Vorbemerkung zu diesem Kapitel:
Als die Franzosen gegen Frankfurt vorrücken, beschließt Christian Pauquet, daß seine Frau Katharina mit den Kindern Henriette und Alfred die Stadt verlassen und erst zurückkehren sollen, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. In ihrer Begleitung befinden sich das Kindermädchen Wilhelmine und der Hauslehrer Friedrich Weickert.
* * * * * * *
Die ersten drei Tage waren schrecklich, und von diesen Tagen waren die ersten Stunden, nachdem sie Frankfurt verlassen hatten, am furchtbarsten. Als sie durchs Tor fuhren, schnürte es Katharina den Hals zusammen und sie fühlte eine Schwäche im Schoß. Jemand redete ihr zu, sie presste ein Taschentuch in der Hand und ließ es dann fallen, um sie herum wurde es leer und alles wölbte sich zu ihr hin. Sie saß in Fahrtrichtung, um nur ja nicht zu sehen, wovon sie sich entfernte.
Aber sie schaute ohnehin nicht aus dem Fenster. Sie bewegte sich alle Tage der Woche so wenig wie möglich, es war als wollte sie sich fühlen wie einer der großen Reisekoffer, die außen aufgeladen waren. Wenigstens das Wetter war gut und man konnte die Regensachen stecken lassen.
Katharina hatte schon bald vergessen, was man alles eingepackt hatte, es fiel ihr schwer, sich mit einem Nothaushalt abzufinden oder zumindest den Überblick zu behalten, und sie gab es auf, irgendwelche Regelungen bezüglich der Bagage oder auch nur wegen der Reiseroute zu treffen, ja es interessierte sie nicht einmal mehr, wer dafür zuständig sein sollte. Sie wollte weder weg noch zurück, noch irgendwohin, sie wollte nur in Ruhe gelassen werden, wie ein Kind, das von einem unbegreiflichen Leiden ergriffen wird und nicht voraussehen kann, was geschehen wird.
Nur ganz kurz hatte sie darüber nachgedacht, was Christian ihr bei der Abfahrt gesagt hatte. Sollten sie ihm schreiben? Hatte er ihr Geld gegeben? Jemand musste es haben, sie würde es nicht brauchen, jemand würde sich um alles kümmern, man konnte nicht immer da sein.
Sie versank in Schwermut und Langeweile. Sie fuhr tausendmal mit der Zunge an einem Zahn entlang und blinzelte mit den Augen oder drehte einen Finger im Haar. Friedrich nannte die Orte, die sie passierten, Straßen, die sie benutzten oder kreuzten, Landschaