem verwickelt zu sein.
Nadja bekam ein paar Ohrfeigen und der Vater hatte in den nächsten Tagen mit diversen Versicherungsangelegenheiten zu tun.
Eigentlich war nicht viel passiert für solch ein Abenteuer, dachte sich Nadja. So begann mit dem 8. Mai 2025 für sie ein Lebensabschnitt, der gepflastert war mit Abenteuern dieser Art.
Die Rolle des furchtlosen Straftäters tat ihr gut.
Sie wuchs als einziges Kind wohlhabender Eltern auf, ihr war schrecklich langweilig. Zwischen ihren Eltern herrschten merkwürdige Gefühle, die Beziehung war so kompliziert, dass für ein normales Familienleben kaum Platz war.
Da gab es einen Moment an Nadjas drittem Geburtstag der alles veränderte. Nadja wusste nicht mehr was geschehen war, sie wusste nur, dass ihr Vater sie seither hasste.
Die Mutter war nervös, sie hatte Angst vor ihrem Gatten und tat, was sie konnte, um ihn bei Laune zu halten. Für ihre schwierige Ehe hatten die beiden Silberbachs längst einen Schuldigen gefunden: Ihr Kind. Nadja war es, die den Ruf der Familie schädigte, unnötige Arbeit mit sich brachte, Geld kostete.
Wieso also sollte die Tochter ein braves Kind sein wollen, wenn sie sowieso stets die Schuldige war?
‚Schuld’
Was ist das? Wo kommt sie her? Wer hat sie erfunden?
Schuld ist ein Mysterium, denn sie verändert unsere Gedanken, unsere Gefühle. Für den Schuldigen ist sie so nah, so greifbar, dass er meint, er könnte sie anfassen. Dabei sieht er eine Illusion, denn in dem Dilemma seiner selbst, kann er nicht erkennen, dass es unmöglich ist, unschuldig zu sein.
Meist bekommt der die Schuld, der sich am schlechtesten verteidigt.
Was aber wäre, wenn gar niemand schuld ist, wenn es Kräfte gäbe, von denen wir so viel Ahnung haben, wie der Baum von der Fortbewegung?
Schuld ist eine mächtige Motivation. Bei manchen Menschen die stärkste überhaupt. Anderen hingegen gelingt es ganz und gar, sie von sich zu weisen.
Man kann sie weitergeben, jemandem zuschieben, dann ist sie man los. Man kann sie abtragen, langsam und mühselig Buße tun. Und während wir büßen, laden wir neue Schuld auf.
Es ist in jedem Falle ungesund, sich überhaupt Schuld zu geben.
Ein bedeutender Mann hatte einst versucht, uns dies näher zu bringen, mehr noch, er wollte die Schuld der Menschen mit sich nehmen, damit wir sie los sind. Doch der Mensch ist stur, wenn es darum geht, seines Gleichen büßen lassen zu wollen.
Die Schuld frisst uns auf, sie wirft uns in den Dreck und sagt uns, wir wären böse, dumm, würdelos. Sie zerfleischt die inneren Werte, die Freude, die Liebe und die Zuversicht. Wir werden vom Leben getrennt, ziehen uns zurück, gefangen in uns selbst.
Gut, dass das Leben immer Neues mit sich bringt, auch wenn es Berge von Anstrengungen sind. Das hilft uns zu vergessen. Im Vergessen liegt die Vergebung uns selbst gegenüber. Es ist ein inneres Gleichgewicht da, welches einesteils dafür sorgt, dass wir aus Fehlern lernen, anderen teils, immer wieder aufs Neue Gras über die Sache wachsen lässt.
Zu guter Letzt hilft uns der Verstand bei der Überwindung von Schuld: Was macht es für einen Sinn, sich ständig die alten Verbrechen vorzuwerfen? Wem ist dadurch geholfen? Das macht ja alles nur noch schlimmer.
Diese Argumente leuchten ein; ja, sie leuchten uns den Weg ins Licht. Denn nur wenn wir im Licht sind, können wir uns annehmen, so wie wir sind. Wären wir ohne Schuld, so wären wir wie Maschinen. Leben heißt fehlerhaft sein, Dummheiten machen, alles über den Haufen werfen und neu anfangen.
Doch das Hin und Her von neuem und altem Leben ist schon sehr verwirrend.
Menschen wie Nadja schaffen es nicht, mit sich ins Reine zu kommen. Es ist, als säße ein kleines Teufelchen in ihrem Ohr, das ihnen immer und immer wieder vorwirft, was sie falsch gemacht haben. So wandeln sie durchs Leben mit der Gewissheit, immer schuldig zu sein. Ihre Mitmenschen sehen es ihnen an, sie glauben ihnen. Wer sich selbst schuldig fühlt, wird automatisch überall zum Sündenbock gemacht. Nun ist es nicht nur das eigene Teufelchen, welches klar macht, wie schlecht sie sind, sondern auch noch die allumfassende Umwelt.
Wo ist für Menschen wie Nadja das Lebensglück? Je tiefer sie in sich graben, je öfter sie nach dem ‚Warum’ fragen, desto weiter entfernt es sich.
Wer also hilft ihnen, wenn doch niemand mehr an sie glaubt?
Die Sache ist klar: Sie brauchen Hilfe vom Fachmann.
Robin
Dr. Robin Hoffmann ist so ein Fachmann, ein Psychologe der besonders begnadeten Art, könnte man sagen.
Mit gerade mal achtundzwanzig Jahren hat er seinen Doktor der Nervenheilkunde gemacht. Seine Doktorarbeit wurde bekannt im Kreise seiner Kollegen, in der er das Thema der ‚anerzogenen Schuld’ beschreibt. Doch Robin hielt niemals wirklich viel von Medizin überhaupt, deshalb vertiefte er im Anschluss an diese weitreichende akademische Ausbildung die Themen Psychologie und Soziologie.
Seine erste Anstellung erhielt er zwei Jahre später sehr bescheiden im Jugendamt München West. Dort hatte er mit straffälligen Jugendlichen zu tun. Dieses Thema war ihm nicht unbekannt. Schon als er selbst ein Kind war, erregte das Schicksal vernachlässigter Kinder tiefstes Mitgefühl in ihm. Er konnte es einfach nicht sehen, wie manche Kinder von ihren Eltern gedemütigt und ignoriert wurden.
Dass er diesen dünn bezahlten Job beim Amt annahm, hatte allerdings eher mit seinem Vater zu tun. Herr Dr. Konrad Hoffmann, führender HNO Professor im ‚Krankenhaus Rechts der Isar’ in München, hatte sich immer einen Sohn gewünscht, der es ihm gleich tat. Er steckte Erwartungen in Robin, die er niemals erfüllen wollte. Nun hatte er sie dummerweise tatsächlich erfüllt, deshalb wollte er dem entgegen steuern.
„Siehst du, mein Sohn, es hat sich doch für dich gelohnt, so einen Vater zum Vorbild zu haben“, sagte er zu Robin, als sein Doktortitel in der Familie gefeiert wurde. Robins Hand machte eine Faust, wollte er doch gerade nicht so werden, wie sein Vater.
Dr. Konrad Hoffmann ist ein Vollblutarzt, nur die Medizin im Kopf, nicht die Menschen. Für ihn ist ein Patient so etwas wie für den Kfz-Mechaniker ein Auto. Für Robin hingegen ist jeder Mensch etwas Zartes, Verletzliches, absolut Individuelles. „Über ein Lebewesen kann man nicht einfach in einem Buch nachschlagen“, so seine Worte.
Im Grunde hatte Robin diese ganze Ausbildung gemacht, um seinem Vater zu zeigen, was es heißt, Menschen wirklich helfen zu wollen. Seine Mutter sagte, er habe das Helfer-Syndrom. In diesem Satz steckte sicherlich einige Wahrheit, doch in erster Linie hatte Robin gewonnen, weil der Vater zutiefst verärgert war als der Sohn im Amt arbeitete.
Nach circa zwei Jahren, im November 2022, fühlte sich Robin zu sehr eingeschränkt in seinen Entscheidungen. Also beendete er seinen Dienst und machte mit einigen Schulden eine kleine psychotherapeutische Praxis in Gröbenzell, einem Vorort von München, auf.
Er hatte einen angenehmen Start, denn er stand mit seinem alten Arbeitgeber auf gutem Fuß, der ihm gerne ein paar schwierige Fälle zukommen ließ: Minderjährige, wiederholt straffällig geworden, die Unverbesserlichen, sollten bei Robin lernen, das Leben freundlicher zu sehen.
Es war niemals einfach, denn sie kamen nicht freiwillig zu ihm. Für seine jungen Patienten schien Dr. Robin Hoffmann fürs Erste so etwas wie ein Polizist zu sein, der sie aushorchen will, was sie alles auf dem Kerbholz haben. Doch Robin erwies sich als geduldig, denn er hatte nicht nur einen Job, er wollte wirklich helfen, mit seinem Herzen.
Abends kehrte er zurück in eine kleine, schmuddelige Wohnung, in der er sehr einsam war. So war er durchaus glücklich, als ihm die Ehre zu Teil wurde, von seiner Großmutter zwei Aras zu erben. Die Vögel machten sein Zuhause bunter.
Im Dezember 2026
Dr. Robin Hoffmann hatte sein Kinn auf die Tischplatte gelegt und betrachtete still die Lichter des Adventskranzes. Fast lebendig wirkten diese Flammen, strahlten aber Ruhe aus.
Das war es, nachdem er sich den ganzen Tag im Laufe der Anstrengung gesehnt hatte. Nun war es finster, er war daheim, alles war vorbei, alles war gut.
Die Kerzen hielten einen frechen großen Vogel davon ab, auf Robins Schulter zu fliegen. Doch sollte Karlchen anfangen ungeduldig zu schimpfen, würde Robin besser das Feuer löschen, denn er hatte keine Lust auf eine weitere Beschwerde der Nachbarn wegen Papageien-Geschrei.
Die Ruhe dauerte Gott sei Dank an, deshalb fielen Robins Augen zu. Er sah, wie sich diese Welt auftat, in der man sich so leicht anfühlt, die aber bedrohliche Ereignisse mit sich bringen kann, die Welt der Träume.
So stürzte nun seine junge Patientin Renata Nadja Silberbach in einen Abgrund, Robin stand dabei und sah nur zu. Dann lief er davon, lief und lief, etwas verfolgte ihn. Auch er fiel ins Tal, doch er konnte fliegen, ein herrliches Gefühl, schwerelos. Deshalb vergaß er die Sache mit Nadja und blickte einem Raben ins Gesicht. Dessen Augen wurden heller, die Pupillen verengten sich, die Federn begannen zu schillern. Er erkannte ihn: Es war Karlchen, der ihm ins Ohr schrie.
Robin schnellte hoch, der Vogel flatterte herum und blies dabei die Kerzen aus. Als Robin sich der Geschehnisse bewusst wurde, musste er lachen.
„Du hast es also geschafft! Ganz schön mutig für so einen Vogel, muss ich schon sagen“, sprach er und streckte den Arm aus, damit Karlchen darauf landen konnte.
„Wenn das Leben nur nicht so anstrengend wäre!“, sagte er zu dem Tier. „Ich denke, ich sollte vorsichtig sein, dass ich mich nicht verirre in den Gefühlen meiner Schützlinge. Reicht ja schon, dass ich euch Vögel viel zu schlecht versorge.“
Gefühle. Die sind nicht so Robins Stärken, könnte man sagen, denn die verbeißt er sich normalerweise. Sein Beruf bringt es mit sich, mit Gefühlen zu arbeiten, sie aber nur geliehen zu bekommen.
Einfühlen und verstehen, das muss man beherrschen, doch man darf sich nicht beherrschen lassen von den Emotionen, nicht von denen der Patienten und schon gar nicht von eigenen.
Das Haus, in dem er wohnt, ist geographisch gesehen nicht einmal einen Kilometer von der Praxis entfernt, doch in Wahrheit, in dieser Wirklichkeit, die zählt, mussten es Tausende und Aber-Tausende sein. Wenn er dieses Haus verließ, dann sperrte er die Türe ganz fest zu, damit ihn nichts verfolgen konnte von dort.
Zehn Jahre später.
Es hatte sich kaum etwas verändert in Robin Hoffmanns Leben. Er hatte sich verbessert, sicher. Seine Praxis war größer, seine Papageien zogen jetzt auf den Kanaren ihre Kreise und er dachte oft an alte Zeiten.
Diese Leute von damals, als Nadja seine Patientin war, die gingen ihm nicht aus dem Kopf. Was war das doch für eine Zeit! Er war verliebt, das einzige Mal so richtig, doch er hatte sich für seinen Beruf entschieden.
Gefühle waren eben verboten für ihn.
Dennoch ließ ihn die Erinnerung an diese jungen Menschen nicht los. Immer tauchten sie in seinen Träumen auf, es quälte ihn eine herrschsüchtige Sehnsucht nach der Vergangenheit.
Auch diese Nacht hatte er wieder geträumt von Steffen Hartmann, so wie er war, als er ihn kennenlernte, gerade mal zwanzig Jahre alt.
Robin ging um sieben Uhr aus dem Haus, drehte den Schlüssel dreimal um, machte sich zu Fuß auf den Weg zur Praxis. Die frische Luft tat gut am Morgen, auch die Finsternis. Nebeliges Dunkel, das ließ ihn immer denken an jene Nacht, in der er die Menschen, die Nadja zur Hilfe kamen, zum ersten Mal sah.
Er wusste nicht, weshalb er sich so erwärmt hatte für diese Teenager, sie waren eine ganze Generation jünger als er. Was sollten sie also gemein haben? Vermutlich war es dieses mysteriöse Abenteuer, welches sie auf ewig verband.
Längst waren sie ihre eigenen Wege gegangen. Nadja hat geheiratet, ein Kind bekommen, soviel er wusste. Sie hielt sich in USA auf. Felix Jung wohnte in Schwabing mit so einem komischen Snob zusammen. Und Steffen...
Er durfte gar nicht an Steffen denken, denn da bekam er ein schrecklich schlechtes Gewissen. Robin hatte sich nie gemeldet bei ihm. Längst hätte er ihn besuchen kommen sollen, viele Freunde hatte er sicher nicht mehr.
Doch wo sollte Robin die Zeit hernehmen so weit zu reisen? ‚Dumme Ausreden!’, warf er sich vor. Wozu gibt es moderne Kommunikation? Wieso rief er ihn nicht an?
Weil er sich schämte? Wenn er anrief, sollte er dies audio-visuell tun, doch wie würde Steff wohl aussehen? Wäre er noch so attraktiv wie damals? Wohl kaum! Die Krankheit hatte ihn sicherlich sehr verändert. Und dann war da noch das Problem, dass sich Robin nicht traute, überhaupt mit ihm zu sprechen. Ausgerechnet er! All seine Patienten brachte er irgendwann dazu, solche Komplexe zu überwinden, nur sich selbst nicht.
Wie auch immer, tief in seinem Inneren wusste er, dass Verdrängung ihm nicht helfen würde. Auch wenn er eine Begegnung mit Steffen Hartmann hinausschieben konnte, so würde er sie dennoch nicht verhindern können. Eines Tages würde er ihm in seine Augen blicken müssen. Sicher war das richtig so; mit seinem Schicksal kann man hadern, aber man kann ihm nicht entkommen.
Auch eine Person seines Alters tauchte in diesen Träumen auf, denn sie war damals mit von der Partie: Nadjas Mutter. Doch an die war ja sowieso nicht mehr heranzukommen, bei dem Karriereaufstieg...
Das Jahr 2029,
Der Eckstein
In Sri Lanka wurde Mira Silberbach durch einige Wunderheilungen bekannt. Im Alter von 42 Jahren hatte sie ihre erste große Vision und rettete damit einem ganzen Volk das Leben. Im Nachhinein wusste niemand mehr weshalb, aber die Menschen hörten auf sie, als sie von einem bevorstehenden Erdbeben berichtete, sich wie eine Wahnsinnige den Weg in den Fernsehsender bahnte. Die Seismologen bestätigten, was sie sagte, mit einer Wahrscheinlichkeit von 5%. Diese 5% reichten aus, um eine großflächige Evakuierung in die Wege zu leiten. Nicht die Entscheidung der Regierung war dafür verantwortlich, sondern der Glaube des Volkes an Miras Prophezeiung. Durch eine unkontrollierte Massenflucht aus Hongkong wurde die Regierung praktisch dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.
Dies war Miras Durchbruch. Der große Prophet der Neuzeit war geboren: Mira Silberbach.
Im Mai 2037
Die große Mira Silberbach stand vor ihrem Konfirmationsbild vom Juli 2001.
Sie fragte sich: Wer war dieses Kind? Warum fühlte es so? Damals war Mira ganz und gar nicht mit sich zufrieden und was kann ein Kind schon ändern?
Sie war ein eigenartiges Mädchen. Man sah es ihr an: Sie machte alles falsch. Ein stiller Typ, nichtssagend, eigentlich eher unauffällig, dennoch fiel sie überall unangenehm auf, denn sie machte nichts Bestimmtes verkehrt, sondern einfach alles. Es stand ihr im Gesicht geschrieben, ihre Unsicherheit, orientierungslos vergaß sie stets von einer zur anderen Sekunde, was sie eigentlich vorhatte zu tun. Scheinbar schwebend schritt sie durch diese Welt. Ihre Umgebung mit all den Menschen war ein einzig verschwommenes Meer an Lebensraum, der nicht für sie bestimmt war.
Was war anders an ihr? Was war nicht anders an ihr? Nichts!
Immer war sie unpassend gekleidet oder benahm sich daneben. Bei ihrem verzweifelten Versuch, es ihren Mitmenschen gleichzutun, scheiterte sie stets. Wie schafften die das nur? Warum kamen sie miteinander zurecht, aber nicht mit ihr? Weshalb wusste Mira die einfachsten Dinge nicht und warum wollte ihr niemals jemand helfen? Lebensunfähig war sie und allein gelassen, sie war einsam wie der Tod.
Doch sogar an den Tod gewöhnt man sich irgendwann. So gelang es ihr, trotz alle dem zu lächeln, wenn die Sonne schien, die Bäume zu blühen begannen, wenn ein Vogel ein Lied anstimmte, der Bach sein musikalisches Plätschern von sich gab. Dies war es überhaupt, was Mira akzeptierte, es fragte nicht nach Kleidung oder Worten, es war da, nicht nur für alle anderen, auch für Mira, vor allem für sie.
Ein Einsiedler, der nichts vom Leben kannte, der seinen Schatz woanders hat. Hätte ihr das gereicht, hätte sie sich so akzeptieren können, so hätte sie ein glücklicher Mensch sein können. Es gab aber eine Stimme in ihr, die ihr Sekunde um Sekunde zuflüsterte: „Du bist ein Mensch und Menschen brauchen andere Menschen“.
Ja, Freunde wären gut gewesen für sie. Die Liebe aber findet man nicht, wenn man sie sucht, die bekommt man nur geschenkt.
Miras erwachsenes Wesen war immer noch wie das des Kindes auf dem Bild, aber ihr Status hatte sich komplett gewandelt: Sie war nun eine Größe ihrer Zeit. Die ganze Welt kannte sie, rund um den Globus sah man ihr Bild.
Der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, war zum Eckstein geworden.
Genauso wie in der Zeit vor ihrer Berühmtheit, umriss sie auch in dieser Lebenssituation im Grunde überhaupt nicht, worum es ging.
Sie stand am Fenster, blickte in den Hof und weinte. Eben hatte sie die Eröffnungsrede des neuen christlichen Begegnungszentrums in Berlin vermasselt. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Derartiges widerfuhr, doch wenn sie daran dachte, wurden ihr die Knie weich.
Im Hof spielten ein paar türkische Kinder miteinander. Zwei Jungs hatten den Mädchen die Kreiden weggenommen, ein Streit brach aus und das kleine Geschwisterchen im Buggy fing zu weinen an.
Es klingelte an Miras Tür, zum zweiten oder dritten Mal. Jetzt erst drehte sie sich um. Es war nicht so, dass sie es überhört hätte, sie hatte es nur nicht registriert.
Ihre Tochter war es gewohnt.
„Hi“, sagte Mira geistesabwesend und ließ sie ein.
Sie umarmten sich.
„Wie geht es dir?“, wollte Renata Nadja Silberbach wissen.
Mira strich ihr über den Kopf.
„Dein Haar ist seidenweich“, sagte sie.
„Das ist wirklich sehr nett von dir, das zu sagen“, meinte Renata lustig, aber in ihrem Inneren wurde klar, dass die Mutter mal wieder sehr daneben war, das machte ihr Angst. Ein ganzes Jahr lang war sie in Amerika gewesen, nun sahen sie sich wieder. Sie hatte gehofft, ihre Mutter wäre etwas fideler nach ihrer Kur, aber anscheinend war es eher schlimmer geworden. Wie lange würde es noch dauern, bis sie gar nichts mehr mitbekam?
Mira aber war plötzlich etwas zu sich gekommen, ihre Gedanken schienen sich zu bündeln.
„Setze dich doch mein Schatz“, sagte sie zu Renata und legte ein Kissen auf die Seite, „ich hole uns etwas aus der Küche.“
„Danke Mami“, sagte Renata lächelnd.
Sie dachte an ihre Kindheit. Da war sie ein Mädchen, dessen Mutter selbst dachte und fühlte wie ein Kind. Sie hatte sie niemals vor etwas schützen können, Renata kannte schon früh Verlorenheit und Angst. Dieses Gefühl stellte sich nun wieder ein in ihr Herz, es erfüllte sie über und über. Doch die Unzulänglichkeit der Mutter sei ihr verziehen, denn dass sie eben doch ihre Mutter war, zeigte sich ja in späteren Tagen.
Mira kam mit Keksen und Sprudel zurück. Es waren Eiswürfel in den Gläsern und Kirschsirup stand dabei, so wie sie es immer liebten zu trinken. Als Mira aber einschenken wollte, zitterte ihr die Hand so stark, dass sie ihr Vorhaben aufgeben musste.
„Lass' nur, Mami“, sagte Renata und bereitete die Drinks zu.
Renata musterte den Blick ihrer Mutter. „Ist etwas Mami? Komm' schon, was ist passiert?“
Mira stand auf, ging ans Fenster. Sie holte so tief Luft als wäre sie gerade aus dem Wasser aufgetaucht. Hatte sie vergessen zu atmen?
Doch dann sagte sie nichts mehr, ihr war entfallen, wie sie anfangen wollte. Sie beobachtete, wie zwei Mädchen verzweifelt versuchten, einem lachenden Jungen zwei Kreiden zu entreißen, während zwei andere große Jungs locker an der Wand lehnten und auf ihren Einsatz warteten. Das Baby weinte.
Sie hatte schon wieder vergessen zu atmen. Renata war an sie herangetreten.
„Was ist passiert, Mami?“
„Ich... ich will nicht darüber reden“, sagte sie.
„Gut“, willigte Renata ein, „dann setz' dich doch wieder zu mir.“
Nun war ein Mädchen zu dem Baby gegangen, so hatte es das andere mit drei Jungs zu tun. Sie fing an zu kratzen und zu beißen. Es floss Blut.....
Plötzlich floss Blut, dabei schossen Bilder der Vergangenheit an Miras Augen vorbei: Im Wald dieser Mann, dann der Abend mit Mike, ein Überfall auf dem Heimweg, daraufhin folgten die aufreibenden Bilder eines Kampfes um Leben und Tod ihrer Tochter. Danach Blut, Tod, Leid, Soldaten, Schüsse, Gewalt...
Renata fasste sie an, Mira zuckte zusammen, sie fühlte sich, als wäre sie in die Tiefe gestürzt. Da aber erkannte sie wieder, wo sie war und was mit ihr geschah. Schnell blickte sie aus dem Fenster: Der Hof war leer, das Spiel war vorbei. Was war geschehen mit den Kindern?
„Mami, was ist denn los mit dir?“, fragte Renata.
Die Tochter ärgerte sich, dass es so ablief. Konnte sich ihre Mutter nicht einmal zusammenreißen? Mussten sie sich so wiedersehen, nach einem ganzen Jahr der Trennung?
Mira kullerte eine Träne über die Wange, dann sagte sie: „Ich habe die Rede vermasselt.“
„Wieso, was ist passiert?“, fragte die Tochter.
Bevor Mira den Mund auftat, klingelte es an der Tür. Sie eilte so schnell dort hin, als käme die Ablenkung gelegen. Da standen zwei Herren in Schwarz. Sie sahen sehr steif aus, wie jemand, den man nicht gerne ins Haus lässt. Renata betrachtete sie durch den Spion.
„Schick' sie jetzt weg Mama, ich muss mit dir reden, dringend.“
Mira machte die Türe auf. Ein kleiner Mann lächelte sie an und drückte sie kurz an sich. Sein Gesicht leuchtete.
„Oh, Frau Silberbach, wir haben uns solche Vorwürfe gemacht. Wie geht es Ihnen denn jetzt?“
„Tut mir leid“, sagte Mira zu Renata, sie ließ die Männer ein, „nur kurz“.
Renata musterte ihre Mutter vorwurfsvoll.
„Herr Dr. Eberts und Herr Pfarrer Dürrmat, darf ich Ihnen meine Tochter Renata vorstellen?“
„Angenehm, Renata Silberbach“, sagte die Tochter streng und gab den Herren die Hand.
Die beiden Männer ließen sich über die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter aus, so wie das alle immer tun, doch Renata fuhr ihnen über den Mund: „Es tut uns wirklich leid, meine Herrn, aber ich kümmere mich schon um meine Mutter. Wir haben uns viel zu erzählen, wissen Sie. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie ein andermal.....“
„Aber Renata!“, widersprach Mira, doch die schob sie zurück.
„Natürlich“, sagte der Pfarrer, „entschuldigen Sie, wir wussten ja nicht...“
„Schon gut, ich hoffe Sie halten mich jetzt nicht für unhöflich, aber wir haben uns ein ganzes Jahr nicht gesehen.“
„Ich verstehe“; beteuerte Herr Dr. Eberts mit einem monarchischen Unterton, „ich selbst habe meinen Sohn seit Jahren nicht mehr getroffen.“
„Wie schrecklich“, sagte Renata patzig, dann verwies sie die beiden der Tür.
„Ist dir klar, mein liebes Kind, dass du eben dem Bürgermeister von Berlin die Tür gewiesen hast?“, sagte Mira besorgt.
Renata lächelte: „Bist nicht du diejenige, die immer allen Leuten klar zu machen versucht, dass es keine Unterschiede zwischen den Menschen gibt?“
Nun musste Mira lachen. „Du hast Recht, Renata, das darf man nie vergessen.“
Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände: „Eben habe ich mich so elend beschämt gefühlt, jetzt aber, seit du da bist, geht es mir einfach wunderbar.“, sprach sie freudig aus.
„Was ist passiert bei der Rede, Mami?“, wollte Renata wissen.
„Ich lag am Boden. Es kamen Sanitäter, den Rest kannst du dir denken; vor Millionen von Leuten...“, Mira zitterte.
„Du bist also ohnmächtig geworden. Wieso hast du dann die Rede vermasselt?“, fragte die Tochter weiter nach.
„Weil ich weggetreten war, du weißt ja, ich habe wieder wirres Zeug geredet“, ihre Unterlippe zuckte.
„Hast du selbst gewusst, wovon du sprichst in dem Moment?“
„Ich kann es kaum erklären, es betrifft mich selbst, es hatte nichts mit den Leuten zu tun.“
„Aber Mami, das wissen die Leute doch, dass das passiert. Deshalb bist du berühmt geworden, weil du Prophezeiungen machst, weil du Dinge tust, die niemand begreift. Du bist ein Prophet und Propheten sind so, waren sie immer schon. Du trägst keine Schuld daran, es nimmt dir auch niemand übel, das muss dir eigentlich inzwischen klar geworden sein!“
„Meine Visionen sind nicht mehr für die Allgemeinheit. Sie betreffen in letzter Zeit nur noch mich persönlich!“
„Dann solltest Du vielleicht nicht mehr auftreten, oder?“
„Was sagst Du denn da?“
„Wie wär’s mal mit Urlaub?“
„Das geht doch nicht schon wieder. Ich bin eben erst drei Wochen von der Bildfläche verschwunden, ich kann nicht wieder fehlen!“
„Das war aber kein Urlaub, oder?“
„Erholung.“
„Wie wäre es mit einer Abenteuerreise? Ich lade dich auf einen Urlaub ein, den du nicht vergessen wirst!“
Mira lachte. „Du kannst doch genauso wenig weg wie ich!“
Renata nahm Miras Hand und legte sie in die ihre. Diese Hand war etwas geschwollen, sie fühlte sich heiß an, die Haut gespannt. Mira Silberbach war nun 50 Jahre alt. Man würde sie vielleicht für etwas jünger schätzen, Mitte vierzig, doch sie sah so merkwürdig aus wie eh und je.
Renata musterte die Kleidung ihrer Mutter. Beinahe hätte sie gefragt, ob sie heute tatsächlich in diesen Klamotten vor all den Leuten aufgetreten ist, doch sie wusste die Antwort ohnehin. Wieso konnte sie nicht sehen, dass man eben so alt ist, wie man ist?
Sie wäre nicht gerne jünger als sie ist, nein, das war nicht das Problem. Das Problem war, dass sie nicht daran dachte, dass sie ja schon fünfzig ist.
„Doch. Ich habe das so organisiert.“, widersprach Renata.
„Was hast du organisiert?“
„Ich will unbedingt mit dir auf Reisen gehen, unbedingt!“
Sie drückte Miras Hand ganz fest, so als wollte ihr Griff sie zu etwas zwingen.
Mira registrierte die Furcht, die Renata hatte, dass ihr Vorhaben scheitern könne. Etwas entgeistert blickte sie in Renatas Augen. Mira hatte die Gabe, die viele Menschen haben, oft ohne es zu wissen: Sie konnte durch die Augen der Menschen erkennen, was sie fühlen und denken. Deshalb sah Renata jetzt weg.
„Vertraust du mir nicht?“, fragte Mira, als Renata ihrem Blick entfloh.
Diese ließ sie los, stand auf und ging ans Fenster.
„Vertrauen; bedeutet das, dass man dem Anderen immer alles sagen muss oder dass man ihm seine persönliche Freiheit lässt?“
Mira sah traurig zu Boden. Wohl wahr, diese Worte, aber auch Mira hatte Recht mit dem zweifelhaften Vertrauen. Das Beste wäre es jetzt, nach Renatas Reiseplänen zu fragen, Mira tat es aber nicht, wollte sie ja keinesfalls verreisen. Das würde sie absolut nicht tun, nicht mal für ihre Tochter.
Renata brach das Schweigen: „Ich habe mit Papa gesprochen.“
Mira sprang auf, drehte sie an der Schulter zu sich her: „Was? Wirklich?!“, fragte sie überrascht, „was.., was hat er denn gesagt oder warum...?“
„Es war nicht einfach, Mami. Er wollte mich nicht sehen. Dass er mir überhaupt zugehört hat, das lag nur daran, weil er hoffte, er würde über mich wieder an dich ran kommen.“
„Und warum...?“
„Eben! Das ist die Frage. Warum hasst er mich so? Ich sollte doch diejenige sein, die ihn nicht sprechen will. Bin ich ja auch, aber ich wollte etwas in Erfahrung bringen, deshalb habe ich ihn aufgesucht.“
„Wie geht es ihm?“, fragte Mira, ihre Hand zitterte wieder.
Renata sah auf die zittrige Hand und nahm sie. „Da brauchst du dich nicht so aufzuwühlen, Mami, es geht nicht um ihn.“
„Was redest du?“, wollte sie wissen.
„Es nervt, Mami, dass du ein Prophet bist, das, so denke ich, weißt du. Aber ich mache dir keine Vorwürfe. Was kannst du denn schon dafür? Es ist ein Privileg, aber es ist auch anstrengend. Ich hätte mir gewünscht, wir wären normaler.“
„Wie kommst du jetzt darauf, Renata? Ich dachte wir reden über deinen Vater.“, entgegnete Mira etwas amüsiert, „was wolltest du wissen von ihm?“
„Was er weiß über mich, was ich nicht weiß.“
„Mehr als ich es tue, kann er nicht wissen über dich, denke ich“, sagte Mira etwas beleidigt.
„Meine nicht, du wärst die Einzige in der Familie, die sieht in eine andere Welt!“
„Heißt das, du hattest Visionen?“
„Albträume, schreckliche. Die sind so gigantisch, dass sie nicht aus meinem Kopf kommen können, die kommen aus einer Wirklichkeit, die ich nicht kenne. Und dem will ich ein Ende setzen, ich will wissen, was dahinter steckt. Hilfst du mir dabei?“
Mira fröstelte. Eine alte Furcht tauchte auf. Es gab Ärzte, die hatten bei Mira eine Geisteskrankheit diagnostiziert, Schizophrenie. Dieses Leiden ist erblich. Miras Vorhersehungen können zwar nicht nur Schizophrenie sein, nein, aber vielleicht ist die Krankheit ja erst entstanden. Diese Eingebungen ständig, immer wieder, die sind nicht für einen Menschen geschaffen, da musste ja etwas passieren. Es könnte sein, dass nur schizophrene Leute mit Gott in Kontakt treten können. Renata könnte es geerbt haben. Mira drückte sie besorgt an sich.
„Das tut mir leid, mein Schatz“, sagte sie.
Renata lachte, hielt sie von sich weg: „Mami, es gibt eine Lösung für das Problem, da bin ich sicher.“
„Warst du schon beim...“
„Nein, ich war nicht beim Doktor! Das ist keine Krankheit. Diese Veranlagung hab’ ich vielleicht von dir geerbt, meine Visionen sind aber anders. Vor allem drehen sie sich um die Vergangenheit, nicht um die Zukunft.“
„Aber deine Vergangenheit ist doch bekannt.“
„Ich meine nicht meine Erziehung“, sagte Renata, dachte etwas verbissen ‚welche Erziehung?’, „Ich meine etwas, was noch viel weiter zurückliegt.“
Mira fasste sie an, ein starker Griff. „Du glaubst doch nicht etwa, du wärst schon mal hier gewesen?!“
Mira hasste dieses Thema. Sie verurteilte in der Regel keinerlei Art von Glauben, nicht die Moslems, die Juden oder die Zeugen Jehovas, doch den Glauben an die Re-Inkarnation hatte sie stets aufs Ärgste bekämpft.
„Doch das tue ich“, sagte Renata und schluckte. Sie fürchtete sich vor den Worten, die nun fallen würden, aber Mira wollte ja, dass Renata ihr alles sagen kann.
„Renata, mein Kind, mein eigenes Kind!“, stieß Mira aus.
Sie legte die Hand auf die Brust, bekam erneut Probleme mit der Atmung.
„Hast du dir mal überlegt, weshalb du so aggressiv darauf reagierst? Dieses Thema macht dir Angst. Warum macht es dir Angst?“
„Quatsch!“ stieß Mira aus, „es ist einfach Quatsch, deshalb!“
Sie war sehr laut, für Miras Verhältnisse viel zu laut.
„Okay, ist ja gut. Sei es Quatsch. Dann blicken wir eben in die neuere Vergangenheit, in die Zeit, als du meinen Vater kennen gelernt hast zum Beispiel.“
„Du weißt alles darüber, Renata, ich habe dir nichts verheimlicht, aber ich erzähle es dir noch einmal, wenn du möchtest.“
„Ja, ich will“, sagte Renata.
Da hallten diese Worte plötzlich laut in Miras Kopf wider.
„Ja, ich will“, wiederholte Mira und starrte ins Nichts.
Renata kicherte, „klingt wie vorm Traualtar, nicht wahr?“. Auch Mira hatte das so vernommen, doch für sie war es nicht witzig.
Renata hatte die selbe Stimme wie Mira damals, es waren die gleichen Worte. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Kopf, diese Erinnerungen machten sich so breit, als würde genau dies Vergangene eben stattfinden.
„Ja, ich will“, sagte Mira Schweiger im September 2005 vor dem Traualtar. Mit der Aussprache der Worte kamen schreckliche Kopfschmerzen. So schön das Fest auch war, der Schädel brummte so stark, so unaufhörlich, als ob eine Sirene losgegangen wäre.
Nichts desto Trotz war sie an diesem Tag überglücklich, dass sie ihren Michael geheiratet hat, obgleich sie ahnte, tausend kleine und große Zeichen sah, die ihr sagten: „Das waren die falschen Worte“.
Hätte sie damals schon ihrer Fähigkeit, Zukunft erkennen zu können, zugestimmt, so hätte sie die Warnung verstanden.
Ach, sie wusste es ja, doch sie wollte es nicht wissen. Sie war noch viel zu sehr damit beschäftigt, so sein zu wollen, wie die anderen Leute und nicht so, wie sie eben ist.
Wäre aber diese verfluchte Ehe nicht zustande gekommen, dann gäbe es heute keine Renata Nadja Silberbach, oder?
Renata merkte, dass die Klarheit in Miras Kopf zu weichen drohte und redete schnell weiter: „Mami, ich möchte die Geschichte hören, als du Mike zum ersten Mal gesehen hast.“
Mira blickte auf: „Mike. So hast du ihn nie genannt.“
Renata schüttelte den Kopf, „Sorry Mami, ich wollte sagen, dass ich,... ich meine meinen Vater natürlich.“
„Damals, als ich ihn kennen gelernt habe, da hieß er Mike, jeder nannte ihn so. Er heißt ja Michael, doch niemand nannte ihn jemals so, er war immer Mike.“
„Ja, Mami, wahrscheinlich deshalb, ich habe an diese Geschichte gedacht, da floss der Name so mit ein, sicher deshalb.“
Renata war sich sicher, dass dem nicht so war. Als sie mit ihrem Vater darüber gesprochen hatte, wurde das noch klarer: Sie kannte Mike schon bevor sie geboren wurde. Es gab ein Leben vor dem Leben. Merkwürdigerweise wusste ihr Vater etwas darüber, viel mehr als sie selbst und Mira. Doch er rückte nicht raus damit. Wahrscheinlich, weil er zwischen zwei Gefühlen stand: Er hasste und liebte seine Tochter. Warum er sie liebte war klar: Sie ist seine Tochter. Aber warum er sie hasste, das hing mit diesem anderen Leben zusammen.
Renata wollte ihre Mutter nicht erneut damit konfrontieren. Im Grunde war Mira zwar schlecht fähig, richtig zornig zu werden, es gab aber ein einziges Thema, welches sie aus der Fassung brachte. Ausgerechnet dies schnitt Renata an, nach einem ganzen Jahr der Trennung. Renata wollte sie nicht verletzen, sie wollte nur die Wahrheit.
„Okay“, sagte Mira, sie setzten sich eng nebeneinander auf die Couch. Mira lächelte. Diese Geschichte erzählte sie gerne, denn das war ein sehr glücklicher Moment.
Die Brücke
Anna
„Ich war mit Anna am See. Anna war meine einzige Freundin, du kennst sie ja“. Mira drückte Renatas Hand, sie lächelte so tief, dass Renata diese Freundschaft spüren konnte.
„Ich hatte ein Buch gelesen, war aber in der Hitze darüber eingeschlafen. In meinen Träumen wurde ich geküsst von dem Helden der Geschichte, einem schönen dunklen Mann. Im Flimmern der Sonne erlebte ich einen Rausch an Gefühlen. Plötzlich schreckte ich hoch, denn es war jemand zu mir gekommen.
Ich riss die Augen auf, versuchte erst mal meine Sinne wiederzufinden, denn in der heißen Glut der Hochsommersonne war ich ganz benebelt.
Und was sah ich? Das Gesicht eines dunkelhaarigen Jungen mit einer langen Nase und rohen Gesichtszügen. Ich dachte schon, meine Träume spielten mir einen Streich, doch dieses Bild war echt. Er war der Traum von einem Jungen; was sage ich, er war schöner als in meinen kühnsten Träumen. Und was er dann sagte... “
„Was sagte er, Mami?“, fragte Renata, obwohl sie diese Geschichte schon kannte.
„Er sagte: ‚Mira, da bist du ja’.“
„Woher kannte er deinen Namen?“
„Keine Ahnung, er wusste ihn, das war ja das Faszinierende.“
„Hast du ihn nicht gefragt?“
„Doch natürlich.“
„Und was hat er gesagt?“
„Ich weiß es nicht mehr. Er hat mich auf eine Cola eingeladen.“
„Überlege Mami, was hat er gesagt, woher er deinen Namen wusste? Bitte!“
„Die beiden Jungs haben uns schon länger beobachtet, da hat er ihn wohl gehört, als mich Anna rief. Was tut das zur Sache?“
„Papa hat gesagt, er wusste ihn, weil er dich schon kannte, weil er wusste, dass er nur zu dir gehöre und zu niemandem sonst, nur zu dir! Dann ist er bösartig auf mich losgegangen, hat mich am Kragen gepackt und gesagt: ‚Ist das klar?’“
„Hat er dir was getan?“, fragte Mira besorgt.
„Darum geht es nicht. Das heißt, eigentlich doch. Diese Frage scheint entscheidend für dich zu sein.“
„Er ist eifersüchtig auf dich. Er wollte mich für sich allein, nicht mit dir teilen, deshalb dieses Dilemma.“
„Was ist nach der Cola passiert?“
Miras Blick schweifte in die Ferne. Nicht in die Ferne, die es gab, sondern in die Ferne der Vergangenheit, sie fühlte sich ein in das Gefühl von damals:
„Er saß neben mir, seitlich nach hinten versetzt. Wenn er sprach, spürte ich den Windhauch seines Atems. Der roch nach Zigarettenrauch und Cola.
Wir unterhielten uns zu viert. Wenn ich etwas sagte, dann schaute er mich an. Dabei kamen seine Lippen so nahe an die meinen heran, dass sie sich fast berührten. Sanft lächelnd wich ich zurück, doch als er mehr Abstand hielt, da kam ich wieder näher. Er hatte seinen rechten Arm hinter meinem Rücken abgestützt, ab und zu kickte ich möglichst zufällig nach hinten, um seine Haut zu fühlen. Auch sein schwarzes Haar streifte im Gespräch meine Schulter. Es kam zu zarten Berührungen, die aussahen, als wären sie unbeabsichtigt. Mein Kribbeln im Bauch wurde immer intensiver. Ich wartete so sehr darauf, dass er mich wirklich anfassen würde, dass er mich in den Arm nähme, mich küsste, doch er ließ sich Zeit.
Um uns herum wurde die Hitze unerträglich, die Sonne stach auf unsere Körper herab, denn der Schatten hatte unseren Platz verlassen. Längst hätte ich mich eincremen müssen, den Hut aufsetzen, doch ich wagte es nicht, mich von der Stelle zu bewegen, denn ich wollte keinesfalls riskieren, dass sich etwas an unserer Sitzstellung ändert.
Ich kann es jetzt noch riechen, sein schwarzes Haar, es roch nach dem See, nach getrockneten Algen, das ist ein unnachahmlicher Duft. Seine Augen sah ich nicht, stattdessen blickte ich in mein eigenes Gesicht, denn er trug eine Spiegelglasbrille. Ich sah gut aus in diesen Gläsern, schöner als ich mich kannte. Mit diesem Augenblick hatte sich mein ganzes Ich verändert, so merkwürdig das sein mag, diese Tatsache hat sich bestätigt bis an den heutigen Tag.
Bald eine Stunde saßen wir so da und lachten zusammen. Mike lachte eher nicht, er war ernst, undurchschaubar, geheimnisvoll. Jeder erzählte von sich, was er tat, was er vorhatte, wie alt er war, doch auch da hielt sich Mike zurück, er wurde immer stiller. Nicht nur mir fiel das auf. Er interessierte sich wenig für uns Mädchen, er blockte förmlich ab, wenn ich anfing, etwas über mich preis zu geben. Wenn ich sprach, dann kam er wieder ganz nah her, so als wollte er mich küssen, tat es aber nicht. Doch mir verschlug es stets die Sprache. Es war erregend, wie er das machte, er reizte mich damit, das schien er gut zu wissen.“
Renata war ruhig geworden. Die Mutter hatte von dieser ersten Begegnung nicht nur einmal erzählt, doch so hatte sie es noch nie getan. Man konnte fühlen, wie sie damals fühlte, man sah die Bilder vor sich. So sehr Renata ihren Vater verabscheute, sie hätte sich jetzt gewünscht, sie wäre es, die so geheimnisvoll umgarnt wurde.
„Anna und Fred gingen ins Wasser, Mike und ich waren plötzlich allein. Jetzt, dachte ich mir, würde er es endlich tun.. Er legte seinen Mund an meine Wange, hauchte mir Worte ins Ohr. Ich verstand nichts, doch glaubte zu wissen, was er sagen wollte. Als ich aber nicht antwortete, versuchte er es erneut. Er sagte: ..“, Mira stockte, dann fuhr sie mit einem rätselhaften Blick fort: „Warum sagte er das eigentlich?“
Renata fragte nicht nach, sie schwebte gerade auf rosa Wolken und hatte ganz vergessen, was sie ursprünglich wissen wollte.
„Er fragte mich, ob mich heute ein Mann angesprochen hätte. Und ich drehte meinen Kopf zu ihm hin, so dass unsere halboffenen Münder sich endlich kurz berührten. Aber er küsste mich immer noch nicht, er wartete auf die Antwort. Verdattert fragte ich: ‚Welcher Mann?’
Dann küsste er mich.
Es war nicht ganz mein erster Kuss. Irgendwie nicht, aber irgendwie doch. Er war anders als die Küsse, die ich kannte, viel anders. Als ich dabei die Augen schloss, musste ich sie wieder öffnen, denn ich fürchtete, Mike könnte etwas absaugen, etwas von mir rauben, wenn ich nicht den letzten Überblick behalte. Dann musste ich plötzlich Luft holen, der Atem blieb mir fern. Es war sicherlich so überwältigend, wie ich es mir ausgemalt hatte, doch es war gar nicht so einfach.
Ach Renata, mein Kind!“, rief sie aus, fuhr sich mit den Fingern durch das sehr ungepflegt, wie Putzwolle aussehende rot-graue Haar, „wenn ich doch nur wüsste, wie sich das wirklich anfühlt.“
„Wie sich Küssen anfühlt?“, fragte Renata mit einem Lächeln.
„Ja! Wie sich so ein richtiger Kuss der Liebe anfühlt. Nein. Nicht wie er sich anfühlt, nur ob er so ist, wie die Küsse von Michael damals.“
„Das ist wirklich nicht so leicht zu beantworten“, sagte die Tochter amüsiert.
Mira legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich wollte auch nicht, dass du mir diese Frage beantwortest, mein Schatz, ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass ich mir diese Frage schon oft gestellt habe.“
„Vielleicht bräuchtest du Vergleichsmöglichkeiten“, sagte Renata heiter.
Mira lachte auf, „lieb von dir, aber ich denke nicht...“
Renata legte ihr den Finger auf den Mund: „Sag niemals nie.“
Sie schwiegen einen Moment, Mira ging zum Fenster. Sie blickte in den leeren Hof, in dem der gerade aufgekommene, etwas stärkere Wind, ein Papiertaschentuch über den Boden fegte. Es klebte frisches Blut daran, Mira sah sofort weg. Sie wollte verhindern, dass eine weitere Vision kam, doch sie war offenbar nicht schnell genug:
Vor ihren Augen ergoss sich kübelweise Blut. Es floss im Staub des Bodens zu einem Fluss zusammen in ein Abflussgitter. Sie hob den Kopf und sah einen Berg, bald zehn Meter hoch, voller toter Pferde. Fliegen kreisten darüber, über und über. Es stank bestialisch nach Seuche und Tod. Ein kleiner Junge saß inmitten diesem Blutes und wimmerte.
„Wumm!“ Es tat einen gewaltigen Rums und Mira glaubte zu Boden zu fallen.
Einen winzigen Augenblick lang rasten neue Bilder an ihr vorbei, noch mehr Blut, ganz, ganz viel...
Als sie zu sich kam, war sie nicht gefallen, sie stand immer noch am Fenster, ein Blitz erhellte den Raum. Dann ein Donner. Schnell drehte sie sich um. Renata saß ruhig da. Sie trank gerade aus ihrem Glas. Offensichtlich hatte sie nichts bemerkt. Es musste ganz schnell gegangen sein, kaum zu merken. Eine Sekunde, ein Blick aus dem Fenster, nichts weiter.
Mira wollte nicht, dass Renata mitbekam, dass erneut etwas nicht stimmte, also fuhr sie fort zu erzählen:
„Am Abend sind wir auf das Fest gefahren. Die beiden Jungs waren deshalb extra von Seefeld gekommen. Das Brückenfest.“
Sie hielt inne, setzte sich wieder zu ihrer Tochter auf die Couch.
„Mike wollte nicht da hin, absolut nicht, doch Fred konnte das nicht akzeptieren. Immer wieder versuchte er Mike eine Antwort zu entlocken, weshalb sie extra so weit mit dem Fahrrad gefahren wären, um dann nicht auf das Fest zu gehen. Sie hatten beide bereits zehn Euro für Getränke bezahlt. Lange noch redeten alle auf ihn ein, er solle nicht so stur sein, doch er beharrte darauf, er wolle nicht dort hin. Zu Guter Letzt behauptete er, es würde nicht stattfinden, wegen des Wetters. Das war sehr unglaubwürdig, denn wir hatten strahlenden Sonnenschein. Der Wetterbericht hatte Gewitterneigung angekündigt, sagte er. Wir wollten das nicht glauben, aber niemand sonst hatte den Wetterbericht gehört. Und tatsächlich, es gewitterte gewaltig, so wie jetzt ungefähr“
Es donnerte und blitzte, Mira zuckte zusammen bei jedem Donner. Sie fürchtete ihr Herz könnte seinen Rhythmus nicht mehr richtig finden.
„Wo seid ihr hingegangen?“
„Mike ist heim gefahren, Anna, Fred und ich zur alten Eisenbahnbrücke. Doch auch mit dem Fest hatte er Recht, denn es fand nicht statt. Die Leute, die es organisiert haben, hatten wohl auch den Wetterbericht gehört. Als wir dort ankamen, war niemand da. Gespenstisch still war es um die Brücke herum. Sie liegt im Wald an einem Weg. Es ist ein schöner Ort. Anna und ich lagen im Sommer oft auf dem Pfeiler und sonnten uns oben-ohne.“, Mira zwinkerte schelmisch. „Diese Brücke ist hohl innen, es gibt von beiden Seiten Eingänge, verwachsen und schmal. Dieser Wald ist schön, viele Vogelstimmen sind zu hören, das satte Grün des Waldklees schmückt den Boden seit Jahrzehnten. Die Bäume sind in saftigem Laub, ihre alten, dicken Stämme geben dir Halt. Ein Glück, dass diese Bahnstrecke nie gebaut wurde.
So schön es war, so beschwingt wir uns dort immer fühlten, wir ahnten nicht, welche Gefahren an diesem Ort lauerten. Merkwürdig, aber ich wusste es, in mir ahnte etwas, dass die Brücke jemanden verschlingen wollte an diesem Abend. Denn als das Unwetter kam, Anna und Fred sich in das hohle Gemäuer flüchteten, da lief ich davon. Ich rannte und rannte gegen den Wind. Es kam so viel Wasser auf einmal, dass es mir vorkam, als befände ich mich in einem reißenden Fluss, schwimme gegen den Strom. Ich schnappte nach Luft, versuchte mein Gesicht zu schützen.
Etwas zerfurcht kam ich zu Hause an, meine Eltern hatten sich bereits große Sorgen gemacht.
In dieser Nacht waren Feuerwehr, Militär und Technisches Hilfswerk überall unterwegs. Es schlug der Blitz zweimal ein, es brannte und krachte, Bäume wurden entwurzelt, Autos fielen um, Hütten lösten sich in ihre Bestandteile auf, Keller liefen voll, Dachziegel wirbelten durch die Luft, der Tod ging um in dieser Nacht.“
„Tod?“, fragte Renata entsetzt, die diese Geschichte eigentlich etwas anders kannte.
„Tiere, Renata; keine Menschen, Gott sei Dank. Auch Anna und Fred wurden gerettet, wie du weißt. Die Feuerwehr hat sie ausgebuddelt. Sie waren mit einer Kies-Lawine ins Innere der Brücke gerutscht und kamen nicht mehr nach oben. Dort unten war es finster, sie wussten nicht, wohin sie traten. Immer wenn sie einen Schritt nach oben machten, rutschte noch mehr Kies nach unten. Sie schaufelten sich praktisch ihr eigenes Grab. Aber dann geschah ein Wunder: Da war plötzlich ein Raum im Inneren der Dunkelheit des Gemäuers, in dem sie Schutz fanden. Der Raum war vorher nicht da, ich schwöre es, wir waren ja tagsüber schon oft da unten.“
„Wurde das untersucht?“, fragte Renata neugierig. Ihre Mutter hatte schon viele Wunder gesehen. Renata liebte diese Geschichten.
„Nein, das kam nicht auf, die Leute von der Feuerwehr wussten ja nicht, dass es diesen Raum vorher nicht gab. Sie sahen nur sich selbst, als die Katastrophe überstanden war; die Helden, die in dieser Nacht Menschenleben retteten. Helden waren sie auch; was die Rettungsorganisationen leisteten, war unglaublich - nicht ein einzig Verunglückter starb. Aber sie feierten noch jemanden als Helden, der gar keiner war: Mich.
Wegen mir kamen sie rechtzeitig, um Anna und Fred zu retten, doch ich hatte nichts Heldenhaftes getan, im Gegenteil, ich hatte Angst und bin davongelaufen. Wenn ich dageblieben wäre, wären wir vielleicht alle gestorben, weil niemand wusste, wo wir waren, einesteils. Auf der anderen Seite habe ich meine Freundin im Stich gelassen.“
„Aber deine Entscheidung war doch die klügere, die beiden hätten ja auch mit dir zusammen heimlaufen können.“
„Dass ich heil angekommen bin, das ist wohl auch ein Wunder, Renata. An diesem Abend wirbelte es Bäume durch die Luft. Es wäre schon vernünftiger gewesen, Schutz zu suchen, denke ich. Der Mut der Verzweiflung hat mich angespornt, die Feigheit hat mich getrieben.“
„Die Geschichte über diesen Sturm ist bekannt, genauso wie die Unerklärlichkeit eines Orkans in unserem Lande. Da beißen sich die Meteorologen noch heute die Zähne aus, es ist ein Mysterium. Und ich bin froh, dass du mir dies erzählst, denn ich bin mir sicher, das hat etwas zu tun mit alle dem.“
„Mit deinem Vater?“
„Ja. Er wusste, was passieren würde, oder?“
„So habe ich das noch nicht gesehen.“
„Du, ausgerechnet du! Du bist ein Profi in Sachen Mysterium. Ich frage mich, warum sie dich nie gefragt haben, ob du weißt, weshalb das geschehen ist, ob das der Zorn Gottes war oder so.“
Mira lachte. „Oh, das haben sie. Die fragen mich immer, wenn so was passiert, aber ich denke du weißt, was ich da antworte.“
„Dass, wenn es ein Zeichen war, ein Zeichen ist, welches sie selbst deuten sollen und nicht du.“
Mira lächelte. „Wenn Gott bei dir anklopft, dann will er dir was sagen, nicht mir.“
„Warum gibt es dann Propheten, Mami? Dann könnte Gott seine Boten doch gleich einsparen, wenn er jeden einzeln anspricht.“
„Ich weiß es nicht, Renata. Wenn ich das nur wüsste..“, sagte sie, ihr heiterer Gesichtsausdruck zerfiel. In ihren Augen stand tiefste Verzweiflung. Mira Silberbach sprach täglich zu den Menschen, predigte, berichtete von ihren Eingebungen, oft aber kam ihr der Gedanke, dass das falsch war.
„Wollen wir Anna besuchen, Mami?“
„Kennst du sie denn noch? Als du sie zum letzten Ma...“
„Da war ich ein Kind. Nein, ich kenne sie nicht, aber ich will etwas wissen von ihr.“
„Dann funke sie doch an.“
„Das habe ich. Sie will mir nichts sagen, irgendwie will sie nichts wissen von dem Thema Brücke.“
„Na ja, sie war in Lebensgefahr dort.“
„Aber ich will genau das wissen von jenem Abend, deshalb brauche ich dich! Bei dir wird sie sicher mehr erzählen“
Mira nahm ihre Hand. „Warum bist du gekommen?“
Renata zog sie weg. „Mami, muss ich meinen Besuch bei dir mit meinen Gefühlen für dich rechtfertigen oder bin ich auch willkommen, wenn ich dich um Hilfe bitte?“
„Du bist natürlich immer willkommen, Rehlein“, sagte sie schnell und ertappte sich dabei, viel zu viel mit sich selbst beschäftigt zu sein.
Renata hatte es stets geärgert, wenn die Mutter sie ‚Rehlein’ nannte, denn von den beiden war eher Mira das Rehlein. Als Renata aber heute in diese traurigen müden Augen blickte, wurde sie auch traurig. Traurig über sich selbst, weil sie diese Liebe, die in diesem Ausdruck stand, nun von sich wies. Es ist beengend von Mira geliebt zu werden, zum Einen. Zum Anderen ist es das, was sie immer wollte... wieso wollte sie das immer?
Es gab einen Teil in ihr, den sie nicht verstand; es gab in ihr etwas, das anders lebte und liebte als der Rest, der andere Dinge sah, der anders handeln wollte, der die eigene Mutter nicht als die Mutter sah. Das war ein Teil dessen, was sie glaubte, sich erst erklären zu können, wenn sie herausbekam, was es mit ihren Alpträumen auf sich hat. Denn sie war sich sicher, dass diese Träume keine Träume waren, sondern Erinnerungen an ein früheres Leben. Der Schlüssel dazu lag, so ungünstig dies auch schien, bei ihrem Vater. Die Mutter war ebenso unwissend wie Renata selbst und was sie wusste, verdrängte sie. Anna und ihr Mann, die könnten noch etwas wissen; zu denen sollte Mira ihrer Tochter Zugang verschaffen.
Es drängte sich die Frage auf, warum die Menschen, die das Geheimnis zu kennen schienen, überhaupt nicht bereit waren, auch nur einen Ansatz davon preiszugeben. Glaubten sie selbst nicht daran? Hatten sie Angst um ihren Verstand? Oder wussten sie genau, um was es ging und schwiegen absichtlich? Versuchten sie Renata vor der Wahrheit zu schützen?
Verdammt seien sie, dächten sie so! Renata war stark, nichts könne sie mehr erschüttern, als die Unwissenheit darüber!
„Du hast Alpträume, wovon träumst du?“, fragte Mira plötzlich.
Renata war nicht ganz gefasst auf diese Frage, zögerlich sprach sie: „Ich träume, dass ich Menschen erschieße.“
„Beschreibe das“, sagte Mira.
Renata wollte nur ungern diese traumatischen Bilder jetzt vertiefen, doch im gleichen Maße freute sie sich, endlich das Interesse der Mutter an ihrem Leid erweckt zu haben.
„Es ist Krieg, ich bin ein deutscher Soldat.“ Sie holte Luft, „ein deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg. Ich arbeite in einem Konzentrationslager als Aufseher, stoße einem halbverhungerten Juden ein Gewehr in die Rippen und werfe eine Frau mit Baby am Arm in eine Grube. Dann gebe ich ein Erschießungskommando. Es fließt Blut, unschuldiges Blut, literweise...“
Renata legte ihr Gesicht in die Hände, sie wollte es am liebten zerkratzen. Ihr wurde übel, deshalb lehnte sie den Kopf bei Mira an.
Mira nahm Renatas Hände vom Gesicht und starrte sie an.
„Ich werde dir helfen herauszufinden, was du wissen willst“, sagte sie bestimmt.
„Ach wirklich?“, fragte Renata überrascht.
„Wir können zu deinem Vater gehen, zu Anna und Fred oder zu der Brücke, wo immer du meinst, etwas zu erfahren, wir machen das zusammen.“
„Das war es doch, um was ich dich bat. Wieso wolltest du vorher überhaupt nicht, jetzt aber schon?“
„Weil ich die selben Träume habe, mein Kind.“
Die Reise
Anna und Fred
Mira erlebte ein Gefühl, das sie schon völlig vergessen hatte: Reiselust.
Es war nicht so, dass Mira niemals weg fuhr. Im Gegenteil, sie besuchte ständig andere Länder, die Menschen verlangten nach ihr rund um die Welt. Doch diese Reisen waren anders. Selbst bei ihr, sie wäre allein gar nicht auf die Idee gekommen, gab es offensichtlich einen Unterschied zwischen Beruf und Freizeit.
Miras Beruf war ihre Berufung, es war erfüllend, was sie tat.
Dennoch, sie hatte niemals Urlaub davon. Außer jetzt. Zudem war es kein Urlaub, wie ihn jeder hat, eine Badereise oder Erholung im Schwarzwald, nein, es würde ganz sicher ein Abenteuerurlaub werden. Eine Reise mit dem Menschen an ihrer Seite, den sie am meisten liebte, ihrer Tochter.
„Es ist eine fantastische Idee von dir, dass wir zusammen wegfahren mein Schatz“, rief Mira glücklich am Tag der Abreise aus.
Renata lachte: „Ja, ich fühle mich auch so, als würden wir in Urlaub fahren, so wie damals.“
„Griechenland.“
„Ja, Griechenland.“
„Es war die schönste Reise, die ich je gemacht habe.“
„Und deine Flitterwochen?“, fragte Renata unbedacht.
Die Mutter wurde still.
Renata legte die Hand auf Miras, „Oh, sorry, denk nicht dran, Mami“.
„Außerdem waren wir nicht nur einmal zusammen weg“, rechtfertigte sich die Mutter.
„Okay, ich meinte am Meer.“
„Ans Meer führt uns unsere Reise leider auch nicht, aber das könnten wir dranhängen, findest du nicht?“
Renata musste wieder lachen, Miras plötzliches Temperament amüsierte sie.
„Du bist aber jetzt reiselustig geworden, wenn man bedenkt, dass du erst gar nicht weg wolltest.“
„Du hast mich wohl angesteckt.“
Renata schwieg. Sie sah diese Reise etwas anders, doch sie versuchte sich der Stimmung ihrer Mutter anzupassen.
Ihr Ziel waren die österreichischen Berge. Anna und Fred betrieben eine Berghütte in der Nähe von Graz. Die Hütte wurde ausschließlich von Wanderern heimgesucht, denn sie war nur zu Fuß erreichbar. Mira war dreimal dort gewesen, Fred hatte sie mit dem Bergwagen abgeholt. Doch dieser konnte nur den Forstweg bis knapp 1500 m Höhe fahren, die restlichen 300 Höhenmeter mussten sie mit einer Stunde Fußmarsch selbst zurücklegen. Dieses Mal war es anders, denn Renata sagte: „1800 m, das schaffen wir doch auch ohne Auto“, da konnte Mira nicht ‚nein’ sagen, obgleich sie nicht recht wusste, ob sie sich dabei als arger Schwächling erweisen würde.
„Ich fürchte mich etwas vor der Bergtour“, sagte Mira, als sie im Auto saßen kurz vor Salzburg.
Renata lächelte: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarte ich getrost was kommen mag...“
Auch Mira schmunzelte: „Wie wahr“.
Renata dachte in vielen Dingen anders als ihre Mutter. Sie war geistlich gesehen sehr kritisch und stimmte in Sachen Glauben nicht unbedingt mit der Mutter überein. Dennoch besaß auch sie ein geräumiges Wissen über die guten Mächte.
Im Sommer 2032 hatte sie in ihrer Heimatgemeinde bei einem Gottesdienst einen selbst verfassten Text verlesen, der beinahe in jedem heimischen Haushalt die Runde machte. Ihre Gedanken um den Sinn des Lebens berührten nicht nur die Gläubigen, sondern einfach jedermann. In diesen Worten steckte etwas, das ansteckend war. Der Text wurde immer und immer wieder in den Lokalblättern gedruckt und lag lange in den Kirchen aus:
„Unser Wunder
Das Leben auf Erden ist gut gemeint, aber anstrengend und bedeutend. Es ist ein Teil der Existenz, der schrankenweisend ist. Hier können wir wachsen, erfahren was es heißt, Liebe zu geben, überhaupt zu geben. Das Ur-Denken unseres Seins entwickelt sich auf Erden. Wir gedeihen an einem Ort, an dem du Wasser anfassen kannst, an dem du das Wachsen der Bäume siehst, an dem das Fell der Tiere weich ist, an dem du bei jedem Regenschauer neu getauft wirst.
Was kann noch besser sein, was kann interessanter sein, was kann schöner sein?
Die Liebe.
Die Liebe zu lernen, kennen zu lernen, auch das ist ein Grund, ein Sinn unseres Weges durch die Welt. Und dennoch geht so Vieles schief, so viel Leid, so viele arme hilflose Kinder.
Das Leid ist ein Begleiter, kein Freund. Doch wären wir ohne ihn, so fehlte uns ein Teil. Die finstere Seite unseres Schöpfers ist uns in die Wiege gelegt.
So wie die Welt seine vernichtenden Stürme wiedergibt, so gibst auch du deine Kälte. Du bist verlassen auf dieser Welt, isoliert und verbittert. Doch genau dies ist es, was das Leben ausmacht. Kein Spiel ohne Hindernis, keine Freundschaft ohne Streit, keine Freude ohne Trauer, kein Leben ohne Tod.
Zersplittert sind wir, unser Weg ist steinig, wir sind ein Haus des Widerspruchs.
Gut ist, dass das Licht über dem Bösen wie über dem Guten leuchtet; gut ist, dass sich die Liebe nicht unterkriegen lässt.
Nichts ist absolut, nichts ist perfekt, nichts ist unabänderlich.
Der Tod? Trifft er uns nicht unabänderlich, unbarmherzig? Wir möchten zurück in die Zeit, bevor er zuschlug und uns die Menschen raubte, die uns anvertraut sind.
Wieso wünschen wir uns zurück? Weil wir die Verstorbenen anfassen möchten, an uns drücken. Wir möchten sie fühlen, mit ihnen reden, sie sehen. Wir möchten sie wahrnehmen mit all unseren Sinnen. Dies, so denken wir, bliebt uns durch den Tod für immer verwehrt.
Die frohe Botschaft ist: Das ist ein Trugschluss.
Es ist uns nicht für immer verwehrt. Vielmehr werden wir bekommen, wonach uns verlangt in Hülle und Fülle. Diese Fülle ist nicht weit weg. Strecken wir uns aus nach ihr, werden wir feststellen, dass wir unsere Sehnsucht nicht in der Vergangenheit suchen sollten, sondern in der Zukunft. Wir müssen nicht zurückgehen, sondern vorwärts. Voller Freude und Zuversicht wartet auf uns ein Leben aus dem immer und immer wieder Neues hervorgeht und Altes zu neuem Leben erwacht.
Nichts ist je vergessen, nichts war jemals sinnlos, nichts wird je vergehen.
Was stirbt, gedeiht in neuem Glanz, was vergeht, kommt wieder mit frischem Wind. Wir müssen uns niemals fürchten, denn nichts ist vorbei, nichts ist verloren. Unsere Existenz ist eingebettet in einen Kreislauf, der stets die Harmonie im Auge behält.
Gottes Segen sei allezeit mit uns.“
Renata ist in einem reichen Land geboren, trotzdem verlief ihr Leben nicht einfach. In ihrer Kindheit hatte sie eine unselbständige Mutter, einen gewalttätigen Vater. Kaum volljährig geworden, hatte sie geheiratet, einen Trunkenbold und Grobian. Ihr erstes Kind war eine Totgeburt, das zweite Kind schwerbehindert.
Nadja Renata Silberbach war sehr froh gewesen, als sie im Alter von achtzehn Jahren Werner kennenlernte, denn das hieß, die Mutter zu verlassen. Er war bereits 28 Jahre alt, hatte einen sicheren Job als Koch, ein Auto, eine große Wohnung und was man sonst noch so zum Leben braucht. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der weiß, wo es langgeht im Leben, der sie trug und führte, ihr Halt gab, ein Zuhause. Sie löste sich völlig ab von der Mutter, die sie eben erst kennen zu lernen schien. Durch Werner befreite sie sich wieder von ihr. Sie wusste ja nicht, dass sie in einem neuen Dilemma landen würde: Der Ehe.
Es fing schon bei der Hochzeit an, als er keinen Spaß mehr verstand. Dennoch waren sie sich einig, dass sie ein Kind haben wollen. Als Renata schwanger war, ging es ihr nicht sehr gut. Anfangs zeigte sich der werdende Vater noch als tröstlich und verständnisvoll. Doch bald konnte er sich nicht mehr vorstellen, noch monatelang Enthaltsamkeit zu üben. Er forderte sein Recht als Ehemann ein, Renata ergab sich ihrem Schicksal. Der Tod des Kindes hatte nichts damit zu tun. Doch diese Geburt war schrecklich für Renata, zerstörerisch nagte das tote Baby an ihrer Seele. Sie stand oft stundenlang am Grab ihrer Tochter und redete mit ihr. Sie erzählte ihr, was sie alles zusammen hätten machen wollen, wie schön doch das Leben sei. Sie begriff einfach nicht, weshalb sie nicht lebte.
In dieser Zeit trat die Mutter wieder in ihr Leben. Nun war sie schon die große Mira Silberbach geworden, zog sich aber für Renata einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurück. Renata fand zum ersten Mal auch bei ihr eine gewisse Art von Halt. Ja, besseren Halt als bei ihrem Gatten. Sich etwas schuldig fühlend zog er sich zurück von Renata, verbrachte viel Zeit in der Arbeit und in der Kneipe.
Schließlich machte er den Vorschlag, zusammen in den Urlaub zu fahren, um zu vergessen, das tote Kind zu vergessen.
Renata stimmte sofort zu, doch sie wusste, dass sie ihr Baby niemals vergessen würde. In diesem Urlaub gab sich Werner als stürmischer Ehemann, er versuchte seine Jugend wieder einzuholen. Renata passte sich an. Als sie eines Abends bei einer Flasche Wein zusammensaßen, sagte er etwas Entscheidendes:
„Irgendwie ist es doch ganz gut, dass wir jetzt kein Baby dabei haben, oder? Stell dir vor, was wir da alles nicht machen hätten können. Wahrscheinlich wären wir gar nicht weggefahren.“
Renata sagte nichts dazu, doch es kam ein Gefühl in ihr auf, es erwachte etwas in ihr.
In dieser Nacht weinte sie, als sie miteinander schliefen, es war das letzte Mal, da sie dies taten.
„Ich mache alles, Herr, damit ich das nicht mehr machen muss“, sagte sie zu Gott.
Gott hört, wenn man bei ihm anklopft, er erfüllt den Willen eines Menschen, wenn er nur stark genug ist. So reiste Renata heimlich ab und kam nie wieder zurück. In ihrem Bauch trug sie ein Kind von ihrem Mann, einen Jungen.
Jeremia war 10 Jahre alt, als sie ihn in USA zurückließ, um mit Mira diese Reise zu machen.
„Er ist eine Aufgabe“, sagte Renata stets, wenn man sie fragte, wie es Jeremia ging. Es war niemals leicht, denn der Junge ist autistisch. Doch sie hielt zu ihm, gab ihn gegen Anraten der Psychologen nicht weg, behielt ihn bei sich daheim. Dennoch schaffte sie es für sich und das Kind zu sorgen, ihr Lächeln zu bewahren.
Jetzt aber war sie zum ersten Mal ohne Jerry unterwegs, allein dies war ein Zeichen, dass ihr diese Reise extrem wichtig war.
Es ist nämlich nicht einfach, mit einem Kind allein dazustehen, das konnte sie nun sehen. Und oft dachte sie sich: Das hat aber Mama besser gemacht oder da hatte sie die besseren Nerven als ich. Im Grunde ja, da wusste sie ihre Mutter zu schätzen, da sah sie auf zu ihr, doch wenn sich Mira wieder so unbedarft benahm, dann zerfiel das Bild der starken Frau erneut in tausend Scherben.
So auch gleich am Anfang des Anstiegs: Mira tat das Bein weh, dann hatte sie etwas im Auge...
„Sag mal Mami, wenn du willst, können wir immer noch...“ sagte Renata endlich mit der Faust in der Tasche.
Mira stützte sich kurz bei ihrer Tochter ab: „Lass es gut sein mein Kind, ich werde schon meinen Mund halten.“
„Das habe ich nicht...“
Mira unterbrach sie abermals: „Aber gedacht“.
Mira litt unter der Strapaze, zudem hatte sie etwas im Auge. Es stach, brannte und wollte nicht rauskommen. ‚Der Balken vor dem Auge’, ging es ihr durch den Kopf. Angestrengt dachte sie nach, welcher Balken dies nun war.
Wie sie so nachdachte, da vergaß sie den Schmerz der Anstrengung. Ihre Gedanken trugen sie fort, sie dachte an Mike, auch er hatte ihr einen Balken ins Auge gelegt. Immer glaubte sie ihm bedingungslos, befolgte seine Regeln, tat es ihm gleich. Was auch immer sie für ihn tat, machte sie, weil er es wollte; nicht etwa, wie sie dachte, er brauche es. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Das Schlimmste daran aber war die Tatsache, dass, als sie sein wahres Ich erkannte, als der Balken von ihrem Auge fiel, sich mit dieser Erkenntnis absolut nichts änderte.
Heute hatte sich etwas geändert, denn als Renata an einem malerisch schönen Gebirgsbach eine Pause einforderte, wollte Mira nicht stehen bleiben. Fast bemerkte sie nicht, dass es etwas Seltsames an sich hatte, dieses Gewässer auf rutschigen Steinen zu überqueren. Es war sehr lebendiges Wasser, beinahe hätte es die beiden Frauen stürzen lassen. Renata zog Mira zu sich als sie drüben war. „Ist ja richtig gefährlich hier“, bemerkte sie heiter. „Wir werden schon nicht gleich über den Jordan gehen“, meinte Mira nachdenklich.
Die Hütte kam in Sichtweite, Miras Augen wurden klar. Sie freute sich auf die Begegnung mit Anna.
Von Weitem sah man eine schlanke Frau entgegengehen, Mira strahlte übers ganze Gesicht. Ihre alte Freundin! Was hatten sie doch alles zusammen erlebt!
Sie fielen sich in die Arme wie zwei Liebende, küssten sich, blickten sich in die Augen. Ihre Gesichter leuchteten vor Glück; es schien, als hätten sie sich erst gestern voneinander getrennt.
Keiner, weder Renata noch Fred, hatten eine Chance, von den beiden beachtet zu werden, nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten.
Renata nutzte die Gelegenheit und begann vorsichtig, dem auf die Seite geschobenen Fred ein paar Fragen bezüglich ihres Vaters zu stellen. Fred wusste in der Tat eine Menge über Michael Silberbach, denn bevor sich Mira und Mike kennenlernten, war Fred sein bester Freund. Er war sein einziger Freund, denn Mike war nicht gerade der Typ von Mensch, den man gerne zum Freund hatte. Für Fred war es eine Ehre, dass ausgerechnet er zu seinem ständigen Begleiter erwählt wurde. Mike war ein Junge, den jeder fürchtete. Seine Kraft lag in zwei Dingen: Erstens seine skrupellose Kampfkraft und zweitens sein einflussreiches Elternhaus. Freunde hatte er keine, niemanden, der ihm gute Gefühle entgegen brachte, doch er hatte stets Leute um sich herum, die taten, was er ihnen sagte.
Fred bewunderte ihn, denn Mike wertete ihn auf. Er, ein uneheliches Kind, dünn und schwächlich, wurde zur Nummer Eins des Michael Silberbach, dem Unangreifbaren, dem Anführer, dem Herrscher, dem Kalten, dem Schönen, dem Augenschmaus aller Mädchen der Schule.
Doch es war noch mehr als das: Fred empfand tiefe Zuneigung zu diesem kalten Menschen und er wurde nicht abgewiesen. Mike sprach niemals über Gefühle, doch er ließ es nicht zu, dass jemand Wort oder Hand an seinen besten Freund legte.
„Dein Vater war als Kind kein netter Mensch, Renata, aber ich habe ihn immer sehr gemocht. Wir hatten eine dicke Freundschaft, frag’ mich nicht wie das lief, aber es lief. Er war oft so kalt zu jedem und allem. Dennoch wusste ich, er würde mich niemals im Stich lassen. Er mochte zwei Menschen auf der Welt, die waren er selbst und mich. Weißt du, was es bedeutet, von so jemandem akzeptiert zu werden? Das ist, wie wenn du einen Orden angeheftet bekommst.“
„Und meine Mutter?“, fragte Renata.
„Die auch“, sagte Fred und blickte plötzlich ins Leere, „die liebt er auch, aber anders.“
„Wie anders?“
„Wie eine Frau eben“, sagte Fred etwas säuerlich. Er wollte offensichtlich nicht darüber reden. Er wusste zwar, dass dies auf ihn zukam, doch er hatte ein Konzept vorbereitet, welches nicht funktionierte, weil es zu spontan zur Sprache kam. Wieso war das Thema Mira und Mike so schwierig für ihn?
„Du meinst das anders, nicht wahr? Du willst ablenken, das merke ich. Wie anders war das zwischen den beiden? Hat er sie geliebt oder hat er sie aus einem anderen Grund geheiratet?“
„Oh er,.. empfand etwas für sie, das tat er.“ Fred räusperte sich, setzte ein Lächeln auf und fuhr fort: „Wie wär’s wenn ich uns jetzt einen schönen Espresso mache mit unserer neuesten Errungenschaft, dieser super Allround-10-Sorten-Kaffeemaschine...“
„Erzähl mir doch lieber noch mehr über die beiden von damals!“, sagte Renata nun energisch und stellte sich in den Weg. „Waren sie ein glückliches Ehepaar? Ich glaube du weißt, weshalb ich das wissen will, warum wir hier hergekommen sind, sicher hat Anna dir von unseren Telefonaten erzählt. Was also sagst du dazu, kannte Mike meine Mutter schon früher?“
Fred wurde blass, seine Oberlippe zuckte. „Ich.., woher soll ich das wissen? Mein gutes Kind, du bist hier Gast, also benehme dich auch wie einer!“
Er schob sie auf die Seite und ging in die Küche.
Renata wurde klar, dass sie genau an dem Ort gelandet war, der ihr die Wahrheit zeigen würde können, dies hier war die Quelle über das Wissen ihrer dubiosen Vergangenheit, ihrer Herkunft und aller nicht verstandener Träume. Sie würde diesen Ort nicht verlassen, bevor sie Antworten hätte.
Fred machte Kaffee, sie setzten sich zu Anna und Mira auf die Terrasse. Aber sehr bald saßen Mira und Renata allein am Tisch, denn Anna und Fred mussten die Gäste bewirten.
Mira ließ ihren Blick über die Bergwipfel gleiten. „Ist es nicht wunderschön hier, Nadja?“
„Du hast Nadja gesagt“, sagte Renata verwundert.
„Habe ich? Entschuldige, dass wir dir zwei so unterschiedliche Namen verpasst haben.“
Der Name Nadja war in ihrer Kindheit dominant. Niemand nannte sie Renata, dieser Name war ihr fremd gewesen, er hätte nicht zu ihr gepasst. Seit Mira aber von ihrem Mann getrennt war, hieß Nadja plötzlich Renata, wie das eben oft so ist, wenn sich etwas Großes verändert. Vielleicht war ja nun der Zeitpunkt, da sich erneut etwas Großes ändern sollte.
Renata hatte das zumindest vor, auch wenn alle anderen lieber in Wiedersehensfreude schwelgen wollten, anstatt alte Wunden aufzukratzen.
An diesem Abend legte Renata dar, was sie wollte von den Menschen um sich her:
„Vielen Dank liebe Leute für den schönen Urlaub hier, aber eigentlich war es nicht als reine Erholungssache geplant“, sagte sie am Tisch als das Essen beendet war. Anna lächelte: „So, so, junge Frau, was hast du denn auf dem Herzen?“
„Ihr wisst es ja bereits, ich möchte etwas über meinen Vater in Erfahrung bringen“
Anna sah Fred an: „Da bist du der richtige Ansprechpartner, denke ich.“
Doch Fred reagierte nicht auf seine Frau, er sah Renata an.
„Wieso soll ich dir hier jetzt Rede und Antwort stehen?“, fragte er streng, Anna und Mira waren ein wenig schockiert.
„Sie hat mich heute schon mal gelöchert und ich weiß nicht, was sie eigentlich von mir will. Ich habe ihr bereits alles gesagt, wüsste nicht, warum ich das jetzt breittreten soll. Meine Erinnerungen an Mike sind sehr persönlich, selbst Anna weiß nicht alles. Bei allem Respekt für deine Tochter Mira, aber ich kenne sie nicht mal, wieso soll ich ihr also meine innersten Gefühle offenbaren?“
Mira sah kurz in Renatas Augen, da fiel ihr wieder ein, weshalb sie ursprünglich hier waren. Renata hatte schon angefangen, ihren Fragen nachzugehen, dies war Mira entgangen.
Doch bevor sie den Mund auftat, fuhr Renata fort:
„Okay, gut, gut. Bevor ich also von euch etwas Persönliches in Erfahrung bringen kann, sollte vielleicht ich etwas über mich preisgeben.“
„Mir kannst du gern was anvertrauen, Renata“, sagte Anna, „ich werde dir beistehen, wo ich kann, schließlich habe ich Nachholbedarf bezüglich meines Jobs als deine Patin“
„Freut mich Anna, dann kommt mein Vorschlag sicher wenigstens bei dir gut an:
Also passt mal auf, wir werden jetzt, so denke ich, noch einige Abende zusammen verbringen und wie ich sehe, habt ihr nicht mal einen gut verstärkten Universalübertrager hier oben. So haben wir ausreichend Zeit, uns etwas anzuhören über die aufregenden Ereignisse in meiner Jugend, jene Ereignisse, mit denen die prophetischen Eigenschaften meiner Mutter ins Leben gerufen wurden.“
„Die Fähigkeiten deiner Mutter wurden nicht durch ein Ereignis ins Leben gerufen“, widersprach Fred. Seine Abneigung Renata gegenüber war nicht mehr zu übersehen.
„Gut, dann sagen wir mal, als sie zum ersten Mal auftraten.“
„Wieso sollen wir denn unsere Gastgeber damit belasten, Renata?“, fragte Mira ermahnend, denn ihr wurde klar, dass Renata, sei es gegen den Willen aller, nun etwas durchsetzen wollte.
„Anna, du willst doch sicher wissen, wie das damals war, als mir meine Mutter gemeinsam mit Robin Hoffmann, Felix Jung und Steffen Hartmann das Leben rettete. Gott selbst hat diese Rettungsaktion geleitet, damit begann wohl auch Miras Berufung. Ist das interessant für dich?“
„Oh ja, das ist es“, sagte Anna.
Fred und Mira wechselten einen vielsagenden Blick. Sie waren beide nicht begeistert davon, in der Vergangenheit zu wühlen, doch sie hatten wenig Argumente Renata zu stoppen.
Renata wendete sich ihrer Mutter zu: „Als ich vom Krankenhaus entlassen war, habe ich mich mit Felix zusammengesetzt und die Ereignisse in einer Geschichte niedergeschrieben. Ich würde euch das jetzt gerne vorlesen.“
„Tatsächlich?“, fragte Mira nachdenklich.
„Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, darum fange ich nun einfach mal an. Irgendjemand was dagegen?“
„Kommt etwas überraschend“, sagte Anna, „aber nur zu. Ich löse dich gerne ab mit dem Lesen, wenn es wirklich so viel ist“.
Renata lächelte. „Danke Anna, du weißt gar nicht, wie sehr du mir hilfst.“
„Und ich weiß gar nicht, weshalb ich die Einzige hier bin, die diese Geschichte brennend interessiert!“, antwortete Anna mit einem fragenden Blick an Fred.
„Jetzt hast du ja, was du willst“, sagte Fred zu Renata, als Anna kurz in der Küche war.
„Was denn? Du musst doch nichts erzählen, Fred.“
„Du willst die Vergangenheit aufwühlen, so oder so.“, gab er ernst zurück.
„Es ist unsere Vergangenheit, du kommst nicht vor darin, es ist schon okay“, sagte Mira zur Beruhigung, Fred schwieg.
„Na dann schieß' los“, sagte Anna und setzte sich.
Die andere Seite
Renata räusperte sich.
Nun zitterten ihre Hände ein wenig als sie ihr Buch im billigen roten Vollglanzumschlag in Händen hielt.
„Es ist ein Buch?“, frage Mira.
„Ich habe es drucken lassen, Mami, aber es war niemals frei verkäuflich.
Die Geschichte heißt:
Die andere Seite
Kapitel 1
Die Leiden des Felix Jung“
Renata blickte etwas unsicher in die Runde.
Mira hatte einen nicht ganz sorglosen Gesichtsausdruck. Ihr gegenüber fürchtete Renata einige Stellen in dieser Geschichte zu lesen. Dass Mira nicht die beste Mutter war, kam in dieser Geschichte sehr deutlich zum Vorschein. Renata sah Mira in die Augen, einen Moment meinte sie, sie könne dies ihrer Mutter nicht zumuten. Doch sie fuhr leise und vorsichtig fort:
„Du machst dich viel zu klein“, sagte Dr. Robin Hoffmann und blickte in ein gelangweiltes Gesicht. Es war eines jener Gesichter, die er Tag für Tag um sich hatte. Ein Gesicht, ein Mensch, eine Seele, ein Leben, etwas Einzigartiges, etwas Wunderbares, etwas unendlich Kostbares und dennoch geschlagen, missverstanden, am Boden zerstört.
Allermeistens liebte er seine Arbeit als Psychologe, jeden Morgen trat er sie an mit neuem Mut. Dennoch gab es manchmal wenig Hoffnung, ein Lächeln in das Leben dieser Menschen zu zaubern. Sie fühlen sich als ein Nichts, weil es mit der Schule nicht klappt, weil sie keine Arbeitsstelle haben, weil sie kein Geld haben. Warum tut ihnen das Leben dies an?
Warum tut uns das Leben Kriege an, warum verhungernde Kinder? Das könnte man genauso fragen. Und warum letztendlich empfindet Robin Hoffmann für seine Patienten mehr Mitleid, als für die Menschen in der Dritten Welt?
Niemals würde er auch nur ansatzweise eine Antwort finden.
Trotzdem hilft es nicht zu jammern oder zu verzweifeln, es gibt viel zu tun, es bleibt keine Zeit am Schicksal zu zerbrechen.
„Nadja“, sagte er und beugte sich zu ihr vor, „du bist ein ganzer Mensch. Nichts und niemand kann dir dein Lebensglück absprechen. Du hast das Recht auf ein glückliches Leben, egal welche Schulnoten du hast. Wärst du ein Amerikaner, so hättest du das sogar schriftlich.“
Endlich blickte sie auf. Man gewinnt nur Vertrauen, wenn man es schafft, etwas Heiterkeit zu vermitteln, dies bestätigte Nadjas Reaktion. Sie lächelte sogar. Oder war es ein Lächeln? Zumindest hatte er ihre Neugier geweckt, denn sie tat freiwillig den Mund auf:
„Wieso?“, fragte sie.
„In Amerikas Gesetzbüchern steht, dass ihre Staatsbürger ein Anrecht auf Lebensglück haben“, antwortete Robin.
„Ach?“, sprach sie und fiel in den alten Gesichtsausdruck zurück.
„Frag mich nicht, was die Regierung macht, wenn jemand kommt, um sein Recht einzufordern, aber sie bleiben dabei, dass der Anspruch auf Glück rechtsgültig ist.“
Sie reagierte nicht mehr. Es war klar, für sie war das eine der vielen Geschichten, die ihr nicht weiterhelfen würden. Das wollte sie auch gar nicht, denn sie wollte keine Hilfe von Robin. Er war ein erwachsener Mann, allein diese Tatsache machte ihn zum Feind.
Er wusste das, verstand es auch, es war ihm klar, dass er dennoch, so, als ihr Feind, es schaffen musste, ein Fels in der Brandung für sie zu werden.
Das hatte er schon oft geschafft, es waren noch schlimmere Fälle als Nadja bei ihm, aber alle haben sie ihm letztendlich vertraut. Bleibt nur die Frage offen: Half ihnen das?
Ist ein Mensch, der verletzt ist, nicht einfach ein Mensch, der verletzt ist? Prägen nicht seine Erlebnisse den Charakter, ob er will oder nicht, ob Robin will oder nicht? Was lässt sich denn schon ändern?
Ein Lichtblick, ein Funke in der Dunkelheit, wenn er wenigstens das wäre, dann ist seine Aufgabe fast erfüllt. Erwartungen sind nach den Urteilen die schrecklichsten Angewohnheiten, die ein Mensch überhaupt haben kann.
„Hör zu“, sprach sie schließlich, „in zehn Minuten ist eh Schluss und ich hab’ noch ’ne Verabredung... “
Robin suchte nach einem Witz: „Dein Charme haut mich glatt um“, sagte er.
„Wenn ich jetzt gehe, dann hast du auch zehn Minuten früher aus.“, erklärte sie.
Noch ein Schlag unter die Gürtellinie. Sie wusste genau, was sie tat. Er wollte ihr Freund sein, versuchte ihr stets klar zumachen, dass er sich freute, wenn sie kam. Sie hingegen glaubte ihm das nicht. Dies sollte er nie vergessen.
„Du darfst gehen, wenn du nächste Woche zehn Minuten länger bleibst.“
Nadja stand auf. „Jetzt darf ich auch noch nachsitzen“, sagte sie.
Robin stellte sich vor sie hin, er kam ganz nahe her und sah ihr eindringlich in die Augen. Wollte er in ihrem Blick etwas lesen? Wollte er lesen, ob es ihr gleichzeitig leid tut, so unhöflich zu sein? Wollte er lesen, ob sie Hass empfand oder Überlegenheit, Vertrautheit oder Witz? Vielleicht ein bisschen von allem, aber in erster Linie wollte er kontrollieren, ob sie Alkohol getrunken hat.
Irgendwann in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er genau der für sie war, der er nicht sein wollte.
Nadja aber wurde unsicher durch diese Nähe, sie verstand es anders. Sie fühlte sich bedroht, hatte plötzlich Angst und wich zurück. In ihrem Gehirn raste eine schlagende Männerhand in ihre Wange. Langsam ließ sie sich wieder in ihren Sessel gleiten. Sie dachte, sie hätte es zu weit ausgereizt, nun wäre Robin wütend, verliere die Kontrolle, wollte sie anschreien, anfassen, zur Rede stellen, schlagen. Sie kannte das von ihrem Vater, Robin sollte aber nichts darüber wissen, überhaupt nichts wissen von ihrem Vater.
Er war nun etwas verdutzt. Nadja zu provozieren hatte er längst aufgegeben, ihre Mauern schienen ihm so dick, dass kein Durchkommen möglich war. In ihre Festung käme er nur hinein, wenn er mit einem fliegenden Teppich von oben käme, um sie zu überreden, mit ihm eine Runde über den Dingen zu schweben, dachte er.
Doch nun, plötzlich, nur durch diese spontane Reaktion auf ihre Provokation, hatte er ein Loch in die Mauer geschlagen. Sofort wurde ihm klar, dass es in Sachen körperliche Nähe eine Wunde in ihr gab, die man niemals mehr so schnell ankratzen sollte. Vermutlich Gewalt, der Vater schlägt sie oder sie ist vergewaltigt worden, irgend so etwas Schreckliches.
Schnell setzte er sich weit weg.
„Tut mir leid, Nadja“, sagte er, „natürlich darfst du gehen, darfst du immer.“
Sie richtete sich langsam wieder auf, sprach, ihre Furcht überspielend: „Fein, dann brauch’ ich ja nicht wieder zu kommen.“
„Wäre schon besser, wenn du wiederkommst. Du weißt doch, deine Eltern, die Krankenkasse, das Jugendamt, die Polizei, du und ich natürlich, wir haben ja so etwas wie einen Vertrag. Du hast natürlich Recht, es ist meine Arbeit, aber ich fände es wirklich extrem ungut, wenn ich dich verlieren würde.“, redete er, ohne genau zu wissen, was er da plapperte.
„Was tut man nicht alles des lieben Friedens wegen“, gab sie so lallend zurück, dass man es fast nicht verstand.
„Du sagst es“, erwiderte er. Auch dies wollte er eigentlich nicht sagen.
Doch dann lachte sie plötzlich.
Robin überraschte es, „es ist schön, wenn du lachst“, sprach er.
Ihre Haare fingen an zu glänzen, die Lippen wurden rot, die grau-weiße Gesichtsfarbe bekam einen rötlichen Stich. Sie sah ganz anders aus. Ihm fiel auf, dass sie noch nie gelacht hatte seit sie hier her kam. Wie hübsch sie doch war! Sie hatte glatte schwarze Haare, halblang. Ihre richtige Haarfarbe war sicherlich eher blond, man sah das an den Augenbrauen und am Haaransatz. An der Nase und an der Lippe trug sie silbrige Perlen. Sie kam stets ungepflegt daher, fettiges Haar, schmutzige, zerlumpte Kleidung, roch nach Mundgeruch und Schweiß. Es war klar, dass das Absicht war. Es sollte sagen: „Ich gehöre nicht zu euch, ich bin nicht einverstanden mit meinem Leben unter euch, lasst mich bloß in Ruhe!“
Dieses Erscheinungsbild missfiel Robin. Nicht etwa, weil er es an ihr verurteilte, nein, er sah es als seine Aufgabe an, dass sich daran etwas ändert. Erst dann, wenn sie hübsch sein wollte, hatte seine Arbeit Früchte getragen.
Wollte er frei sein von Erwartungen und Urteilen? Ja, das wollte er, konnte es aber nicht.
Ihr Lachen zerfiel nicht sofort. Irgendetwas an seinen Worten schien sie so sehr zu amüsieren, dass sie nicht anders konnte als zu lachen.
Es sah wirklich sehr gut aus, wie sie lachte; es wertete Robin auf, er hatte etwas in ihr zum Aufleben gebracht. Oder bildete er sich das nur ein? Lachte sie sonst auch immer mit ihren Freunden, nur bei ihm nicht, weil er eben kein Freund war? Wie konnte er nur annehmen, es wäre anders? Es ist doch immer so.
Robin hatte etwas mitgelacht, doch bei diesem Gedanken konnte er nicht mehr mithalten. Nadja stoppte ihren Ausbruch, nahm ihren Rucksack und ging zur Tür. Er trottete hinterher, sie stoppte kurz, ließ ihn vorbei, dann öffnete er die Ausgangstür vor ihr, so wie immer. Nun kam der Zeitpunkt, dass sie sich die Hand geben würden.
„Auf Wiedersehen“, sagte sie.
Er sprach „tschüss Nadja, bis zum nächsten Mal, alles Gute für die Woche, halt die Ohren steif.“ Ähnliches kam immer von ihm, „und wenn etwas ist, kannst.....“
„du mich jederzeit anrufen“, endete sie den Satz, auch wie immer.
Die Türe schloss sich und Robin stand da als hätte er in die Hose gemacht. Er war ein guter, mittlerweile erfahrener Psychologe. Seine Aufgaben waren schwierig, er hatte nicht mit frustrierten Reichen, sondern meist mit kriminellen Jugendlichen zu tun. Aber so sehr er in Bezug auf seine Aufgabe mit allen seinen Gefühlen in seinem Zuständigkeitsbereich stand, genauso hatte er auch seine Grenzen. Seine eigene Psyche war immer ein Thema, welches außen vor stand. Robin war so stabil, wie ein Psychologe nur sein kann. Heute war das anders. Komisch! Nur, weil sie gelacht hat. Nadja, ausgerechnet! Sie war nicht unbedingt sein wichtigster Patient.
Nadja eilte durchs Treppenhaus zur Tür hinaus. Draußen war es stechend kalt. Sie hatte ihre Jacke in der Praxis vergessen. Wie konnte sie nur ihre Jacke vergessen? Egal, sie hatte jetzt keine Lust mehr sie zu holen. Sie lief über die Straße, den Dompfaffweg entlang. Die Straßenlaternen leuchteten bereits. Im Winter wird es früh dunkel.
Zu Hause war niemand, aber es klingelte das Telefon.
„Ich habe gar keine Verabredung, Herr Psychologe. Noch nicht!“, murmelte sie vor sich hin.
„Achsel, hi“.
Wenn auch Robin nicht wusste, weshalb sie plötzlich lachen konnte, sie wusste es schon: Sie war ein bisschen verliebt.
„Bist du allein?“
„Ja.“
„Ich komme.“
„Bring’ Wein mit.“
„Okay.“
Nadja ging ins Bad. Seit sie Achsel kannte, sah sie sehr oft in den Spiegel, wusch sich die Hände, kämmte das Haar. Auch wenn er nicht auf schöne Frauen abfuhr, sie wollte sich bei ihm von ihrer Schokoladenseite präsentieren.
Achsel kam, er hatte keinen Wein dabei. Sie verschwanden in Nadjas Zimmer, die Türe wurde verschlossen. Dann verschlangen sie sich ineinander, ließen ihren Hormonen freien Lauf. Es machte Spaß, es tat gut, sie lachten und küssten sich immerzu.
Als sie etwas erschöpft zusammen im Bett lagen, wollte Achsel seine Zigaretten holen, doch Nadja hielt ihn zurück.
„Ich darf hier nicht rauchen.“
„Na und?“, sagte er.
„Ich krieg' echt riesigen Ärger. Du weißt doch, die haben mich alle auf’m Kicker, Jugendamt, Bullen, Psychos und so.“
„Psychos? Heißt das, du kriegst da irgendwelche heißen Pillen?“
Nadja lachte. „Schön wär’s. Nein, keine Pillen, nur Quatschen.“
„Was Quatschen?“
„Ich mache eine Gesprächstherapie bei einem Psychologen“, sagte sie mit übertrieben gepflegter Ausdrucksweise.
„Und was sagst du dem so? Sagst du ihm, was wir gerade gemacht haben? Wie ich deinen... “, er fing erneut an, ihre Genitalteile zu befummeln, „und wird er dann so richtig geil?“
Nadja kicherte. Plötzlich dachte sie daran, als Robin sich ihr in den Weg gestellt hatte. Sein Gesicht war so nah an ihrem, wie eben das von Achsel...
Es wurde deutlich, dass Achsel ein weiteres Mal wollte, Nadja machte mit, doch sie dachte an etwas anderes: Wieso hatte sie denn Angst vor Robin gehabt, so plötzlich? Es ist doch sonnenklar, dass ein Psychologe ihr niemals etwas tun würde. Er hatte es sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber woher kam ihre Angst? Von ihrem Vater? Es erinnerte etwas in dieser Situation an ihren Vater. Nadjas Vater konnte sehr aufbrausend sein, schlug ihr ins Gesicht, tat ihr Gewalt an. In den letzten Jahren jedoch hatte seine Gewalt ein anderes Bild bekommen. In den letzten Monaten hatte er ihr nichts mehr getan, er sah sie kaum. Außerdem hatte das Jugendamt jetzt den Daumen drauf. Aber nicht hauptsächlich wegen dem gewalttätigen Vater waren die Beamten gekommen, nein, Nadja hatte zu tun mit Drogen, Diebstahl, Alkohol. Immer wieder hatte sie des Nachts in Schwabing die Polizei aufgegriffen, verhört und schließlich nach Hause gebracht. Sie war eben betrunken, was soll’s.
Achsel hatte gerade seinen Orgasmus gehabt, Nadja hatte vergessen zu stöhnen. Sie war an diesen Gedanken kleben geblieben.
„Ich brauch’ jetzt aber ‚ne Zigarette“ sagte er bestimmt.
„Gehen wir!“, sagte Nadja.
Zu spät: Er hatte sich bereits eine angezündet, stand am Fenster, immer noch nackt und aschte auf den Sims.
„Bist du verrückt!“, rief sie, stürmte zum Fenster, ihre Brust verdeckend, schloss es und fing sich den Blick der Nachbarin ein.
„Das gibt wieder Ärger“, sagte sie vorwurfsvoll in das grinsende Gesicht ihres Freundes.
„Was siehst du mich an? Was kann ich dafür, wenn deine Alten so spinnen? Was ist das hier? Ein Sanatorium?“
„Lass’ uns abhauen von hier, okay?“, sagte sie nervös.
„Erst darf ich dich bumsen und dann schmeißt du mich raus, ist ja nett!“, entgegnete er böse.
Achsel genoss es sichtlich, sein neues Mädchen fertig zu machen. Nadja gefiel ganz und gar nicht was ablief. Sie hatte Angst vor dem Ärger wegen der Szene am Fenster, zudem würde ihre Mutter bald kommen. Sie musste Achsel irgendwie dazu bringen sich wegzubewegen, ohne Aufsehen. Was dann aus ihrer Beziehung würde, was aus ihrer Verliebtheit würde, das wäre zweitrangig.
„Rauch deine Zigarette, Achsel“, sagte sie, brachte ihm einen Blumentopfuntersetzer als Aschenbecher, kramte aus ihrer Tasche auch eine Zigarette heraus und stellte sich rauchend zu ihm. Sie wusste, dass es nicht angesagt wäre, sich bei ihm zu entschuldigen. Aber was sonst? Dass sie nun mit ihm einen Streit vom Zaun brach, das wollte er eigentlich, doch genau dies galt es zu verhindern.
„Jetzt geht es also doch!“, sagte er unfreundlich.
„Ausnahmsweise.“, gab sie zurück.
„Wenn du rauchen willst, dann gibt es wohl Ausnahmen“.
Nun war es offensichtlich, dass er Streit suchte, aber warum nur?
„Was bist du denn so ungut?“, fragte Nadja und versuchte zu lächeln.
Sie küsste ihn am Hals, streichelte seinen Rücken. Das klappte wohl, auch er legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Für einen Moment fürchtete sie, er wolle noch einmal,...
Eine Woche später.
„Ihr Leben ist kein festes Schema, Frau Landa, Sie sind und bleiben ein Mensch, egal ob Sie in der Chefetage arbeiten oder zu einer Putzkolonne gehören.“
Robin sah in die Augen seiner Patientin, dachte jedoch an etwas ganz anderes: „Nach Maria Landa kommt Nadja, hoffentlich kommt sie auch.“
„Ihre Nachbarin hat kein Recht, Sie nach ihrem Beruf zu beurteilen.“
„Tut sie aber. Das tut weh.“, sagte Maria mit einem Kloß im Hals.
„Wieso sollte sie nicht kommen?“, dachte Robin, „dass sie gar nicht gekommen ist, das ist praktisch noch nie passiert.“
„Stellen Sie sich mal vor, Sie wären Gott und sehen auf Sie und Ihre Nachbarin herab, hören, wie sie zu Ihnen sagt, dass es bei ihr daheim ja viel sauberer ist als bei Ihnen und dies, obwohl sie ja kein Putzprofi sei, so wie Sie. Was würden Sie denken? Vergessen Sie aber nicht, dass Gott Sie beide liebt, so als wären Sie seine Kinder, dass der göttliche Wille nicht verurteilt oder anklagt, sondern in Liebe auf Sie herab blickt.“
„Hoffentlich merkt sie nicht, dass das heruntergeleiert war,“ dachte Robin, „wieso habe ich nur das dumme Gefühl, Nadja könnte etwas passiert sein? Es gibt Patienten, denen gebe ich gute Ratschläge und es gibt welche, bei denen kann ich meine Gefühle nicht fernhalten, für die nehme ich Verantwortung an. Ich kann es nicht steuern.“
„Ihr geht es schlechter als mir,“ stellte Maria fest.
„Warum meinen Sie das?“, fragte Robin, dachte aber:
„Nadja war keine von der Sorte, für die ich mich erwärme, aber das hat sich geändert.“
„Wenn das saubere Haus das Einzige ist, mit dem sie sich aufwerten kann, dann habe ich mehr als sie. Ich habe meine Kinder, meine Tiere, meine Malerei.“
„Das meine ich auch. Frau Nachbarin ist neidisch. Es stimmt also nicht, was sie sagt, es hat überhaupt keine Grundlage. Sie wollte nur beleidigen, sonst nichts. Es gibt keinen Grund, das ernst zu nehmen.“, sagte Robin möglichst konzentriert.
„Nadja lügt und ist wenig kooperativ. Sie ist nicht freiwillig hier. Ich hätte das nicht machen müssen, dass ich sie nehme, aber ich wollte ja. Ich sehe es als Herausforderung an, straffällige Jugendliche zu behandeln“, ging es durch Robins Kopf.
„Ich glaube aber, dass das stimmt mit der sauberen Wohnung. Bei mir ist es nicht sehr sauber.“, beteuerte Maria Landa erneut.
„Muss es das denn?“
Robin blickte ruhig auf sein Gegenüber, er versuchte an sie zu denken: „Frau Landa ist ein Zuckerlecken gegen Nadja. Sie hat Minderwertigkeitskomplexe, die sich schnell ausbügeln lassen, ist sehr einsichtig und will eigentlich an sich glauben. Nadja hingegen ist negativ, sie hat keine Hoffnung, keine Ziele, ist einfach nur dagegen, dröhnt sich zu, um das ertragen zu können. Ich muss unbedingt verhindern, dass sie an der Flasche hängen bleibt. Und dass sie in den Knast kommt, muss ich auch verhindern...,“ schoss es ihm durch den Kopf, „Mist, ich bin schon wieder abgedriftet, ich muss jetzt bei der Sache bleiben!“
„Ich meine, ist das wirklich so wichtig für Sie?“
„Für mich doch nicht!“
„Warum muss es sauber sein?“
„Wenn jemand kommt... “
„My home is my castle.“, sagte er, „das heißt...”
„Mein zu Hause ist meine Burg“, sagte sie schnell. Sie konnte schließlich Englisch.
„Eine Burg schützt sein Inneres vor allen Angriffen von Außen. Vor Eindringlingen, vor Feinden. Der Rückzug ins Private ist etwas, auf das bei sämtlichen Völkern der Erde größter Wert gelegt wird. Meinen Sie denn, das stünde Ihnen nicht zu? Nur Ihnen nicht, als einzigem Menschen auf der Welt?“
„Aber andere handhaben das ganz anders. Die zeigen ihr Wohnzimmer gerne her.“
„Sie sind aber nicht die anderen. Was haben Sie denn zu verlieren? Wen wollen Sie zu Gast haben? Wenn Sie einen Gast haben, der mit Ihrem Wohnzimmer nicht einverstanden ist, dann lassen Sie ihn eben nicht mehr ein. Ein Freund ist willkommen, aber ein Freund stößt sich nicht an unorthodoxen Wohnzimmereinrichtungen oder an Unordnung. Er besucht ja Sie und nicht Ihr Haus.“
„Endlich hat es geklappt“, dachte sich Robin, „ich bin wieder drin. Das leuchtet ihr jetzt ein. Wenn sie’s nur nicht wieder vergisst!“
Nadja hatte ihren Psycho-Termin, wie sie ihn nannte, vergessen. Für sie war in den letzten Tagen Anderes wichtig. Seit dieser Sache mit Achsel war sie nur noch am Rudern. Ihre Eltern hatten sie mit ihm erwischt. Es gab großen Krach, sie lief davon. Achsel war beleidigt, die Eltern waren beleidigt, alles ging schief. Nadja fuhr in die Stadt, in die Kneipe, um sich zulaufen zu lassen. Der viele Alk und der Stress mit den Leuten, das hatte sie dazu gebracht auszurasten. Als sie mit zwei Freunden aus der Kneipe Bierflaschen am Bahnsteig zertrümmerte, landete sie auf der Wache. Ihre Mutter holte sie ab und brachte sie heim.
Mira Silberbach war an einem Punkt, an dem sie ihre Tochter nicht mehr zur Rede stellte. Sie war einfach fertig mit den Nerven, wusste weder ein noch aus. Nun hatte sie die Angst, das Jugendamt würde antanzen, Nadja käme endgültig ins Gefängnis oder ins Heim, wie auch immer. Sie hätte ihre Tochter verloren, hätte es nicht geschafft, ihr Kind ins Leben zu führen.
Nadja fühlte sich seither nicht mehr so überlegen wie sonst. Sie fühlte plötzlich Schuld, ja Mitleid ihrer Mutter gegenüber. Und dann waren da noch die Zweifel am eigenen Verstand, denn sie wusste nichts mehr von dem Zertrümmern der Bierflaschen.
Die erste Zeit danach schlief sie sehr viel. Dann war sie kurz davor, Robin anzurufen. Doch auch ihm gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen, darum tat sie es nicht. Vielmehr nahm sie eine Art geduckte Haltung an. Es war so, als würde sie sich zusammenrollen, um zu warten bis sich die Wogen geglättet haben. Das klappte ganz gut, man ließ sie in Ruhe, sogar von Seiten der Polizei kam nichts mehr. Glück gehabt!
Zu viel Glück, denn nun saß sie wieder in der Kneipe.
Zu ihrer Rechten saß Melanie, eine gute Freundin; zu ihrer Linken: Felix, ihr alter Freund, nun aber ihr neuer Lover. Felix war nicht gerade ihr Typ. Er war ruhig, etwas kleiner als sie und viel zu zurückhaltend. Doch er hatte einen großen Vorteil: Er war jederzeit da für sie. Aus welchem Grund auch immer war er unsterblich verliebt in sie. Seit Jahren hatte er versucht bei ihr zu landen, ohne dem Hauch einer Chance. Nun aber, da sie selbst so hilflos war, da sie sich klein und schwach fühlte, da nahm sie ihn an. Es gab jemanden, dem sie etwas bedeutete.
Felix war ein dunkler, dünner Typ, ‚schmächtig’ in Nadjas Augen. Sie liebte aber Muskeln und Überlegenheit, also solche Typen wie Achsel. Ihr idealer Männertyp war ein fieser, gefühlskalter Super-Rocker, der keine Schwäche zeigt, niemals. Felix war das Gegenteil. Dennoch, der Tatsache bewusst, dass er Nadjas Horror-Mann war, hatte er nicht aufgegeben. Meist war er zufrieden, wenn sie eine Zigarette von ihm nahm oder sich auf ein Bier einladen ließ, welches sie oftmals sogar mit jemand anderem trank.
Felix machte das nichts mehr aus, er war es gewohnt. Auch, dass sie jetzt mit ihm herumschmuste, das gefiel ihm zwar, es war herrlich, dennoch wusste er, dass sie in Wahrheit seine Avancen abgelehnt hatte. Sie brauchte ihn jetzt, darum durfte er sie küssen. Damit war er einverstanden. Er wollte für sie da sein, wenn sie ihn braucht. Vielleicht würde sie irgendwann erkennen, dass er der Einzige in ihrem Leben war, der dann bereitstand, wenn es sonst niemanden mehr gab.
Felix küsste sie am Backenknochen, er streichelte ihre Schläfen, den Haaransatz, die Stelle hinten unter dem Ohr, dort wo man ganz feine Nervenenden hat.
„Das kann er“, dachte sich Nadja. Und überhaupt gab es viele Dinge, die er gut konnte. Bisher hatte sie es nicht bemerkt, dass sie im Unterbewusstsein stets froh war, dass es ihn gab. Seine kleinen Aufmerksamkeiten waren wirklich nett. Nadja konnte nie das Geld ausgehen, ihre Zigaretten. Sie hatte kein Problem damit, wie sie nach Hause kam oder in die nächste Kneipe. Wer hat denn schon jemanden, der sich um solche Dinge kümmert?
Aber was sie wirklich wollte, das war anders: Sie brauchte einen Kerl, der sie auf den Boden wirft, über sie herfällt, der sie an den Haaren zieht, ihr wehtut, sie verletzt und in den Dreck wirft, der alles tut, damit sie es spürt. Damit sie irgendwas spürt und sei es nur Schmerz, das ist besser als nichts. Schmerz ist besser als alles andere, nicht deshalb, weil Schmerz so gut tut, sondern weil alles andere noch mieser ist als Schmerz. Wenn man geschlagen wird, dann steht man im Mittelpunkt des Schlagenden. Für den Täter ist nur das Opfer wichtig; was das Opfer empfindet, ist absolut relevant. Das Opfer wird zur Hauptperson, es ist der Hauptdarsteller im Film des Täters. Und Nadja will der Hauptdarsteller sein; jeden Tag, an dem sie das nicht wenigstens für ein paar Sekunden ist, dürfte es nicht geben.
Für jeden Menschen gibt es eine andere Hölle: Für den einen ist es, pleite zu sein, für den anderen eingesperrt zu sein, für den nächsten, allein zu sein, für noch einen zu sterben... für Nadja ist es, ignoriert zu werden.
Ignorieren tat Felix sie nicht, dennoch war er zu unscheinbar, um ihr eine Hauptrolle zu vermitteln. Er selbst ist eine graue Maus, Nadja hatte keine Lust, sich in diese Rolle mit einzufinden.
Felix suchte ihren Blick. Seine dunklen großen Augen funkelten geheimnisvoll im Kerzenlicht. Nicht geheimnisvoll genug für Nadja. Es lag in ihrer Natur, an der Schönheit vorbei zu sehen. Sie sah durch Felix hindurch. Es war, als wäre sein Gesicht durchsichtig und sie würde die Leute, die hinter ihm saßen, beobachten.
Felix ist Halb-Iraner, seine Haut ist braun und schön, wie die des David aus der Geschichte um David und Goliath. Doch sein Goliath war einfach unbesiegbar. Oder vielleicht doch? Sollte er sich ein paar Steine aus dem Fluss suchen und sie abfeuern gegen Nadja? Aber er wollte sie ja nicht töten, er wollte das Gegenteil.
Robin wusste ebenfalls nicht recht, was er bezüglich Nadja machen sollte. Wenn er jetzt bei ihr anrief, dann würden ihre Eltern mitbekommen, dass sie nicht bei ihm war, sie bekäme Ärger. Wie sollte er da jemals eine Chance bekommen, ihr Vertrauen zu gewinnen? Außerdem wäre sie ganz bestimmt nicht zu Hause, es würde also nichts daran ändern, dass sie nicht hier war.
Er saß in seinem roten Flanellsessel und starrte auf den leeren Sessel vor ihm. Der leere Sessel war aus schwarzem Leder. Dies sollte dem Patienten vermitteln, dass er wichtiger ist als sein Therapeut..
Robin stand auf und setzte sich in den schwarzen Sessel. Nun schaute er auf den roten. Er versuchte sich vorzustellen, wie er selbst wohl aussah, welche Optik Nadja hatte, wenn sie ihn ansah. Dann stand er auf und blickte in die Spiegelwand hinter den Büchern. Er erkannte sein Gesicht nicht ganz, es standen zu viele Bücher davor, doch was er inspizierte, das sah eigentlich ganz nett aus.
Warum nur ist sie nicht gekommen? Es wird doch nichts passiert sein?
Er setzte sich wieder in seinen roten Sessel und wurde etwas müde. Gäbe es hier eine Couch, so würde er sich jetzt hinlegen. Vorsichtig legte er die Füße auf den Tisch, verschlang die Arme hinter dem Nacken und schaute durch das Fenster den Himmel an. Es war fast dunkel, jetzt um 16.00 Uhr. Es ist eben Winter. Oh, wenn doch schon wieder Sommer wäre! Aber jetzt käme ja erst noch Weihnachten, dann Neujahr und der ganze Mist. Seine Patienten werden alle samt depressiv zu Weihnachten, ohne Ausnahme. Für jeden von ihnen ist Weihnachten ein Problem. Zudem werden zu Weihnachten keine Termine mehr vereinbart. Wenn die dann im Januar wiederkommen, sind sie total zerstört und Robin muss von vorne anfangen.
„Oh Gott!“, dachte er sich, „wenn es doch nur dieses Weihnachten nicht gäbe!“
Mit Einem sah er Weihnachtsbilder aus der Vergangenheit vor sich. Er fühlte ein Gefühl, welches er einst zu Weihnachten hatte als er mit seiner Schwester den Baum schmückte, als der Vater Orangen auspresste, als es nach Zimt roch, er ein frisches Plätzchen aß, das Wohnzimmer dunkel war und die Kerzen den Raum erhellten; er hörte die Musik, fühlte seine Stimme, sah ein buntes Päckchen in seinen Händen, hörte die vertrauten Menschen lachen, sah dicke Schneeflocken an der Straßenlaterne, die bunte Christbaumbeleuchtung in Nachbars Garten,...... dann fühlte er wie eine Träne seine Wange entlang nach unten kullerte.
Er hatte Sehnsucht nach Weihnachten.
Nadjas Finger zitterten. Trotz zwei Bier und einem Schnaps zitterten sie noch immer. Schnell steckte sie die Telefonkarte in den Apparat, presste den Hörer an ihr rechtes Ohr und wählte die Nummer aus ihrem Notizbuch. Dann hielt sie sich das linke Ohr ganz fest zu. Es war sehr laut im Hintergrund, Robin würde todsicher mitbekommen, dass sie in einer Musikkneipe war. Der Apparat war dennoch besser als ihr Handgerät, denn auf dem alten Ding hier konnte er sie nicht sehen, sondern nur hören. Wenn sie ihn wenigstens anrief, dachte er vielleicht sie würde ihm vertrauen.
Er hob nicht gleich ab. Es dauerte eine Zeit bis das Läuten des Telefons es geschafft hatte, ihn aus seinen Weihnachtsträumen zu holen.
„Hallo, Robin, ich bin so froh, dass du ran gehst. Es tut mir leid. Es ist wirklich nicht absichtlich, ich hab’s vergessen, ehrlich! Ich hab’ einfach den Termin verschwitzt, verstehst du?“
„Dann komm’ jetzt, Nadja“, sagte er überrascht, dass sie sich so intensiv bemühte, die Sache ins Reine zu bringen.
Sie konnte aber jetzt nicht kommen, denn sie würde fürchterlich nach Alkohol riechen. Hier fiel das nicht auf, aber in Robins sauberen, sterilen Therapieräumen würden das drei Patienten danach noch riechen. Weil sie das natürlich unmöglich aussprechen konnte, log sie:
„Bis ich bei dir wäre, dauert das eine Stunde, ich bin mitten in der Stadt.“
„Was machst du denn da?“
Sie warf einen Blick zur Bar, sah ihr halbvolles drittes Bier, daneben stand schon ein neuer Schnaps. Felix saß da, redete mit Heike, der Barfrau, sie lachten zusammen.
„Ich denke nicht, dass dich das was angeht, oder?“, sagte sie schnippisch.
„Also gut, wie wär’s dann mit 19.00 Uhr?“, fragte er.
Nadja biss sich auf die Lippen. Wieso konnte er nicht einfach aufgeben?
„Ich übernachte heute in der Stadt“, log sie weiter, obwohl sie wusste, dass er das merkte.
„Ist was passiert, Nadja?“, wollte er wissen, dachte aber, dass sie nur keine Lust hatte.
Nadja wurde still, dann sagte sie: „Ja“.
„Was denn?“
„Wundert mich, dass du es noch nicht weißt. Ich hab’ mal wieder Mist gebaut.“
„Was für einen Mist genau?“
„Keine Ahnung, ich hatte einen Filmriss.“
Jetzt hatte sie keine Lust mehr, ihm irgendwelche Erklärungen abzugeben, dafür hatte er zu oft ‚was?’ gesagt.
„Hast du morgen Zeit zu kommen?“, fragte er, obwohl er alle Termine voll hatte.
„Klar“, sagte sie erleichtert darüber, dass er es aufgegeben hatte, sie heute noch sehen zu wollen.
„Sagen wir um 20.00 Uhr.“, schlug er vor in der Hoffnung, es wäre kein rechtlicher Fehler, einem minderjährigen Mädchen um 20.00 Uhr eine Therapiestunde zu verpassen.
Nadja lachte: „Du hast überhaupt keinen Termin mehr frei.“
„Kommst du oder kommst du nicht?“
„Ist gebongt.“, sagte sie heiter.
„Aber bitte komm’ auch wirklich, ich habe keine Lust bis um neun hier allein rumzuhängen.“
„Wenn ich nicht komme, darfst du mich eigenhändig erwürgen.“
„Wenn du nicht kommst, dann belegst du einen Karate-Kurs, den deine Eltern und ich für dich aussuchen, wie wäre das?“
„Wieso nicht?“
„Gut, dann kommst du morgen nicht und wir kümmern uns um den Kurs. Ist echt eine super Sache. Wenn du das machst, brauchst du keine Therapie mehr.“
„Wieso brauch’ ich dann keine Therapie mehr?“
„Als ich das gemacht habe, hatte ich dreimal die Woche zwei Stunden Training und jedes zweite Wochenende Wettkämpfe.“
„Okay, okay, ich komme morgen.“
Nun amüsierte sie das Gespräch, sie fühlten sich glücklich dabei.
Nadja ging zurück zu Felix, lächelnd erhob sie ihr Glas.
„Prost Felix“, sagte sie, „auf die Liebe!“
Felix wunderte sich ein wenig. Als sie zum Telefon gestürmt war, sah sie so verzweifelt aus, nun aber wirkte sie über die Maße glücklich. Was hatte sie wohl erfahren?
„Ich hoffe du redest von unserer Liebe“, sagte er, ihr zuprostend.
„Oh Felix“, entgegnete sie und nahm seinen Kopf unter ihren Arm, „was verstehen wir denn schon von Liebe?“
Felix schluckte.
Ja! Was verstand er schon von Liebe? Was ist Liebe? Ist es das, was er für Nadja empfindet? Ist es das, wenn man die ganze Nacht in Schwabing von Kneipe zu Kneipe zieht und immer nur SIE sucht? Egal, wie besoffen, egal, wie verstunken, egal mit welchem Typen sie gerade herumknutscht, Hauptsache sie ist da, einfach nur da. Nur ein Blick, ein Wort, ein Lächeln, ein ‚hi Felix’.
Ist es das, wenn man zum tausendsten Mal fragt, ob man sie nach Hause fahren darf und sie sagt zum neunhundertsiebenundneunzigsten Mal ‚nein’?
Oder ist es das, wenn sie zu dir sagt: „Jetzt hau’ endlich ab, du lästige Klette!“, du aber verzeihst ihr in dem Augenblick, als sie dies ausspricht?
Felix fühlte sich wie ein Minnesänger, der Nacht um Nacht, Regen um Regen vor ihrem Fenster kniet, ihr Lieder singt, immer und immer wieder, Jahr um Jahr, dennoch nie die Hoffnung auf Erhörung hat, weil sie ja die Burgfrau ist und mit dem großen, stattlichen Burgherrn verheiratet ist.
Es war so sinnlos sie zu lieben, immer schon. Und jetzt, da sie ihn endlich erhört hatte, erschien es ihm noch sinnloser. Als sie noch nicht wusste, wie er als Liebhaber so ist, da hätte es sein können, dass sie, erführe sie es, sich wie durch ein Wunder unsterblich in ihn verliebte. Aber diese Situation war jetzt da und es gab kein Wunder. Stattdessen erklärte sie ihm, dass weder er noch sie etwas von der Liebe wussten.
Vielleicht bräuchte Felix eine wichtige Aufgabe, um das zu vergessen, um Nadja zu überwinden. In den Filmen gehen solche Leute wie er in der Regel zur Fremdenlegion oder sie verwandeln sich in Spiderman. Felix aber war ein Wehrdienstverweigerer, blieb also nur Spiderman. Wenn er es sich so recht überlegte, war die Wahrscheinlichkeit, dass ihn eine mutierte Spinne biss, tatsächlich größer, als dass sich Nadja in ihn verliebte.
Felix kippte seinen Schnaps hinunter, Nadja klatschte ihre Hand auf seine Schulter und sagte:
„Trinkst du immer allein?“
„Ich find es gut, dass du jetzt endlich mit Felix gehst“, lallte ihr von rechts Melanie ins Ohr.
„Das ist nicht für die Ewigkeit, Melli“, flüsterte sie zurück.
„Immerhin hat er ein tolles Auto. Mensch wäre ich glücklich, wenn ich mal einen Typen aufgabeln würde mit so einem Auto.“
Nadja konnte sich nicht mehr an sein Auto erinnern, also fragte sie ihn:
„Bist du mit dem Auto da, Felix?“
„Bin ich Naddi, aber ich glaube, ich fahre heute nicht mehr damit.“
Sie lachte. „Da fragst du mich Abend für Abend, ob du mich heimfahren sollst und ausgerechnet heute kannst du nicht mehr fahren?“
„Ich habe schon zu viel getrunken.“
„Und sonst hattest du nichts getrunken?“
„Nein.“
„Echt? Wieso dann heute?“
„Heute trinkst du zum ersten Mal mit mir zusammen.“, erklärte er glücklich.
„Ach so“, sagte sie ziemlich leise.
Die vielen Male, die er in den Kneipen nach ihr suchte, nach ihr schmachtete, da hatte er nichts getrunken, in der Hoffnung, er könnte sie nach Hause bringen?
Nein, das kann nicht sein! Es gab sicherlich auch andere Gründe, warum er nichts trank. Er steht nicht auf Alkohol oder er hat Angst vor der Polizei. Und jetzt, weil er mit ihr zusammen war, musste er das unbedingt feiern, darum trank er mit. So musste es sein! Dafür, dass er nie etwas trank, war er aber ganz schön trinkfest.
Ja, er schien sogar besser zu sein als Nadja, denn als sie vom Barhocker glitt, um aufs Klo zu gehen, da wäre sie beinahe hingefallen. Sie sah im Spiegel ihr Gesicht, es gefiel ihr nicht. Es sah sehr betrunken aus. Heute wollte sie nicht weitertrinken, nicht wieder über die Stränge schlagen. Sie sollte keinen Ärger mehr bekommen mit den Bullen. Das musste sie sich abgewöhnen. Es würde aber nur gelingen, wenn sie nach dem dritten Schnaps aufhört, denn dann war sie noch relativ gut Herr ihrer Sinne.
Nadja hatte sich wohl verzählt oder sie hatte einfach einen schlechten Magen, denn sie musste sich übergeben. Felix wusste sofort was passiert war, er brachte sie mit dem Taxi heim.
„Er muss ziemlich viel Geld haben“, dachte sie sich, als er das Taxi bezahlte.
Dann brachte er sie noch zur Haustür, schloss auf für sie.
„Schaffst du den Rest allein? Ich gehe lieber nicht mit rein, sonst denken deine Eltern noch, ich hätte vor mit dir....“
Er redete nicht weiter.
„Mit mir was?“, fragte sie erschreckend laut.
„Pssst“, Felix legte den Finger auf ihren Mund, „nicht die Eltern wecken.“
Nadja war heute merkwürdig traurig, erneut überfiel sie völlig unkontrolliert ein Gefühl der Reue.
„Felix, sag mal, liebst du mich denn noch?“, fragte sie.
„Warum fragst du mich? Sagte ich, dass ich dich liebe? Hab’ ich dir das jemals so gesagt?“, gab zur Antwort.
„Ich meinte, verzeihst du mir? Ich habe mich heute Abend von dir freihalten lassen, war dann betrunken, habe gekotzt, du musstest das teure Taxi zahlen. Koste ich nicht unnötig Geld und bin im Grunde widerlich?“
„Luxus ist teuer“, sagte er mit einem Lächeln.
„Hä?“, antwortete sie, weil sie nicht verstand, was er meinte.
„Ich wollte sagen, meine Liebe, du bist alles andere als widerlich.“
„Ich halte ja auch nicht mich für widerlich, sondern das, was ich heute...ich meine, es ist mir peinlich, dass mir schlecht geworden ist.“
„Leg dich schlafen“, sagte er ungewohnt knapp, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging.
Am nächsten Abend um 20.30 Uhr zog Robin seine Jacke an. Er fluchte vor sich hin und stolperte über seinen Schal. Mit der Faust schlug er gegen die Wand.
„Diese elende Mist-Ratte!“, rief er aus. „Nein, ich werde nicht länger warten.“
Als er das Haus verlassen hatte, erblickte er in der Ferne eine kleine dunkle Gestalt, die es sehr eilig hatte. Das war zweifelsohne Nadja. Robin aber war so geladen, dass er nicht glücklich über ihr Erscheinen war.
Dann sagte sie auch noch: „Wo willst du denn hin?“
„Hast du keine Uhr?“, fragte er.
„Über das zu spät kommen haben wir keine Klausel vereinbart.“, entgegnete sie.
„Ich frag’ mich, was du damit sagen willst. Eine Entschuldigung wäre wohl eher angebracht.“
„Ich meine wegen dem Karate-Kurs. Ich muss ihn nicht machen, ich bin ja noch gekommen.“
„Das ist kein Spaß mehr, Nadja! Du hältst mich zum Narren. Ich habe keine Lust, andauernd verarscht zu werden, klar!“
Nadja tippelte von einem Fuß zum anderen. Sie hatte heute noch keinen Alkohol getrunken und musste feststellen, dass sie sich gut dabei fühlte. Auch wenn Robin jetzt beleidigt war, er würde ihr schon wieder verzeihen. So ein Trottel wie er würde ihr immer und immer wieder verzeihen, genau wie Felix.
„Jetzt gibt’s auf jeden Fall keine Therapiestunde mehr, so wichtig bist du nun auch wieder nicht! Ich habe Feierabend und Schluss!“
In dieser endlos langen halben Stunde waren Erinnerungen an tatsächlich versäumte Therapiestunden in Robins Kopf aufgetaucht, die er schon völlig aus seinem Gedächtnis verbannt hatte; Erinnerungen an Beleidigungen, Lügen, falsche Versprechungen. All dies kam ihm gebündelt vor Augen, in diesen dreißig Minuten.
Nadja erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so unfreundlich wurde.
„Wann....ähm,... wann...“, weiter kam sie nicht.
„Hör zu Fräulein“, sagte er und packte sie am Arm, „vielleicht solltest du den Therapeuten wechseln. Du kannst dich eventuell besser öffnen bei einer Frau. Ich werde dir keinen Ärger machen wegen der versäumten Stunde. Morgen rufe ich deine Eltern an und gebe ihnen die Nummer von einer Kollegin, okay?“
Nadja stand da und fühlte sich, als hätte er sie in eine Müllgrube gestoßen. Wie oft wäre sie froh gewesen, wenn Robin es endlich aufgegeben hätte, ihr zu helfen, doch jetzt war das anders. Wen hatte sie denn noch, wenn nicht ihn? Felix ja, aber der schimpfte sie ja nicht einmal!“
„Ich dachte, du magst mich“, sagte sie etwas weinerlich.
„Und ich denke, du magst mich nicht“, entgegnete Robin.
„Ich,.....“, erwiderte sie, doch mehr fiel ihr nicht ein.
Robin wusste sofort, dass er ihr erheblich früher hätte die Krallen zeigen müssen. Er hätte nur niemals gedacht, dass er es bereits geschafft hatte, freundschaftliche Gefühle in ihr zu wecken. Oder war das jetzt nur so, weil sie wieder Ärger hatte und einfach jemanden brauchte, egal wen? Wahrscheinlich. Dennoch, das war zumindest ein Anfang.
„Komm’ morgen um 6.45 Uhr vor der Schule zu mir, letzte Möglichkeit.“
„Aber....“
„Ich ruf’ deine Mutter gleich noch an und erkläre ihr das.“
Er drehte sich von ihr ab und ging zu seinem Auto. Bevor er einstieg, drehte er sich nach ihr um, sie sah sehr verloren aus, er rief ihr zu:
„Und geh’ bei Zeiten ins Bett heute, damit du nicht verschläfst, okay?“
Sie nickte.
Zu Hause angekommen machte sich Robin eine Dose Ravioli auf, schüttete die Hälfte in einen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle. Die Tomatensauce spritzte die Wände des Gerätes voll, dann verbrannte sich Robin die Finger am heißen Teller. Wütend über dieses Missgeschick pfefferte er den Teller auf den Küchentisch, wieder spritzte es rundum.
Karlchen kam angeflogen, sagte: „Guten Morgen“ und tippelte aufgeregt um den Teller herum. Er beliebäugelte neugierig die roten Tomatenspritzer. Robin kraulte ihn lächelnd am Hals.
„Du warst heute lang alleine, tut mir leid.“
„Guten Morgen Robin“, sagte der Papagei, schimpfte ein wenig dazu.
„Guten Abend“, heißt das, Karlchen, „guten Abend“.
Er sah den Vogel belehrend an, dieser erwiderte den Blick mit voller Aufmerksamkeit.
Karlchen berührte ein Ravioli mit dem Schnabel und leckte vorsichtig mit der schwarzen Zunge die Tomatensauce an.
„Verbrenn’ dich nicht“, sagte Robin, der Papagei sagte: „Gut“.
Karlchen sagte immer „gut“, wenn es etwas zu essen gab. Der Vogel erheiterte Robin ein wenig. Warum ist er nur so wütend gewesen? Es war ein langer Tag, er war so unendlich müde und seit 7:00 Uhr morgens außer Haus. Arme Nadja, sie hatte die Last des ganzen Tages abbekommen. Eigentlich war es ja gar nicht so schlimm, was sie getan hat. Sie hatte gestern einen Termin versäumt, heute war sie ja noch gekommen, eine halbe Stunde zu spät, ja, aber sie kam zumindest. Der Schuldige war Robin, ihm wurde es zu viel am Abend, deshalb war er so aufgebracht. Im Grunde sollte er es wissen: Er darf um 20.00 Uhr keinen Termin mehr ausmachen. Nicht mit einem frustrierten Abteilungsleiter und auch nicht mit einem straffälligen Teenager, einfach gar keinen. Selbst wenn sich derjenige in der gleichen Nacht umbringen würde, kein Termin mehr um 20.00 Uhr! Auch wenn’s nur wegen Karlchen ist!
Schließlich kam der jetzt auch noch zu kurz. Der Vogel saß auf Robins Schulter und sagte: „Guten Morgen Robin“, während dieser missmutig die Mikrowelle putzte.
„Jetzt auch noch eine Salmonellenvergiftung kann ich mir nicht erlauben“, murmelte er vor sich hin während er es hasste, das Ding zu putzen. Aber er war ja selber schuld, hätte er das Essen abgedeckt, wäre das nicht passiert. Den Tisch wischte er nicht mehr ab, auch der Teller wurde, so wie er war in die Geschirrspülmaschine gestellt. Die Dose wanderte samt Inhalt in den Kühlschrank. Dieser war so gut wie leer. Wann hätte er auch einkaufen sollen?
„Reine Energieverschwendung“, sagte er, „vielleicht sollte ich mir eine Katze halten, damit der Kühlschrank wenigstens seinen Sinn erfüllt.“
Der Papagei sah ihn ungläubig an.
„Wegen dem Katzenfutter meine ich“, erklärte er.
„Gut“, sagte Karlchen.
„Was willst du denn noch?“ fragte er, „ach ja, entschuldige, natürlich bekommt ihr euer Futter. Wie geht es Dorthe?“
Robin ging zum Papageiengehege und sagte „hallo“ zu Dorthe. Dorthe war Karlchens Frau. Aber sie war ganz anders als er. Den ganzen Tag saß sie nur still im Käfig, sagte und tat nichts. Gut, dass sie Karlchen hatte. Dorthe war vermutlich schon älter, hatte ihren Frust, keiner wusste, was ihr so widerfahren war, aber Menschen schien sie nicht sehr zu schätzen. Karlchen hatte sie trotzdem gern.
Auch Robin liebte sie irgendwie, aber er konnte ihr nicht helfen, sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Es war das Beste für sie, ihr diese Ruhe zu lassen, hatte Robin einst beschlossen.
Bei einem Menschen hatte er noch nie einen derartigen Entschluss gefasst. Er hatte es noch nie aufgegeben, einem seiner Patienten zu helfen, etwas aus ihm herauszulocken. Bei Nadja hatte er das heute zum ersten Mal gemacht. Er wollte sie einfach wegschicken, das Problem Nadja weiterreichen. Ein absurder Gedanke eigentlich. War es nicht oft nur die eigene Eitelkeit, die ihn dazu trieb, jeden Patienten bis zum Schluss durchzuziehen?
Wäre Dorthe bei einem anderen Menschen ganz anders? Vielleicht brauchte sie eine Familie mit vielen Kindern und nicht einen einzelnen Mann, der sowieso nie zu Hause ist. Aber dann müsste er Karlchen auch abgeben und das bräche ihm das Herz. Also ist es doch wieder nur der eigene Ego....
Als Robin den beiden Vögeln eine gute Nacht gewünscht hatte und den Kopf in sein Kissen legte, schlief er gleich ein. Er träumte von Nadja, oder besser nicht von Nadja, denn in seinem Traum war sie wieder nicht gekommen. Dann sah er, wie er die Papageien bei seiner Schwester einquartierte.
Plötzlich tauchte Nadja auf. Sie sagte: „Gibst du uns alle auf?“
Schnell suchte Robin nach einem Spiegel. Das war sein Trick, einem Albtraum zu entfliehen. Er fand keinen Spiegel, also blickte er in die Innenflächen seiner Hände. Darin erkannte er auch immer etwas Gutes, etwas Rettendes.
Er fand sich in seiner Wohnung wieder, Dorthe saß an ihrem Platz, Robin suchte in der Küche nach Futter. In Zeitlupe stand er auf und holte das Vogelfutter. Es blitzte die Sonne zum Fenster herein. Als er zurückkam, klingelte das Telefon. Er ließ das Futter fallen und ging hin. Es war Nadja, sie sagte einen Termin ab. Dann blickte er an sich herab, zu seinen Füßen aßen die Vögel ihr Futter. Er strahlte vor Freude: Endlich war Dorthe aus dem Käfig gegangen....
Nadja legte den Kopf in ihr Kopfkissen. Sie hatte Robin gehorcht und war früh zu Bett gegangen. Heute hatte sie keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken, sie war stolz auf sich. Auch war ihr gar nicht mehr übel. Es war wirklich nicht schlecht, nüchtern zu bleiben. Ihr ging die Therapiestunde morgen nicht aus dem Kopf, deshalb sah sie sich im Traum auf den Wecker schauen. Es war 6.30 Uhr. Sie stürzte aus dem Bett, aufs Fahrrad, durch Schnee und Eis. Es war noch dunkel, ihr Licht am Fahrrad war kaputt. So floh sie vor der Polizei, musste einen Umweg machen.
„Nun komme ich wieder zu spät“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte Angst und weinte. Da merkte sie, dass sie noch das Nachthemd trug. Alle Leute starrten sie an. Aber sie konnte nicht mehr zurück, sie hatte einen Termin....
Sie war gestürzt und lag im Schnee. Das dünne Nachthemd war klamm, sie konnte sich nicht bewegen. Es war ein Traum im Traum, den sie träumte: Es war Sommer, ein Lichtstrahl, Vögel, sie war am Fluss, das Wasser war warm...
Als der Traum im Traum endete, fand sie sich im Schnee wieder. Um sie herum war der weiße Schnee rot. Blut. Aber woher kam es? Doch nicht etwa von ihr? Ja, es war von ihr, sie blutete, fühlte aber keinen Schmerz. Sie dachte nur: Ich komme zu spät. Dann war ein Arzt da, sie sagte immer nur: „Ich muss sofort in den Fasanenweg Nr. 10, alles andere ist egal, nur kurz, um zu sagen, was passiert ist, bitte!“ Doch man hörte nicht auf sie. Sie schrie....
Durch den eigenen Schrei erwachte sie. Der wirkliche Traum war aus, Gott sei Dank.
Eigentlich war sie froh, als kurz darauf der Wecker klingelte, denn sie wusste, diese Art Träume hätten kein Ende genommen. Es war immer so, wenn sie keinen Alkohol intus hatte, dann kamen diese Träume. Gerne hätte sie sich eingeredet, das wäre der Grund, weshalb sie trank, doch sie lehnte es ab. Schließlich gibt es für die eigenen Schwächen immer so einen Grund. Nichts zu trinken und deshalb schlecht zu schlafen, das war etwas, es hatte was. Zumindest seine Auswirkungen waren gut, denn sie war erheblich wacher am nächsten Tag. Dieser tote Schlaf ohne Träume, den sie auf ihre Räusche schlief, tötete so Vieles, nicht nur die Träume, auch das Gehirn, das Fühlen, das Leben. Meistens wollte sie genau dies: Sie wollte die Dinge in sich töten. Sie wollte nicht fühlen, wie es ist, wenn die Mutter ihr prüfend in die Augen blickte, wenn die Klassenkameradinnen über ihre Klamotten lästerten, wenn der Lehrer sie unwissend ausfragte, wenn sie den Bus verpasste und mit dem Fahrrad durch den Regen fuhr, wenn der Hausmeister sie beim Rauchen erwischte, wenn Achsel ihr auflauerte, um ihr heimlich einen Pariser an die Jacke zu heften...und, und, und. Es war einfacher kalt zu bleiben, teilnahmslos.
Heute aber war es anders, heute morgen begegnete sie zuerst ihrem Psychotherapeuten. Warum war das anders? Sie hatte sich verändert, stellte sie fest. Die erste Zeit kam sie ebenso stinkig und zerlumpt in seine Praxis, wie sie eben immer daherkam. Er hatte sie sanft darauf angesprochen, sie hatte ihm saftig Kontra gegeben. Aber in den letzten Wochen hat sie vor der Therapiestunde, die sonst immer nachmittags war, niemals etwas getrunken, meistens hatte sie sich sogar geduscht oder umgezogen. Sie wollte diese sauberen Räume nicht verstinken. Sie wollte nicht den Schmuddelfleck darstellen in der sauberen Welt. So sehr sie die saubere Welt ablehnte, Robin hatte sie gewisse Zugeständnisse gemacht, natürlich ohne es jemals zuzugeben. Und was sie nicht einmal vor sich selbst zugab, war, dass sie dabei versuchte, ihm etwas zu beweisen. Sie konnte auch anders, trotz ihrer negativen Lebenseinstellung, sollte sie genauso sauber und gesellschaftsfähig sein können, wie jeder andere, auf ihre eigene Weise. Sie wollte ihm beweisen, dass sie nicht unfähig war, sondern nur unwillig. Sie kann, wenn sie will, jawohl! Sie will nur nicht. Aber wehe, ja wehe dir, Robin, du sprichst das jemals an, dass sie sich gebessert haben sollte! Was wäre dann? Dann würde sie vielleicht wirklich nicht mehr kommen, dann würde sie, sei es nötig, in den Knast gehen oder sogar sich das Leben nehmen, was auch immer, das jedenfalls würde sie sich niemals bieten lassen.
Robin war die Alternative zum Knast. Es wurden schon einige Stimmen laut, nun wäre sie endgültig fällig, aber weil sie noch nicht achtzehn war, hatte das Jugendgericht immer und immer wieder beschlossen, es mit einer Therapie zu versuchen. Robin hatte viele solche Fälle.
Er war etwas in Eile heute morgen. Einesteils war er sich sicher, dass seine Patientin nicht pünktlich wäre, aber wäre sie es doch, aus Reue eventuell, dann sollte Robin zumindest da sein. Stünde sie vor der Tür und niemand machte auf, würde sie vielleicht einfach wieder gehen, denn dann hätte sie ein Argument, dass sie nicht schuld sei. Diesen Hebel sollte er ihr nicht geben. Also gab es kein Frühstück, auch für den enttäuschten Karlchen nicht.
„Wir holen das nach, versprochen“, sagte er zu seinem Vogel, „hier! Esst ihr zusammen“, rief er, die Jacke anziehend und legte ein Stück Waffel in den Fressnapf.
Er schwang sich in seinen 5er BMW und tuckerte los. Robin war ein derart langsamer Autofahrer, dass ein Fiat UNO völlig ausgereicht hätte, doch als er sich das Auto kaufte, ist er schlichtweg auf die Reden des Händlers hereingefallen. Ausgerechnet er, Herr Doktor Diplompsychologe. Nobody is perfect. Er war niemals perfekt, nein, er war eher ein Mensch wie Nadja als er jung war. Auch er war immer gegen Alles und wollte nirgends mitmachen, wollte sich nichts sagen lassen von den Autoritäten um sich her. Und zudröhnen, ja, entfliehen aus der nüchternen Welt, das gönnte er sich oft genug. Er hatte nur die besseren Voraussetzungen als Nadja. Sein Vater war Arzt, es war ein Leichtes für ihn an gefälschte Rezepte heranzukommen. Hier mal Codein Tropfen, da mal Ephidrin, Capthagon und Valium, eine Versandapotheke aus dem Internet und der Deal war perfekt. Das Einzige, was er sich ab und an auf dem Schwarzmarkt beschaffte, um sein Studium zu schaffen, war Amphetamin.
Dass er solch einen Ehrgeiz in seine Ausbildung legte, lag nicht am Ansporn seines Vaters. Im Gegenteil, das wäre noch ein Grund gewesen, es sein zu lassen, um nicht so selbstgerecht zu werden wie er. Robin befand es als widerlich, wie der Vater im weißen Kittel auf seinem Ledersessel thronte, um seinen jammernden Patienten zu erklären, sie seien völlig gesund. Ja, körperlich waren sie das vielleicht, aber wie sah es in ihrem Inneren aus? Wenn sie zum Doktor gehen, dann fehlt ihnen etwas, sonst wären sie nicht gekommen. Und wenn ihnen auch nur eine Krankschreibung für den Arbeitgeber fehlte, dann fehlte ihnen eben genau diese. Das ist noch lange kein Grund, sie einfach wieder heim zu schicken oder in die Arbeit, das löst das Problem schließlich nicht.
Doch das war seinem Vater egal, er war eben nur ein Mediziner, kein Mensch. Das wollte Robin besser machen, er wollte ihm zeigen, was es heißt, einen Menschen zu heilen, was der Unterschied ist zwischen Medikament und Heilung.
Aber dies war nicht der einzige Grund, weshalb sich Robin die Mühe gemacht hatte, diese anstrengende Ausbildung durchzuziehen. Der zweite Grund war, dass er sich befreien wollte.
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, aufgrund diesen Spruchs war ihm klar, er würde niemals eine Lehre machen. Er wollte keinen Chef haben, bei dem er sich fürs Weihnachtsgeld bedanken muss. In welchem Beruf hat man keinen Chef? In welchem Beruf ist man absolut unabhängig von jedem und allem? Wo muss man sich überhaupt nicht unterordnen? Und noch etwas: Welcher Beruf ist sinnerfüllend? Welcher Mensch auf der Welt war jemals absolut frei und arbeitete völlig sinnerfüllend?
Antwort: Jesus.
Da Robin aber wusste, dass er sich an Wesen und Größe mit Jesus niemals vergleichen würde können, deshalb sollte sein Dienst am Menschen mit dem ihm zur Verfügung stehenden Wundern geschehen.
Robin war glücklich, er hatte seinen Traumberuf, seinen absoluten Traum hatte er sich erfüllt. Schöne Träume können anstrengend werden. Auch wenn er tiefste Liebe zu Jesus empfand, in Bezug auf dieses Thema hielt er sich seinen Patienten gegenüber zurück. Wenn er sie wirklich hatte, die heilenden Hände, dann würden sie auch wirken, ohne dass er mit seinen Schäfchen über den Glauben sprach. Er ist Psychologe und kein Priester, denn wäre er ein Priester, dann hätte er ja wieder Vorgesetzte.
Um halb sieben Uhr sperrte er sein Auto ab. Rechtzeitig, ja, aber die Zeit war dennoch knapp. Er hatte noch zu lüften, herzurichten, er hatte ganz vergessen, was er alles zu tun hat, bevor der erste Patient in Anmarsch war. Sonst hatte er seinen ersten Termin immer um neun Uhr und war in der Regel um 8.00 schon hier.
Gestern Abend bis nach acht, heute morgen um Viertel vor sieben - was tut man nicht alles für Nadja! „Wehe sie kommt nicht!“, sagte er laut und ballte die Faust.
Ging es eigentlich noch darum, ob sie kam, oder ums Gewinnen? Bei diesem Gedanken öffnete er wieder seine Hand, er sprach: „Ganz ruhig, Junge. Wenn sie nicht kommt, muss ich mir in aller Gefühlsneutralität überlegen, was ich als Nächstes tue.“
6.46 Uhr, Robin arbeitete wie ein Verrückter. Jetzt hatte er Kaffee aufgesetzt, den Tisch gedeckt, er hatte ein Bild abgehängt, ein anderes aufgehängt, die Vorhänge an der Seite befestigt, damit auch die volle Morgensonne eintreten kann. Er hatte eine Kerze angezündet und bei einem Blumentisch Dreck weggewischt. Da sieht er schon wieder Dreck, er läuft in die Küche, der Kaffee ist durch......
6.52 Uhr, es klingelte. „Gott sei Dank, sie kommt“, sagte er.
Nadja stellte ihre Schultasche im Gang ab. Sie duftete nach Dusch-Seife, ihr Haar fiel locker über das Gesicht als sie sich bückte. Sogar die Schuhe sahen sauber aus. Es würde sicherlich in der Schule auffallen, dass sie plötzlich so frisch war. Robin fiel es nicht auf, er war zu sehr im Stress.
„Schön, dass du so früh morgens Zeit für mich hast“, sagte er und versuchte zu verstecken, dass er am Schwitzen war.
„Ich denke, ich hab’ was gut zu machen“, sagte sie.
„Magst du Kaffee?“, fragte er und hielt die Kanne hoch, sie lehnte aber ab.
„Na dann erzähl’ mal“, fing er an, sich selbst einschenkend.
Nadja hasste das. Was sollte sie erzählen? Dass Achsel ein Sadist ist oder dass sie gestern nichts getrunken hatte? Sollte sie von dem Ärger mit den Bullen erzählen oder von der schlechten Note in Geschichte? Es gab sowieso nur Negatives zu berichten, so wie immer.
„Ich hab’ nur schlechte Neuigkeiten“, sagte sie.
„Und die wären?“
Doch als sie den Mund aufmachte, fuhr er dazwischen, um sich zu verbessern:
„Stopp, stopp, entschuldige. Irgendwie....habe ich heute...noch keinen Kaffee gehabt....“
Er wollte ihr sagen, dass sie etwas sagen soll, was sie sich vom Herzen reden will, doch sie unterbrach ihn:
„Süchtig?“, fragte sie.
„In der Tat, könnte sein. Wenn ich morgens überhaupt keinen Kaffee trinke, dann geht es mir merkwürdig schlecht.“
Er nahm einen Schluck und sagte: „Also, gibt es etwas, was du erzählen willst? Ich meine nicht mir erzählen willst, sondern überhaupt erzählen willst. Wir können auch vereinbaren, dass ich so tue, als wäre ich nur ein Tagebuch und auf nichts eingehe was du sagst, dass es also ausschließlich darum geht, dass du etwas loswirst, ohne dass es verarbeitet werden muss. Wäre das eine Idee?“
„Dann schreibe ich es lieber ins Tagebuch“, sagte sie und wich seinem Blick aus. „Du willst doch sicher erst mal wissen, was die Polizei so zu meiner nächtlichen Aktion meint und was für Konsequenzen das jetzt hat.“
„Nein!“, entgegnete er auffällig laut. „Dafür bist du nicht da, das weißt du.“
Mehr sagte er nicht, sah sie nur an. Dann, als sie seinem Blick erneut nicht standhalten konnte, trank er aus seiner Tasse.
Nadja merkte, dass er heute schlechte Laune hatte. Das war niemals so deutlich zu spüren. Diese Tatsache vermengte sich mit ihrem schlechten Gewissen und sie begann zu reden:
„Meine Eltern haben mich mit einem Jungen erwischt. Sie haben sich tierisch aufgeführt und haben ihn rausgeschmissen. Es war todes-peinlich. Es war so peinlich, dass ich sie angeschrien habe, so wie immer halt. Dann hat mein Vater mich gepackt......“, sie stockte kurz, starrte mit aufgerissenen Augen in Robins Gesicht, redete schnell weiter:
„Ich bin abgehauen, nach München, zu meinen Freunden halt. Dort habe ich Achsel wieder getroffen. Der hat mich so fertig gemacht wegen der Sache, da bin ich eben ausgeflippt. Na ja, es war so: Wir haben Flaschen zertrümmert, am Bahnsteig unten.“
„Nadja“, unterbracht er wieder ziemlich laut, „jetzt gibst du ja doch einen Bericht ab. Du bist hier nicht im Beichtstuhl. Ich will, dass es dir besser geht, wenn du hier rausgehst, nicht schlechter. Also wenn es dir gut tut, mir dies alles so zu berichten, dann mache von mir aus weiter, aber wenn du mir lieber erzählen willst, wie schön die Schneelandschaft ist, dann erzähl’ mir dies.“
„Okay, okay, ich weiß ja, aber Berichte liegen mir besser.“
Robin schmunzelte, „In der Schule auch?“, fragte er.
Doch Nadja verzog das Gesicht, „könnten wir heute vielleicht das Thema Schule ausklammern, ja?“
„Können wir.“, sagte er und schwieg.
Nadja sagte aber nichts mehr, also fing Robin an: „Und wie geht es Achsel jetzt?“
„Achsel? Hoffentlich schlecht“, gab sie lautstark zurück.
„Oh! Ist er....“
„Er ist ein Schwein.“, sie holte tief Luft.
Sie mochte es normalerweise nicht, wenn Robin sie genau da hatte, wo er sie haben wollte, doch wenn es denn soweit war, dass sie ihr Herz ausschüttete, dann tat es doch so richtig gut.
„Er hat mich so mies behandelt, so mies!“
Bei Felix gab es heute morgen Bienenstich. Er liebte Bienenstich, doch eigentlich hätte er lieber gar kein Frühstück. Er wollte endlich ausziehen von daheim und hatte kein Geld dafür. Nächstes Jahr stünden die Chancen besser, da bekäme er vielleicht ein Studentenzimmer im Olympiadorf in München. Er stand kurz vor dem Abitur und es sah wirklich gut aus mit den Zensuren. Danach wollte er Chemie studieren. Er würde in München als Barkeeper jobben, mit Heike war das schon ausgemacht. Alle Leute, die Ihre 40-Stunden-Woche arbeiten, sind frustriert, Studenten aber verstehen es zu feiern. Felix würde lieber feiern. Wenn er in München wohnen würde, vielleicht käme er dann von Nadja los...
„Nadja“, schoss es ihm durch den Kopf, der etwas schmerzte, „oh ja! Was war in den letzten beiden Tagen doch alles passiert! Sie ist jetzt seine Freundin, vorgestern Nacht war sie das jedenfalls. Und das Auto! Das stand ja gar nicht vor der Tür, es war noch immer in München. Wieso hatte er es nur gestern nicht geholt? Aber da war das Konzert und er hatte wieder ein paar Biere getrunken... Er musste also erneut mit dem Bus nach Puchheim fahren. Schnell schoss er hoch, zog sich an und sah auf die Uhr: 7.15 Uhr, das würde er niemals schaffen. Also Fahrrad, auch wenn’s eine Weltreise ist.
Seine Mutter fragte was los sei.
„Ich hab’ kein Auto hier.“
„Wieso, wo steht es denn?“
„Hätte ich etwa besoffen fahren sollen?“, gab er zurück, weil er nicht zugehört hatte, was sie fragte.
„Und was machst du jetzt?“
„Fahrrad.“
„Bist du verrückt? Es ist überall Glatteis, kein Mensch fährt heute Fahrrad.“
„Ich muss aber rechtzeitig da sein, wir schreiben eine Klausur.“, sagte er und dachte an ein Taxi.
Die Mutter war zum Telefon gelaufen, sagte im Gehen: „Ich frag’ Mertens, ob sie dir ihres leihen.“
Felix stellte den Fahrersitz nach vorne, dann schob er seine Disk in den Schlitz. Er drehte die Heizung auf. Doch der Karren war eiskalt, der Motor war seit Monaten nicht mehr in Gang gebracht worden. Die Scheiben waren verstaubt. Als er versuchte, sie sauber zu machen, gefror das Wischwasser an der Scheibe, es verschmierte der Dreck. Felix musste anhalten, um mit dem Kratzer die Scheibe freizumachen. Gott sei Dank hatte er einen in der Jackentasche, denn im Auto war keiner. Es war das dritte Auto der Mertens, sie waren aber nur zu zweit. Sie hatten einfach viel zu viel von allem. Wenigstens waren sie großzügig, wenn man sie um etwas bat.
Felix fand keinen guten Parkplatz mehr, er kam etwas zu spät völlig entnervt an. Dennoch würde er seine Arbeit gut machen, der Lehrer wusste das, Felix wusste es auch. Selbst wenn er während der ganzen Klausur an Nadja dachte, wie er sie im Arm hielt, wie er sie küsste, die Erfüllung seiner kühnsten Träume....
Felix war einfach gut in der Schule. Andere mussten sich plagen, stundenlang lernen, Felix las es sich einmal durch und behielt es. Er verstand den Inhalt, deshalb musste er nicht lernen. Gottes gute Gabe, irgendeine davon hat jeder mitbekommen, sogar Nadja. Sie hat Anmut und Schönheit, Witz und Charme, sie ist einfach cool. Nadja hat keinerlei Angst vor Autoritäten, überhaupt keine Angst, Brunhilde, ekelhaft kalt, unbesiegbar. Sie hat selbst die Eigenschaften, die sie an Männern so schätzt. Sie ist eben selbst wie ein Mann, sie sucht einen Rivalen, mit dem sie ihre Machtkämpfe austragen kann.
Felix hingegen hat eine Hand voll weibliche Seiten, sein Fleiß, seine Genauigkeit, das Streben nach Perfektion, seine Eitelkeit. Eine gekränkte Eitelkeit leider. Erstens, weil ihn Nadja nicht als schön empfand, zweitens, weil er so klein war, drittens hatte er so schrecklich burschenhafte Gesichtszüge: Es wuchs ihm kein Bart, seine Lippen waren dick und rosa. Viel zu rosa für seinen dunklen Teint. Oh, wenn er doch gewusst hätte, dass er in Wahrheit wunderschön aussah!
Er ist aber sicher nicht der einzige Mensch auf der Welt, der genau der sein wollte, der er nicht war.
Nach der Klausur traf er Nikolai, der ihn sofort fragte, weshalb er zu spät war, denn dies passierte selten. Begeistert erzählte er von Nadja.
Nikolai lächelte: „Und du denkst wirklich, das geht gut mit der?“
Felix schüttelte den Kopf: „Nein, leider denke ich das nicht. Heute hat sie mich vielleicht schon wieder vergessen, aber diesen einen Abend, den kann mir niemand mehr nehmen.“
Er lächelte verzückt.
„Ich wünschte, ich wäre deine Freundin, Felix“, sagte Niko.
Niko war Felix sehr ähnlich, auch er war klug, auch er war klein. Er trug eine dicke Brille und saubere Kleidung. Seine Eltern waren erfolgreich, doch ihnen nützte das wenig, denn sie waren mit Niko nicht sehr glücklich. Als Junge übersprang er zwei Schulklassen, weil er hochbegabt war. War? Jawohl, dies schien sich nicht bestätigt zu haben, denn später galt er als ADS-Kind und bekam Psychopharmaka. Sein schulisches Genie kehrte dadurch zurück, doch seine Gesundheit machte immer wieder Ärger. Niko war noch schmächtiger als Felix, man sah ihn niemals essen oder trinken, meist war er blass wie der Tod. Eine Grippe nach der anderen zwang ihn ins Bett. Dadurch sank sein Notendurchschnitt oftmals besorgniserregend ab.
Auch Felix machte sich Sorgen um ihn. Wenn Niko krank im Bett lag, war er so kreidebleich, dass man fürchtete, er könne jeden Augenblick sterben. Die Eltern taten sicher ihr Bestes, doch das Beste ist eben oft nicht gut genug.
Niko machte sich hingegen in gleichem Maße Sorgen um Felix, weil er Zeit seines Lebens immer nur dieser doofen Nadja hinterher stieg. Seine ganze Energie vergeudete er an dieses komische Mädchen. Wenn es wenigstens ein hübsches, liebes Wesen gewesen wäre, aber nein, es war das letzte, abgestürzteste Weibsbild, das man sich nur vorstellen kann!
Niko und Nadja hassten sich, sie begegneten sich aber praktisch nie, deshalb war das kein Problem, auch für Felix nicht. Nadja verabredete sich sowieso so gut wie nie mit ihm. Niko hatte es aufgegeben, seinem Freund bei den nächtlichen Kneipentouren Gesellschaft zu leisten, denn er hatte verstanden, dass Felix sowieso nur nach Nadja suchte, nicht aber mit ihm ausgehen wollte.
Dass Nadja Felix nun endlich erhört hatte, freute Niko einesteils für seinen besten Freund, es gab Zeiten, da hatte er sich das gewünscht. Jedoch ahnte er, dass das nicht gut ausgehen konnte. Er hatte eher gehofft, es könnte Felix eine Bessere über den Weg laufen. Ja, er träumte davon, Felix und er gingen auf einen Studentenball, wo sie gemeinsam zwei süße kleine Mädchen treffen würden, schüchtern, intelligent, anständig.
Das Leben lebte sich aber von selbst; genau genommen wollte Niko noch gar keine Freundin.
Nadja hingegen dachte nicht einen Moment lang an Felix. Sie hatte gerade an etwas anderem zu Kauen: In ihrer Schulbank sitzend dachte sie über das Gespräch nach, das sie eben hatte. Heute morgen hatte sie Robin so Einiges verraten, was sie ihm nicht hätte sagen wollen: Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Vater ihr immer noch Ohrfeigen gibt, dass sie auf fiese Schweine wie Achsel einfach abfährt, dass sie seit Achsel vom Sex die Schnauze voll hat, wie viel Alkohol sie wirklich trinkt, dass sie nicht glaubt, die Schule schaffen zu können und noch ein paar kleine Geheimnisse. Sie hätte sich ohrfeigen können, wenn sie daran dachte, was sie alles ausgeplaudert hat. Zu guter Letzt musste sie auch noch weinen. Warum eigentlich? Wenn sie es nicht anders gewusste hätte, dann hätte sie behauptet, sie wäre betrunken gewesen.
Als sie weinte, sagte sie Robin, sie würde todsicher in der Hölle landen.
Und er sagte dann: „Wenn du denkst, du landest wegen diesen Sachen in der Hölle, dann hast du wirklich keine Ahnung was für Gott das Wort ‚Vergebung’ bedeutet“.
Er reichte ihr ein Papiertaschentuch.
„Und was bedeutet es deiner Meinung nach für ihn?“, gab sie patzig zur Antwort und riss ihm das Tuch aus der Hand.
„Das Wort Vergebung hat für Gott eine Bedeutung, die den Ausdruck ‚Unendlichkeit’ übersteigt“, antwortete er mit einer Sicherheit als wäre er selbst Gott.
„Nadja!“, sagte die Lehrerin eindringlich, doch Nadja konnte nicht antworten, sie hatte nicht gehört, was Frau Kellner gefragt hat.
„Bei der Arbeit!“, sagte sie, so wie sie immer eine möglichst frech-fröhliche Antwort gab.
Doch dieses Mal stand nicht das nötige Pulver dahinter. So eine Antwort hätte gepasst, wenn sie gerade geschlafen oder geschwätzt hätte. Hatte sie aber nicht. Was war nur los mit ihr? War sie krank? Frau Kellner hatte sie extra dran genommen, weil sie heute so aussah, als wäre sie wach. Schließlich musste es die Lehrerin schaffen, Nadja noch ein oder zwei gute mündliche Noten zu verpassen, wenn sie wollte, dass sie in Geschichte nicht durchfiel.
„Offensichtlich nicht“, gab Frau Kellner also zurück und nahm jemand anderen dran.
In der Pause ging Nadja allein ihre Wege. Sie wollte mit niemandem reden, doch sie wusste, so leicht war das nicht. Nadja war äußerst beliebt bei denen, die es nicht so mit dem Fleiß in der Schule hatten, bei denen, die auch sitzen blieben, die sich versteckten, um zu rauchen, die das Klassenbuch veränderten, die schwänzten, Hausaufgaben abschrieben, den Lehrern das Leben schwer machten. Heute war sie zu solchen Scherzen aber nicht aufgelegt.
Melli kam zu ihr her: „Na, wie war’s denn vorgestern mit Felix?“
„Felix“, wiederholte Nadja als hätte sie den Namen niemals gehört. „Ach ja, er ist echt nett, viel zu nett.“
„Also war nichts.“
Nadja schüttelte den Kopf, „der traut sich doch nicht.“
„Trotzdem hat er ein tolles Auto.“
„Was hat er überhaupt für ein Auto?“, wollte Nadja wissen.
Sie sorgte für Gelächter. „Wieso weißt du das nicht, aber Melli schon?“, fragte Lydia, die hinzugekommen war.
„Er hat mich mit dem Taxi heim gefahren.“
„Ist dem Auto was passiert?“, fragte Melli, ganz offensichtlich um das Fahrzeug besorgt.
„Ich denke, du bist wohl in das Auto verknallt“, sagte Nadja und lächelte etwas sauer, „aber ich kann dich beruhigen, es steht immer noch da, wo es zu Letzt stand.“
„Wieso ist er dann nicht damit gefahren? Er hätte ja einen kleinen Abstecher am Waldrand mit dir machen können... Jeder hätte das so gemacht.“
„Er hat gesagt, er hat zu viel getrunken, dabei war er viel nüchterner als ich, er ist einfach schrecklich vernünftig!“
Die sich mittlerweile um sie versammelte Schar ging in höllischem Gelächter auf. Im Normalfall genoss Nadja solche Situationen, doch dieses Mal war ihr nicht ganz wohl dabei. Schließlich hatte sich Felix wie ein echter Gentleman verhalten. Zudem war er immer noch ihr Freund, sie hatte bisher nicht Schluss gemacht. Bei jedem anderen wäre ihr das wirklich egal gewesen, denn von den anderen wurde sie auch mies behandelt, die lästerten ebenso über sie bei ihren Freunden. Und wenn dem nicht so war, wenn mal ein Anständiger darunter war, dann war er ihr egal, so egal, dass sie ihn einfach vergessen konnte. Bei Felix war das anders, er war schon so lange ein Freund. Sie hätte sich nicht einlassen dürfen auf ihn. So beschloss sie, sich heute Nachmittag mit ihm zu treffen, um Schluss zu machen. Sie würde ihm das schonend erklären, ganz schonend.
Als die Schule aus war, stand ein Auto auf dem Lehrerparkplatz, welches sehr ins Auge stach: Es war ein Manta, leuchtend metallic blau mit silbernen Zierstreifen und goldenen Radkappen. Darin lehnte lässig ein gutaussehender dunkler Typ mit reichlich Gel im dichten schwarzen Haar. Er trug eine Sonnenbrille mit schmalen dunklen Gläsern, sportlich cool und eine ausgewaschene Jeansjacke. Intensiv beobachtete er die heraus stürmenden Schüler, eindeutig war er gekommen, um jemanden abzuholen.
Ein Lehrer kam auf ihn zu, stellte ihn zur Rede, weshalb er hier parke. Der junge Mann erklärte, dass er hier nicht parke, weil er das Auto nicht verlassen hat. Er dachte sich, fuhr er fort, nachdem der Parkplatz halb leer war, würde es nicht stören, wenn er kurz hier stehen bliebe, um seine Schwester abzuholen.
Herr Herold sah sich um und sagte: „Das ist im Moment akzeptabel, aber seien Sie gewarnt, geparkt wird hier nicht.“
„Würde ich niemals tun“, vergewisserte ihm der Junge breit grinsend.
Herr Herold sah die Masse an Schülern streng an, die spannend das Gespräch belauscht hatte.
„Na, wer ist denn jetzt die besagte Schwester, damit wir dieses komische Auto hier bald wieder loswerden?“
„Ich“, sagte Nadja, trat vor und ging auf das Auto zu.
Sie hatte ihn erst nicht erkannt, aber an der Stimme dann: Dieser Mensch in dem komischen Auto war tatsächlich Felix. Beifall und Pfeifen begleiteten sie, als sie, wie auf einem roten Teppich, ihrem größten Bewunderer entgegen trat. Sie lächelte gekünstelt, dachte sich aber:
„Oh, Felix!“
„Wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.“, murmelte ihr im Vorbeigehen der Lehrer zu.
„Jeder Mensch hat mindestens einen Bruder, Herr Herold.“
Nun musste auch er lächeln: „Ach so ein Bruder ist das.“
Nadja drehte sich erneut nach ihm um: „Da täuschen Sie sich“, sagte sie ernst.
Wie auch immer, Felix war nicht so ein Bruder, auch wenn er eben eine Show abzog, die nichts über seinen wahren Charakter verriet. Als sie kam, stieg er aus und machte ihr die Tür auf. Sie sah ihn missbilligend an.
„Was ist, gefällt dir mein Auto nicht?“
„Das bist nicht du, Felix.“, entgegnete sie, doch im selben Augenblick tat es ihr leid; sie verbesserte sich, strich ihm über die Wange und sagte:
„Tolles Auto.“
Herr Herold stand noch immer da und begutachtete das Fahrverhalten des Jungen. Felix wusste das, auch er ließ ihn nicht aus den Augen. Er verhielt sich so korrekt wie möglich. Nur die Musik machte er etwas lauter. Es hallte ein Lied in Nadjas Ohr, es war wie verhext, dieses Lied sagte genau, wie Nadja sich fühlte.
„Woher hast du so ein Auto?“, fragte sie.
„Ehrlich gesagt, hat es mir mein Halbbruder vermacht.“
„Vermacht?“, fragte sie nach.
„Keine Sorge, er ist nicht gestorben, er ist nur in Amerika.“, erklärte Felix überzeugend.
„Es ist also nicht deines?“, gab sie enttäuscht zurück.
„Doch. Der kommt nicht wieder“, sagte Felix und setzte die Sonnenbrille ab.
„Warum?“, wollte sie wissen.
„Er hat dort geheiratet, deswegen.“
Das war alles komplett gelogen. In Wahrheit hatte er keinen Bruder, das Auto gehörte ihm. Er hatte es nur aus einem einzigen Grund gekauft: Es war billig. Der Wagen war schon fünfzehn Jahre alt. Aufgrund seines auffälligen Designs wollte ihn anscheinend niemand haben. Es war wirklich das Beste, was er bekommen konnte für seine 800 Worlddollars. Allerdings waren die laufenden Kosten erschreckend hoch, Felix fürchtete, das Auto nicht halten zu können.
Allein dies, dass er Nadja damit von der Schule abgeholt hatte, war es jedenfalls wert, dass er es hatte.
„Du siehst so anders aus, Felix, richtig gut“, sagte sie mit dem ehrlichsten Lächeln, welches sie je an den Tag gelegt hatte.
„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben“, sagte er, legte seine Hand auf ihr Knie und blickte ihr ins Gesicht.
„Darf ich dich was fragen?“, sagte sie ernst. Ihr fiel auf, dass sie am heutigen Tage andauernd Dinge ans Licht bringen musste.
„Alles“, gab er zur Antwort. Er dachte sich, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dass sie mit ihm sprach, nur sprach.
„Warum stehst du eigentlich auf mich?“
Felix sah sie geknirscht an. Er hatte es ja geahnt, nun würde sie sagen, dass sie gar nicht zusammenpassen, dass es keine Zukunft hatte mit ihnen. Es war ihm schon klar, dass das irgendwann kommen würde, doch er hatte gehofft, geträumt, dass es vielleicht nicht gleich heute so weit wäre.
Felix fuhr an den Rand, hielt an, stellte Motor und Radio ab. Er drehte sich zu ihr, nahm ihre Hand, sprach:
„Nadja, du kennst meine Gefühle für dich sehr gut, warum fragst du also?“
„Weil ich...ich bin doch...sieh’ dich doch an!“
Bis vor zwei Tagen, dachte sie, Felix sei zu klein für sie, zu unbedeutend, zu langweilig. Er sei ein Milchbubi, ein Muttersöhnchen, er hätte einfach nichts drauf. Aber sie hätte etwas drauf, sie wäre ein tolles Weib, eine, die Super-Typen wie Achsel um den Finger wickeln kann. Seit heute aber, als sie am Morgen bei Robin weinte, da war alles anders, nahezu auf den Kopf gestellt. Es war, als wäre sie aus einem langen Traum erwacht, plötzlich erkannte sie Gefühle und Gedanken an sich, die vorher einfach nicht da waren. Sie wusste bisher nicht, dass sie selbst auch verletzlich sein kann, dass sie sich viele Dinge im Leben verbaute, Schönes ablehnte, Schreckliches aber zuließ. Deshalb sagte sie nicht:
„Sieh dich doch an, was bist du denn, dass du meinst, du könntest mein Liebhaber sein?“, sondern sie sagte:
„Sieh dich doch an, du machst Abitur, siehst toll aus, holst mich mit dem Manta ab, trägst mich auf Händen. Ich aber hab’ das nie zu würdigen gewusst. Meine Freunde sind ganz anders als du, sie haben keine Schulbildung, sie saufen, kiffen, lassen sich gehen, so wie ich eben auch.“
Felix senkte den Kopf. Wieder konnte er ihr nicht gerecht werden. Hatte er nicht auch das versucht? Gerade das! Nächtelang ist er in Kneipen herum gehangen, hat getrunken, nicht weil er wollte, sondern nur für sie. War sie blind?
Felix richtete den Kopf wieder auf. Vielleicht war ja das jetzt falsch hier, mit dem geputzten Auto und der Schleimfrisur. Oder sollte er endlich versuchen, so zu sein, wie er ist?
Es würde nichts davon richtig sein, nicht in Nadjas Augen. Die Lösung war offensichtlich: Er musste dieses Mädchen aufgeben, wenn er raus wollte aus dem Schlamassel. Aber jetzt noch nicht. Solange sie nicht mit ihm Schluss machte, würde er es auch nicht tun. Sie sollte sich zumindest die Mühe machen, es ihm zu sagen.
„Nadja“, sagte er also, „sag’ was du willst und ich tue es für dich!“
Sie blickte ihn fragend an.
„Wenn du auch Schulbildung haben willst, dann verhelfe ich dir dazu. Ich gebe dir nächtelang Nachhilfe, würde ich gerne machen. Wenn du willst, dass ich mit dir zum Saufen gehe, dann tue ich das, auch nächtelang. Das wusstest du immer, dass ich so bin zu dir. Also, welchen Stern soll ich dir vom Himmel holen?“
Nun fühlte sie sich wie in einem Liebesfilm. Sie strich über sein Gesicht. Er hatte einen Bluterguss an der Schulter. Es interessierte sie, woher der stammte. Wurde er auch geschlagen von seinem Vater?
Felix hatte gar keine Bartstoppeln. Dass er aber so aalglatt im Gesicht wirkte, das lag nicht nur daran, dass er keinen Bartwuchs hatte, sondern vielmehr daran, dass er so perfekt gepflegt aussah. Daran sollte er unbedingt etwas ändern.
Und was war mit seinen Augen? Groß und schwarz, ja, aber seit wann sind die so schön? Er hatte sich wirklich gut im Griff, Nadja kam sich ihm gegenüber nun sehr, sehr schmuddelig vor. Verlegen strich sie ihr Haar aus dem Gesicht, versuchte zu lächeln und legte ihren Kopf an seine Brust.
Er war überrascht, hatte er doch gedacht, es wäre aus mit der Beziehung. Vorsichtig und zart streichelte er ihre Haare. Ob es nicht besser gewesen wäre, für beide, wenn jetzt Schluss wäre?, dachte sich Felix während er ihre Nähe genoss.
Robin seufzte, zwei Patienten hatten abgesagt. Niemals hätte er selbst so kurzfristig etwas abgesagt. Aber gut, so hatte er nun wenigstens Zeit, ausgiebig zu Mittag zu essen und sogar um sich eine halbe Stunde aufs Ohr zu hauen. Der nächste Termin war erst um 16.00 Uhr, jetzt war es gerade mal 13.15 Uhr. Karlchen würde sich freuen, so viel war sicher.
Robin ging zum Einkaufen, endlich mal wieder, er hatte gar nichts mehr daheim. Geld hatte er wie Heu, aber die Zeit es auszugeben, fehlte ihm.
Sicher, er hatte meist ein Ziel, auf das er sparte oder er machte eine Spende nach Afrika, aber viel lieber wäre er, mit wem auch immer, ausgegangen. Er traf ja niemanden mehr außer seine Patienten in der Praxis. Nächsten Monat liefen zwei Therapien aus, die Patienten wollten beide pausieren, da würde er endlich mal keine neuen mehr aufnehmen, was genug ist, ist genug. Schließlich ist er ja nicht der Einzige, der diesen Beruf ausübt.
Was aber ist mit der Warteliste? Er hatte drei Ehemalige auf der Liste für eine neue Therapie. War’s wieder nichts!
Es wäre schon zu schaffen, wenn nicht andauernd jemand absagen würde, den er dann zu anderer Zeit einschieben musste. So war es überhaupt nicht mehr vorhersehbar, wann er frei hatte.
„Das Problem liegt im System“, sagte er laut vor sich hin. „Ich muss mir Zeiten frei halten, an denen ich niemals nie und nicht Termine ausmache. Wie oft habe ich diesen Tipp schon meinen Patienten gegeben?“
Als Robin den Supermarkt betrat, entdeckte er Nadjas Mutter. Sie sah nicht sehr frisch aus. Robin mochte sie nicht, denn für ihn war klar, dass Nadjas Eltern das Leben seiner Patientin so bitter machten. Dennoch grüßte er die Frau. Verlegen sagte sie „Grüß Gott“ und blickte weg.
„Na, wie geht es so daheim?“, fragte er, als er von hinten an sie herangetreten war.
„Wegschauen ist keine Lösung, Frau Silberbach“, dachte er sich.
Ohne ihn richtig anzusehen sagte sie: „Ehrlich gesagt, nicht so gut wie es sollte, Herr Dr. Hoffmann“.
Ihr Gesicht sah alt aus, ihre roten Haare umspielten es wie durchsichtiger Flaum.
„Ja ich weiß, Nadja hatte wieder einen Ausrutscher, aber heute war sie wirklich ganz guter Dinge“, entgegnete Robin möglichst locker.
Ihm ging durch den Kopf, dass es nicht der richtige Weg war, Mira Silberbach im Supermarkt zur Rede zu stellen. Er hätte sie zu sich einladen sollen, ein Elterngesprächstermin wäre ohnehin fällig gewesen. Nun wurde sie immer blasser, sie wirkte irgendwie krank.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Oh, ich,... tut mir leid, ich bin etwas erkältet...“, sie blickte auf den Boden, dann schnell wieder nach oben. Sie hatte schrecklich dunkle Augenringe.
„Ihnen kann man ja sowieso nichts vormachen“ fuhr sie fort, nun traf ihn ihr Blick, er kam von weit weg, „also gut: Mein Mann und ich haben uns getrennt. Ich habe überhaupt kein Geld mehr und muss jetzt eine Wohnung suchen. Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll. Wenn doch nur Nadja nicht andauernd Mist bauen würde!“
„Oh je“, sagte Robin wenig mitleidig und blickte in ein sehr verzweifeltes Gesicht mit einem Veilchen rechts am Auge. Die Augenbraue war mit einem Riss durchschnitten.
Robin war verzweifelte Gesichter wirklich gewohnt, aber dieses war das schlimmste, das er seit Wochen gesehen hatte. Normalerweise verstand er es gut, Dinge an sich abprallen zu lassen, doch bei Nadja war das anders geworden, er hegte Gefühle der Verantwortung ihr gegenüber, so als wäre er selbst an ihrem Lebensweg beteiligt. Dass ihr, abgesehen von dem Krach mit den Eltern, auch noch der Krach der Eltern untereinander zuteil wurde, fand er gar nicht gut. Irgendwie jedoch fließt ja alles ineinander. Die Probleme der Eheleute gab es wohl schon länger. Es würde vielleicht gar keinen entscheidend negativeren Einfluss auf Nadja haben, wenn sich die Eltern trennten. Dennoch, das Elterngespräch war eben überfällig und nun wurde es noch überfälliger.
„Wir sollten uns dringend mal treffen, Frau Silberbach“, sagte er während er dachte, dass sie unbedingt selbst eine Therapie bräuchte oder einen Seelsorger. Wenn ihr Mann sie schlug, dann gäbe es doch Mittel und Wege das zu verhindern. Wie konnte man nur so schwach sein, wenn man ein Kind hat!
„Ja, aber ich brauche etwas Zeit, Herr Dr. Hoffman, ich muss erst selbst klar sehen, bevor ich mich wieder um Nadjas Probleme kümmern kann, das müssen Sie schon verstehen.“
Ihre Finger klammerten sich am Griff des Einkaufswagens fest. Ließe sie los, so würde sie fallen.
Robin wurde dieser Anblick allmählich zu viel. Er dachte an seine Papageien, an sein Mittagessen, daran, die endlich erworbenen Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen und sich noch etwas hinzulegen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er in der Hoffnung sie würde ablehnen.
„Nein danke“, entgegnete sie, „es ist viel genug, dass Sie Nadja helfen.“
„Man sieht Ihnen an, dass Sie Einiges mitmachen“, fuhr er fort.
„Weil ich so blass bin? Ich weiß, aber das kommt eher von der Nachtschicht.“
„Oh Mann!“, dachte er sich. Wie konnte sie jetzt auch noch arbeiten gehen? Sie sollte sich gefälligst endlich um Nadja kümmern, sonst nichts! Musste das Robin alles alleine machen, als ihr Psychologe? Wozu hat Nadja denn überhaupt Eltern? Robin konnte nicht mehr schweigen, eine angestaute Wut brach aus ihm heraus, die schon lange an den Tag kommen wollte:
„Muss das denn sein, Frau Silberbach? Ich meine, es ist doch wirklich jedem bekannt, dass wenn Eltern immer nur arbeiten müssen, dass dann die Kinder zu kurz kommen. Außerdem haben Sie ja Geld, Ihre Familie ist im ganzen Ort bekannt für ihr Vermögen.
Sie müssen nicht arbeiten, kümmern Sie sich lieber um ihre Tochter. Sie haben ein Kind, das andauernd große Probleme hat, in jedem Bereich. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass das nicht an Nadja selbst liegt, sondern daran, dass niemals jemand ein offenes Ohr für sie hat? Hören Sie auf zu arbeiten, Frau Silberbach, das wäre vielleicht ein Anfang.“
„Aber ohne Geld kommen wir nicht weg von hier“, sagte sie verzweifelt.
„Wer wir?“, Robin fühlte erneut Zorn in sich. Es war jene Wut auf diese Art reicher Eltern, die das Wichtigste im Leben in den Dreck werfen. Sie denken immer nur an sich. Was ist ihnen eigentlich wichtig? Geld, Besitz, Zukunft, das Haus, der Hund, Erfolg, Ansehen? Von allem etwas sicherlich, nur Eines nicht: Ihr eigenes Kind. Warum haben sie Kinder?
„Nadja und ich.“, sagte Mira leise.
„Wovon wollen sie denn wegkommen, was wollen Sie erreichen?“, bohrte er nach, außer Acht lassend, dass sein Gegenüber immer zittriger wurde.
„Von dem Mann weg. Wir müssen uns eine Wohnung mieten, brauchen Geld für Kaution und Umzug. Ich muss ein Einkommen haben, damit wir überhaupt als Mieter genommen werden.“
„Sie sind doch wohlhabend, was haben Sie denn gemacht, mit all dem Geld?“
„Das Haus,...er hat...“ faselte sie, doch dann senkte sie ihren Kopf sehr tief, es wurde ihr offensichtlich schwindelig, „Entschuldigung, aber ich muss jetzt weiter, wir sollten ein andermal reden, nicht hier.“
Robin sah sich um, in der Tat hatten sie einige Blicke auf sich gezogen. Als er zurückschaute, war Mira weg, hatte den Einkaufswagen stehen lassen, war geflüchtet, verschwunden, einfach weggerannt. Im Wagen lagen ein abgepacktes Brot, ein Päckchen Fleischwurst, ein Pfund Butter, Äpfel, Karotten, Kartoffeln und eine Tüte Milch.
Es tat ihm leid, er fühlte sich schuldig. Ganz schön dumm stand er jetzt da mit den beiden Wägen, nachdem er jemanden niedergetrampelt hat, der sowieso schon am Boden lag. Ausgerechnet er, der er doch immer nur helfen will.“
Renata stoppte mit Lesen und sah Ihrer Mutter in die Augen. Nun war Mira zum ersten Mal in der Geschichte erschienen. Sie wusste, es würde nicht das letzte Mal sein.
„So war es nicht“, sagte sie in die Runde.
„Wie war es dann?“, fragte Renata.
Mira dachte nach. „Ich hatte den Job gar nicht angenommen in dem Altenheim, es gab also keine Nachtschicht. Und außerdem gab es keine Geldnot, das war nicht das Problem. Wie kommst du nur darauf?“
„Du hast mir das so erzählt, Mami.“
„Nein, das habe ich nicht.“, gab sie zurück.
„Du hast mir von dem Nachtjob erzählt und dass du jetzt unbedingt arbeiten musst, damit du für uns sorgen kannst.“
„Okay, okay, das war gelogen“, gab sie zu.
„Wieso erzählst du so was?“, mischte sich Anna ein.
„Ich denke, ich weiß, warum sie das tat“, sagte Renata.
„Warum?“, wollte Anna wissen..
„Sie war verzweifelt, wahrscheinlich spielte sie mit dem Gedanken, sich finanziell unabhängig zu machen von Mike. Er hatte ja das ganze Geld an sich gerissen. Sie hat mir von dem Job erzählt, um zu sehen, wie ich darauf reagiere, wenn sie ihn annähme. Sie war durcheinander damals. Die Geschichte stimmt schon so, zumindest von den Gefühlen her.“
„Wie wär’s, wenn wir hier Schluss machen für heute?“, fragte Fred, den das Gehörte offensichtlich nicht sehr begeisterte.
Auch Anna und Mira blickten müde drein. Sie beschlossen gemeinsam den Abend ausklingen zu lassen.
„Es ist eine interessante Geschichte“, sagte Anna zu Renata, „wirklich erstaunlich, wie du damals warst, ich hätte das nicht gedacht.“
„Was meinst du?“, fragte Renata.
„Na so ein Draufgänger. Ich hatte dich immer für brav gehalten, so wie deine Mutter. Sie war so lieblich zart, als sie ein Teenager war.“
„Und dumm“, sagte Mira, „ohne dich hätte ich meine Jugend nie gelebt, Anna.“
Anna drückte Mira an sich. „Ohne dich, hätte auch ich so Manches verpasst.“
„Es war die schönste Zeit in meinem Leben, als wir beide unzertrennliche Freundinnen waren“, sagte Mira mit strahlenden Augen.
„Meine auch“, stimmte Anna zu. Die beiden Frauen lagen sich in den Armen.
„Oh Mann!“, bemerkte Fred, „ich überlege mir noch, ob ich morgen überhaupt so einen Frauenabend mitmachen werde“, meinte er säuerlich und stand auf.
Anna zog ihn am Ärmel, „lass mich doch ein bisschen der Jugend nachweinen, mein Lieber“, sprach sie heiter, er lächelte ein wenig.
Der nächste Morgen brachte herrliches Wetter mit sich. Dies schien Anna zu beunruhigen. Fred war nicht zu sehen.
„Er besorgt etwas im Tal“, sagte Anna, ihre Augen verrieten Angst.
„Was ist denn?“, fragte Mira.
„Ach, heute wird es schlimm“, sagte Anna kurz und biss von ihrem Brot ab.
„Viele Gäste?“, fragte Renata.
„Oh ja. Ich weiß nicht, wann Fred zurück ist und die Bude wird sicher voll.“
„Wir helfen dir“, rief Renata sofort.
„Nein, nein, nein!“, wehrte sich Anna entschieden, „ihr seid hier meine Gäste und nicht meine Aushilfskräfte. Macht euch einen schönen Tag in den Bergen, geht rechts den Grad ab, das ist wirklich ein wunderschöner Weg.“
„Anna“, sagte Mira und fasste sie am Arm: „Wir sind doch Freundinnen, beste Freundinnen, immer noch, oder etwa nicht?“
In Annas Augen stand plötzlich Wasser. Was war nur los? Bisher sah es aus, als gäbe es keinerlei Probleme für das glückliche Paar in den Bergen. Doch so problemlos war es wohl doch nicht.
„Du bist einsam“, stellte Mira fest während Anna ihren Kopf in den Armen versteckte und weinte wie ein kleines Mädchen.
„Es ist nicht so, wie ihr jetzt denkt, „ sagte sie als sie wieder sprechen konnte.
„Sieh mich an“, forderte sie Mira auf.
„Es ist viel Zeit vergangen, seit wir jung waren und zusammensteckten wie Pech und Schwefel, aber das hat nichts geändert. Manchmal ändert Entfernung alles, oft sogar. Aber uns, liebe Freundin, kann das nichts anhaben. Wir werden immer einander helfen, in guten wie in schlechten Zeiten. Du bist nicht allein, ich bin jetzt da.“
Anna heulte kurz auf und sagte: „Wo war ich für dich bei deiner Scheidung?“
Mira fasste ihre Hand an. „Du hast doch selbst mal gesagt, dass jeder den Weg gehen muss, den Gott ihm zuweist. Ich bin jetzt eine sehr gläubige Frau, aber als wir jung waren, da warst du diejenige von uns beiden, die näher war an Gott. Hast du das vergessen? Der Herr schickt dich dort hin, wo du gebraucht wirst. Wenn es also wichtig gewesen wäre...“
„So ist es nicht! Du kannst sehr wohl etwas vermasseln im Leben, deine Aufgabe nicht wahrnehmen. Nichts ist einfach nur vorherbestimmt, wir sind lebendig. Ich war dumm daran zu glauben ein Schicksal zu haben“, widersprach sie.
„Natürlich kannst du entscheiden, Anna, doch Gott ist bei dir. Du bist mit Gott, so wie auch ich und der Baum vor der Tür. Ich habe dich nicht gebraucht damals, darum bist du nicht gekommen.“
Nun lächelte Anna sanft: „Hier gibt es keine Bäume“.
Mira antwortete heiter: „Okay, das hätten wir geklärt.“
Es machte Spaß, Anna zu helfen. Mira stand in der Küche und schnitt sich in die Finger, während Renata das Bier auf dem Tablett verschüttete. Doch die Gäste fanden anscheinend diese ungeschickten Frauen ganz witzig, denn es herrschte eine tolle Stimmung, den ganzen Nachmittag lang. Auch Anna lebte richtig auf, sie lachte immerzu über ihre fleißigen Helfer.
Als Fred nach Hause kam, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, denn er hatte erwartet in ein Chaos zu stürzen. Er dachte, er müsse nun die Karre aus den Dreck ziehen und seine arme geplagte Frau erst mal ablösen, damit sie eine Pause machen kann. Doch im Gegenteil, er konnte gemütlich ein Bierchen mit seinen Gästen trinken, stolz über das Wetter in den Bergen erzählen, über Schneefelder, Gämsen und seine Mineraliensammlung.
Eine lustige Runde waren sie auch am Abend noch, nach getaner Tat, als sie beieinander saßen, die Gäste weg waren oder schliefen und Fred von seinen Erlebnissen in der Stadt erzählte. Es ging darum, etwas geliefert zu bekommen, Bier und Limonade vor allem, denn da waren die Lieferkosten und Termine das Entscheidende.
Mira und Renata beneideten Fred nicht um diese Probleme, denn dies bedeutete Existenz.
„Warum habt ihr eigentlich keine Kinder, ihr zwei?“, fragte Mira plötzlich. Da wurde es still.
Renata wunderte sich über ihre Mutter ein solches Thema einfach so in den Raum zu werfen.
„Was fragst du mich das?“, sagte Anna ernst.
„Es ist doch auch ganz gut so“, sagte Fred, „was hätte ein Kind denn schon für ein Leben hier?“
„Ein wunderbares“, sagte Renata wie aus der Pistole geschossen.
Anna lächelte. „Es kam keines, deshalb haben wir keines.“
„Du wirst in hohem Alter Zwillinge bekommen, die werden ganz unterschiedlich sein und andauernd streiten...“, sagte Mira mit einem Schmunzeln.
„Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst mit deinen Bibelstudien?“, meinte Fred heiter.
„Was ist jetzt eigentlich mit deinem Buch, Nadja Renata?“, fuhr er fort.
Anna sah ihn erstaunt an. „Es interessiert dich ja doch!“
„Ich musste andauernd daran denken, wenn ich ehrlich bin“, sagte er etwas ernster.
„Wieso du?“, fragte Mira.
„Liest du jetzt weiter oder nicht?“, fragte er an Renata gewandt.
„Gerne“, gab diese zurück und zog das Buch hinter einem Kissen hervor.
„Alle einverstanden?“,. fragte sie in die Runde.
Anna holte noch Getränke, dann bat sie Renata anzufangen.
Renata räusperte sich, setzte sich zurecht, begann zu erläutern:
„Also wir waren an der Stelle, als Robin Mira im Supermarkt getroffen hat und sie ihm von ihrer Trennung erzählte.“ Sie wartete kurz, ob es Einwände gab, dann fuhr sie fort zu lesen:
„Als Nadja nach Hause kam, lag die Mutter im Bett und schlief. Das war oft so, doch diesmal war es anders, es lag ein Zettel auf dem Tisch.
‚Hallo Nadja,
ich bin nicht zum Einkaufen gekommen, bitte besorge dir selbst, was zu brauchst. Wecke mich um 17.00 Uhr. Deine Mami.’“
„Ich weiß, das war ein bisschen anders, Mami, bist du trotzdem damit einverstanden?
Es ist eine Geschichte, so eine Art Gleichnis...“, erklärte sie vorsichtig.
„Okay, okay“, sagte Mira etwas ungut.
Renata fuhr fort zu lesen:
„Sieben Worlddollars lagen in Münzen auf dem Blatt. Nadja nahm das Geld und ging nicht zum Einkaufen. Im Kühlschrank war nichts, was ihr schmeckte. Aber im Küchenschrank waren Suppenpackungen. Sie rührte also das Pulver in einen Topf mit Wasser und stellte den Herd an. Das Pulver verklumpte, sie nahm den Schneebesen, versuchte es besser zu verteilen. Nadja hatte noch nicht viel Erfahrung mit Kochen. Obwohl sie oft allein war, wenn sie von der Schule kam, so war doch früher ihr Essen immer schön hergerichtet oder mit genauer Anleitung versehen. Erst in letzter Zeit kam es vor, dass sie sich selbst kümmern musste, dass die Mutter andauernd schlief. Nadja wusste noch nichts davon, dass ihre Mutter sich scheiden lassen wollte. Dass die Eltern oft stritten, war zwar nicht zu überhören, doch sie schob die Ursache auf sich selbst. Sie debattierten, nach Nadjas Ansicht, darüber, was Mira in der Erziehung falsch gemacht hat, weil Nadja so missraten war. Auch dass in letzter Zeit kein Mittagessen mehr hergerichtet wurde, sah sie als weitere Reaktion darauf an, dass sie selbst sich so daneben benahm. Sie dachte, die Eltern hätten einfach keine Lust mehr auf sie. Wer mag schon jemanden umsorgen, der einem immer nur ärgert? Sie verstand das, verzieh ihnen diese Tatsache, denn sie mochte ihre Eltern ja ebenso wenig. Die Fronten waren geklärt: Sie war die Tochter ihrer Eltern, deshalb zwang sie das Gesetz zusammen. Das war es, weshalb sie hier lebte, warum sie hier zu Essen bekam, warum sie hier Ärger bekam, wenn sie sich nicht an die Gesetze hielt.
Bald würde sie achtzehn Jahre alt werden und könnte ausziehen, das Elternhaus hinter sich lassen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass genau dies nicht möglich wäre, störte sie immens. Das war mit der Grund, weshalb sie einigermaßen regelmäßig zu Robins Therapiestunden ging. Er hatte ihr versprochen, er würde sich darum kümmern, dass ihre Bahnen wieder gerade werden. Nun war sie ja sowieso schon ziemlich alt für ein Mädchen in der neunten Klasse, aber wenn sie jetzt diesen dummen Schulabschluss nicht schaffte, dann würde sie keine Lehre machen können, so käme sie nie von daheim weg. Sie wollte nicht lernen, hatte auch keinerlei Lust, eine Lehre zu machen. Sollte sie aber dies nicht tun, dann säße sie ewig im Haus der Eltern fest. Schrecklich!“
Renata Nadja Silberbach musste ihre Tränen unterdrücken während sie dies las. In Miras Augen stand Scham. Es war schmerzlich, sich das anzuhören, doch es war nicht zu übersehen, dass es die Wahrheit war, die Renata da zum Besten gab.
Sie machte eine kurze Pause, schluckte zweimal, las dann weiter, ohne einen ihrer Zuhörer anzusehen:
„Robin versprach ihr, er würde es schaffen, sie dazu zu bewegen, die Schule mit Kraft in die Hand zu nehmen, dem etwas Positives abgewinnen zu können. So wenig sie sich das vorstellen konnte, so war es doch die einzige Lösung für ihr Dilemma. Sie fühlte sich unendlich allein auf der Welt. Ausgerechnet sie, um die sich immer alle scharen! Sie war die Sensation der Schule. Nur sie legte sich furchtlos mit jedem Lehrer an; nur sie schaffte es, sich eine Art Respekt zu schaffen, dass die Lehrer resignierten, wenn es darum ging, Erziehung walten zu lassen. Sie erkannte keinerlei Autoritäten an, weder Lehrer, noch Eltern, noch Polizei. Das machte sie überall zum Star bei den Jugendlichen ihren Alters. Doch man ist einsam an der Spitze. Dadurch, dass sie der Welt den Krieg erklärt hat, fehlten ihr richtige Freunde. Niemand konnte mithalten, niemand konnte ihr das Wasser reichen. Es gab keinen Menschen in ihrem Leben, mit dem sie offen reden konnte, dem sie ihr Herz ausschütten hätte können. Hatte sie überhaupt ein Herz?
Gewisse Eigenschaften hatte sie wohl von ihrem Vater geerbt.
Viele Leute dachten, Nadjas Herz wäre ein Stein. Die Schwachen gingen ihr, in der Angst, in den Boden gestampft zu werden, aus dem Wege. Warum sie so war, woher sie die Kraft hatte diese Position zu halten, woher das Selbstbewusstsein kam, war unerklärlich.
Für Robin aber war es erklärlich. Er wusste, dass ihr die Eltern von frühester Kindheit an eingetrichtert hatten, dass sie ein Nichts sei, ein Taugenichts, jemand, der nichts kann, nichts will und immer nur im Wege ist. Was soll aus so einem Kind schon werden?
Robin hatte oft mit solchen Fällen zu tun. Die meisten Kinder, die er behandelte, hatten Eltern mit ähnlichen Erziehungsmustern. Die armen Kinder! Diese Tatsache, dass er den Schuldigen an der Sache kannte, machte ihn wütend, so unendlich wütend. Doch er musste seine Gefühle im Zaum halten, denn auch das war seine Aufgabe, eben nicht wütend zu werden. Bei Nadja allerdings war das nicht so leicht. Natürlich mochte er Nadjas Eltern vom ersten Augenblick an überhaupt nicht. Sie sprachen über sie, als sei sie sächlich, gingen mit ihr um, wie mit einem bösen Nachbarn. Es war widerwärtig. Sie konnten überhaupt nicht zuhören, wenn Robin ihnen Tipps gab. Nadjas Vater hielt sich für super-schlau, er nahm die Sache mit der Therapie sowieso nicht ernst. Und die Mutter? Ja, die Mutter, die pflichtete ihrem Ehegatten immer nur bei und versuchte andauernd, was auch immer, zu vertuschen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, wer weiß warum. Ständig machte sie Robin etwas vor. Ihr schien ihr Kind peinlich zu sein, sie schämte sich für Nadja, vielleicht aber auch für die Bierfahne ihres Mannes. Sicher war sie harmloser als der Vater, weniger schädlich für ihr Kind. Sie schien aber ebenso wenig bereit zu sein, etwas zu tun für Nadja. Sie war ein Nichts, unfähig ohne ihren Ehegatten aufzutreten, wobei dieser nicht unbedingt so viel darstellte, dass er gleich zwei Personen repräsentieren hätte können.“
Renata hatte sich überwunden. Es tat ihr nun gut, dies vorzutragen, sie fühlte jetzt so, wie sie sich beim Verfassen der Geschichte gefühlt hatte, so als wären diese Schmerzen alle weg, wenn man sie nur aufschreibt.
Mira hingegen war traurig und lag in Annas Arm.
„Sie waren jene Eltern, die es bereuten, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben, deren Kind schon im Alter von fünf Jahren am Randstein saß, mit der Spielkonsole in der Hand, weil es zu Hause nicht willkommen war. Wenn die kleine Nadja am Bürgersteig saß, da war wenigstens noch die Hoffnung, nichts zu verpassen, wenn etwas Interessantes von statten ging. Sollte ein Kind aus der Nachbarschaft vorbeikommen, sprang sie auf und fragte: „Hast du Zeit zum Spielen?“
Nadja hatte schon Kinder, die gerne mit „Ja“ antworteten, doch meist schoben deren Eltern einen Riegel vor. Sie wussten, wenn Nadja in ein Haus eingeladen wurde, wenn man ihr den kleinen Finger reichte, dann nahm sie gleich die ganze Hand, klammerte sich an den Strohhalm. Vor solchen Häusern stand sie jeden Tag, immer wieder, teilweise halbstündlich klingelte sie, fragte nach Einlass. Man wurde sie nicht mehr los.
Was hätte man auch machen sollen? Wer will schon so belagert werden? Wer will sie denn andauernd im Hause haben?
Nadja war immer da, die Eltern gingen nirgendwo hin mit ihr. Mussten sie mal weg, dann ließen sie ihr Kind allein zu Haus. Einmal stand Nadja sogar im Regen draußen. Sie hatte bei drei Häusern geklingelt, niemand wollte sie einlassen. Sie stand im Regen und weinte. Da kam die große Schwester von Thomas gerade mit dem Fahrrad nach Hause und nahm sie mit ins Haus. Ihr tat das kleine Mädchen leid, das immer auf der Straße saß.
Danach durfte sie aber nie wieder zu Thomas.
Die reichen Silberbachs sollten sich gefälligst selbst um ihr Kind kümmern, so dachten die Nachbarn. Sie hatten wohl Recht, doch das nützte Nadja wenig.
Nadja war das Kind, das keiner mochte und sie gewöhnte sich bald daran, ebenfalls niemanden zu mögen. Sie hasste es, die Freunde anzubetteln, die Mütter anzubetteln.
So bettelte sie bald nicht mehr um Aufmerksamkeit, sie holte sie sich mit Gewalt. Immer abartiger wurden ihre Ideen, die sie in den Mittelpunkt setzten: Sie schmierte mit ihren Exkrementen herum, lief dem Nachbarn vors Auto, sie warf mit dem Ball auf Fahrradfahrer, verprügelte kleinere Kinder.
Nadja lag auf der Couch und dachte über das Kind nach, das sie war. Sie fragte sich, was bei den anderen Kindern ablief, wie es in diesen Familien aussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Eltern ihren Kindern etwas an Gefühlen geben konnten, das ihnen gut tat. Da gab es doch tatsächlich Mädchen, die nicht davon träumten, so schnell wie möglich von zu Hause auszuziehen.
Sie überlegte, ob Felix der Schlüssel zur Lösung ihres Wohnproblems werden könnte. Wenn er sie so fürchterlich liebte, ihr Zusammensein als ein Paar die Erfüllung seiner kühnsten Träume ist, dann wäre er doch sicher bereit, alles dafür zu tun. Was wäre also, wenn sie sich mit ihm eine Wohnung nehmen würde? Wenn er so ein tolles Auto fährt, muss er ja auch etwas Geld haben. Aber das hieße, dass sie mit Felix zusammenleben müsste. Ob das so viel besser wäre als das Elternhaus? Es würde ihren Ruf bei den Freunden als eiskalte Lady praktisch zerstören, wenn sie ausgerechnet bei diesem Typen wohnte.
Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Heute sah sie hübsch aus. Es war tröstlich, wenn sie sich gefiel. Nur etwas arg blass war sie. Sie kramte im Spiegelschrank nach Make-up. Ihre Mutter schminkte sich nicht, doch sie gebrauchte ebenfalls diverse Mittel, um ihre Blässe zu vertuschen. Im Spiegelschrank war nichts, sie suchte im Eckschrank weiter. Hier hatte sie auch schon mal Geld in einem Versteck gefunden. Die Mutter bewahrte an diesem Ort manchmal Geheimes auf.
Vielleicht würde Nadja ja dieses Mal auch auf einen kleinen Schatz stoßen....
Sie wurde fündig, doch was sie fand, war alles andere als ein Schatz. In einem Handtuch eingewickelt war eine Vase mit mehreren Papieren darin. Ein Bündel Blätter, darauf Miras Handschrift. Eine Überschrift fiel ihr sofort auf:
„Nadjas Schicksal“.
Sie nahm den Zettel in die Hand und las:
„Nadjas Schicksal
Wenn mir im Sommer diese coolen Jungs entgegengehen, bekomme ich große Augen und schäme mich so sehr. Ihre Haare sind schrill, die Kleidung ist heiß. Für ein paar Sekunden bin ich das Mädchen, das ich einmal war. Aber ich sehe weg, denn ich bin die alte Frau, die ich bin.
Meinen Gürtel habe ich eng gezogen, damit meine Jeans gut sitzt. Doch im Grunde müsste ich wissen, dass ich diesen dicken, schwabbeligen Hintern einer Hausfrau habe und dass ich, egal was ich tue, egal, wie ich mich kleide, mich immer nur zu schämen habe. Mein Alter kann ich nicht rückgängig machen und ich werde niemals mehr jemand anderer sein als ich jetzt bin. Das Mädchen ist tot, das ich war, zurück bleibt ein Weib.
Ich sehe diese tollen Jungs, genieße ihren Anblick, in meinen Träumen bin ich wieder jung. Doch die Träume enden und ich möchte versinken vor den jungen Leuten, ich fühle mich so hässlich, wenn sie mir entgegengehen.
Die jungen Männer gehen ein in mein Haus, sie rufen an und schreiben Nachrichten an meine Tochter. Wenn ich meine Nadja ansehe, dann erkenne ich immer nur ein Kind. Da denke ich daran, was diese Kerle wohl mit ihr vorhaben, ob sie dasselbe machen mit ihr, was die Jungs zu meiner Zeit mit mir gemacht haben. Ich möchte nicht, dass sie meinem Kind wehtun, dass sie es verletzen an Leib und Seele. Ich will nicht, dass meine Tochter in Gefahr gerät. Welche Mutter will das schon? Ich gönne ihr aber dieses Abenteuer. Wenn ich in die Augen ihrer Freunde sehe, dann schauen sie weg. Denn ich bin die Mutter, Mütter sind doof.
Doof bin ich geworden und alt. Manchmal wünschte ich mir, diese jungen Männer könnten sehen, wie es in mir aussieht, wie ich sie sehe. Ich will nichts von ihnen, Gott bewahre! Möchte ich doch nur nicht verachtet werden.
Manchmal wünschte ich mir, sie verstünden mich, sie würden mich mögen. Doch das ist vorbei, wer mag mich schon, wer versteht mich schon?
Was macht es für einen Sinn, mich zu verstehen, mich zu mögen?
Ich bin doch nur eine Hausfrau, ins Haus gestellt, um dort zu putzen, damit ich dann stolz sein kann auf das Haus. Wie kann man ein Haus schon lieben? Wie kann es einem Liebe geben?
Ich bin ein Nichts, mein Leben ist vorbei.
Es ist anstrengend, dass meine Tochter immer Ärger macht und sich nichts sagen lässt. Aber vielleicht ist es besser für sie. Vielleicht wird sie mal jemand anderer, als ich geworden bin.“
Nadja faltete mit zittrigen Händen das Blatt und legte alles so zurück, dass ihr Eindringen nicht bemerkt werden kann. Das war sehr intim, was sie gelesen hatte, sie fühlte sich schuldig. Es war, als hätte sie ihre Mutter nackt gesehen.
Sie zweifelte daran, dass dieser Text wirklich von Mira Silberbach stammt. So kannte sie die Mutter nicht, so hätte sie nicht gedacht, dass sie so fühlt.
Doch dem war offensichtlich so. Nadja musste, wie auch immer, zu welchem Zeitpunkt auch immer, verlauten lassen, dass Mira keinen Hausfrauenhintern hat.
Felix fühlte sich einigermaßen glücklich, wenn auch beunruhigt. Er genoss es, Nadja als seine Braut zu haben, fürchtete aber nach wie vor, dass es genauso schnell vorbei sein könnte, wie es begonnen hat. Und was wäre, um Himmels Willen, danach? Wenn Nadja ihn jetzt verlassen würde, dann wäre endgültig alles aus, nicht nur die Beziehung, sondern auch die Hoffnung.
Aber für sein Leben hatte es vielleicht etwas Gutes, denn wenn diese Hoffnung weg wäre, könnte er sich endlich auf ein Leben ohne Nadja konzentrieren. Sicherlich wäre er ein Leben lang traurig, nie wieder glücklich. Die Liebe seines Lebens wäre an ihm vorbeigegangen, hätte ihn im Stich gelassen. Was sollte nur werden?
Er warf sich auf seine Schlafcouch und starrte auf das Bull-Man-Poster. Wenn er doch nur annähernd so aussehen würde wie dieser Muskelprotz dort, dann könnte er viel mehr Eindruck auf Nadja machen. Das mit dem Auto war ja schon ein guter Anfang, sie war sehr beeindruckt von seinem Auftritt. Gut, dass er sich frühzeitig aus der Schule abseilen konnte. Nun hatte er zwar zwei Stunden Sport verpasst und seine Hoffnung, jemals ein sportlicher Typ zu werden, sank noch ein bisschen mehr, aber was soll’s, schließlich hasste er die Sportstunden.
Vielleicht wäre Sport ja nicht ganz so nervtötend, wenn er eines dieser Fitness-Studios besuchen würde. Er könnte Eiweißpräparate einnehmen, welche die Muskeln schnell zum wachsen bringen. Bei einigen Klassenkameraden klappte das wirklich gut. Aber was dann? Wie würde er aussehen mit vielen Muskeln? Wohl auch nicht besser als jetzt, denn das änderte ja nichts an seiner Körpergröße. Er ist und bleibt kleiner als Nadja, sein Leben lang.
„Es ist ein Fluch!“, sagte er laut und drehte sich an die Wand. Fast hätte er geweint, immer war das so, wenn er an seine Körpergröße dachte. Wie gerne wäre er doch ganz anders als er war! Er wäre nicht nur gerne groß und stark, sondern auch mutig und frech. Er würde sich behaupten wollen, niemals etwas einreden lassen, überhaupt nicht mit sich reden lassen. Konsequent und streng wäre er gerne. Wenn er sich etwas in den Kopf setzen würde, dann sollte das durchgezogen werden. Niemals würde er sich zu etwas überreden lassen, was er nicht wollte, niemals würde er sich ausnützen lassen. Man könnte ihn nicht einschüchtern, nicht zwingen, nicht bestechen, er würde aller bösen Kraft widerstehen, die an ihm nagte. Von seiner Mutter wäre er völlig unabhängig, sie müsste nichts mehr für ihn entscheiden, erledigen, übernehmen oder ihm etwas ausreden. Er hätte einen Job, würde selbst für seinen Unterhalt sorgen können und trotzdem genug Zeit für sein Studium haben, weil er die Kraft hätte, beides zu tun. Ja, er hätte eine eigene Wohnung. Dann würde er alle zwei Wochen mal einen Anstandsbesuch zu Hause absolvieren. So würde ihm seine Mutter auch nicht mehr auf die Nerven gehen, sondern er würde sich sogar freuen, sie zu sehen. Er brächte ihr Blumen mit...
„Moment mal,... da war doch eine brauchbare Idee...“, dachte er, „ja! Das ist es! Ich suche mir einen Job!“
Schnell lief er ins Wohnzimmer und kramte das Werbeblatt aus dem Zeitungsständer. Seine Mutter kam von hinten, drückte ihn kurz und sagte: „Von der Tarantel gebissen?“
„Gestochen!“, verbesserte er.
Immer noch fand die Mutter ihn niedlich, so als wäre er ein kleiner Junge, er hasste das. Wie aber wäre das Leben ohne das?
Robin saß mit Karlchen am Tisch, sie aßen eine Suppe mit Salat. In Robins Küche lag ein etwas dunkles Steak in der Pfanne. Seine Verdauungsorgane waren nicht ganz damit einverstanden, was er sich aus Vernunftsgründen zubereitet hatte. Eine heiße Hühnersuppe schien ihm verträglicher zu sein. Den Salat bekam der Papagei. Der war ganz glücklich, dass sein Menschenfreund da war und quasselte immerzu. Robin musste lachen.
„Na, was hast denn du alles zu erzählen?“
Er streichelte ihm das Gefieder, der Vogel sah ihn freundlich an.
„Na, was ist, Dorthe, magst du nicht auch mal was sagen?“, fragte Robin in Richtung Käfig.
Er hatte immer ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil er sich zu wenig Mühe gab, sie herauszulocken, zu motivieren, etwas anderes zu tun als im Käfig zu sitzen.
Dann passierte etwas Außergewöhnliches: Dorthe tippelte seitwärts die Stange entlang in Richtung Ausgang. Direkt vor der Käfigtür blieb sie sitzen und starrte mit langem Hals zum Tisch hinüber.
„Na komm, Dorthe, komm!“, sagte Robin begeistert.
Er versuchte sie näher herbeizulocken. Doch Dorthe reichte es aus, diesen Schritt getan zu haben.
Robin trat an den Käfig heran, es war schön, sie so nahe zu sehen, ohne Gitterstäbe um sie herum. Sie sah doch sehr gesund aus, leuchtendes Gefieder. Vielleicht war sie ja gar nicht so alt, wie er dachte. Robin war jetzt auf dreißig Zentimeter herangekommen, Dorthe aber machte noch keinerlei Anstalten zu flüchten.
„Ich liebe dich, Dorthe“, sagte er.
Endlich hatte er ihr Vertrauen gewonnen, endlich würde sie sich zu ihm gesellen, würde aus der Zweisamkeit mit Karlchen eine Dreisamkeit werden.
„Sieh’ sie dir an, Karlchen!“, sagte Robin und drehte sich zum Esstisch seinem Papageien zu.
„Gut“, sagte dieser und aß am Salat.
„Du Banause, siehst du nicht, was sie macht? Das hat sie doch noch nie so gemacht!“, beschwerte er sich.
Robin legte ihr den Finger an die Füße, denn er hoffe, sie würde sich aus dem Käfig nehmen lassen. Doch dann schimpfte sie ein wenig und trat zurück. Robin zog die Hand langsam weg, er sagte:
„Du hast Recht, Dorthe, entschuldige, das geht natürlich zu schnell. Es tut mir leid, dass ich so ungeduldig bin. Du solltest nur wissen, ich warte eben schon so lange.“
Dorthe saß wieder an ihrem alten Platz, Robin ging zum Tisch zurück. Er setzte sich Karlchen gegenüber.
„Das war doch jetzt ein richtiges Erfolgserlebnis!“, sprach er mit dem Vogel.
Karlchen dachte nur an seinen Salat und hörte gar nicht zu.
„Ich weiß ja, für dich ist das nichts Besonderes, zu dir geht sie ja immer hin. Aber ich als Mensch, ich durfte ihr noch nie zuvor so nahe kommen, verstehst du?
Oh Karli!“, sagte er nach einer Weile, „ich wünschte mir, du wärst ein Mensch und würdest auch mal verstehen, was ich sage. Aber für einen Menschen in meinem Leben ist einfach kein Platz! Ihr Tiere seid genügsamer was Zeit angeht, geduldiger. Na ja, euch bleibt ja nichts anderes übrig.“
Er kraulte den Vogel am Kopf.
„Du süßes Kerlchen, du! Du wirst wohl noch lange mein bester Freund bleiben.“
Robin wurde traurig, als er das sagte, wollte er doch, dass seine Patienten ihn als Freund ansehen. Wieso wollte er das, wenn er selbst eigentlich keinen Freund wollte? Weil er seinen Job machen will. Ja, genau, nur das, nichts weiter. Er war überhaupt kein Freund, von niemandem...
Nun rannen ihm Tränen über die Wangen. Der Papagei versuchte etwas zu singen, das klang noch trauriger. Robin schob seinen Teller weg und legte den Kopf in die Arme. Noch immer war er verzweifelt traurig geworden, er dachte über seine eigenen Worte nach.
Karlchen flog zu Dorthe, danach wurde es still. Robin sah zu den Vögeln hinüber. Sie hatten sich aneinander gekuschelt.
Dann legte er den Kopf erneut in die Arme und konnte nicht aufhören zu weinen. Hatte er seinen Beruf verfehlt? Wenn er seine Patienten nicht liebte, waren es dann seine Patienten?
Wenn das Leben doch nur nicht so anstrengend wäre!
Er fiel in einen tiefen Schlaf und träumte von Nadja. Er sah, wie sie allein in der Nacht unterwegs war. Sie hatte Angst, denn sie wurde verfolgt. So rief sie ihre Eltern an, doch die schimpften nur. Dann lief sie weiter, ihre Verfolger hinter ihr. Sie wurde von zwei Männern verfolgt, die wollten ihr an den Kragen. Plötzlich kam Robin, er ging dazwischen, legte sich mit den Männern an, Nadja drehte sich um und lächelte ihn an. Doch die Männer waren ihm übermächtig, sie warfen ihn in den Dreck und liefen wieder Nadja nach.
„Was hat sie euch getan?“, schrie Robin und erwachte.
Langsam richtete er sich auf. Schnell sah er auf die Uhr: Was?! Schon so spät? Er musste sofort los. Wieder im Stress, wieder keine Zeit. Ein kurzes Nickerchen und der Tag geht weiter. Er hatte noch drei Sitzungen, drei unendlich lange, unendlich schwierige Sitzungen. Nimmt das denn nie ein Ende? Hat er denn niemals frei?
Doch! Am Wochenende. Und was macht er am Wochenende? Er schläft sich aus. Wenn es sein muss, putzt er den Vogeldreck überall weg, den Käfig ausmisten. Sauber ist die Wohnung sowieso nicht, das hatte er aufgegeben. Wenn noch Zeit ist, geht er mit Karlchen in den Wald. Es ist immer etwas gefährlich dort, denn er fürchtet, Karlchen könnte davonfliegen, nicht mit Absicht, eher wenn er erschrickt oder weil ihn eine Eule anfällt, man weiß ja nie. Normalerweise bleibt er immer auf der Schulter sitzen. Am Bach angekommen, dort wo das Ufer ganz flach ist, setzt ihn Robin auf den Boden. Karlchen sieht sich die Gegend immer so an, als sähe er sie zum ersten Mal. Es ist ein Abenteuer für ihn, ja, er liebt das, es tut beiden gut, Robin und Karlchen.
Wenn noch Zeit ist am Wochenende, bei Regen, da liegt Robin faul herum, schaut fern, tut einfach nichts, denkt nichts, unternimmt nichts, telefoniert nicht, plant nichts,...ruht. Das tut so gut, er braucht es.
Nichts desto trotz ist heute erst Freitag, ein langer Freitag, ein schwieriger noch dazu. Er kann seine unerwartete Pause gar nicht richtig genießen, denn er denkt an seine Traurigkeit und an Nadjas Mutter. Diese Frau sah so kaputt aus, so schrecklich fertig, dass er als Psychologe dachte, er müsse ihr sofort helfen. Allerdings hätte er sie nicht gerne als Patientin, dafür hat sie Nadja zu schlecht behandelt. Aber sie ist am Ende, so am Ende, dass sie ihm leid tat.
Weg mit diesen Gedanken, jetzt hatte er Lukas, einen ganz anderen Fall. Er ist zwanzig Jahre alt und arbeitslos. Seit er wegen der Lehre bei Siemens nach München gezogen war, ist er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2011
ISBN: 978-3-86479-343-1
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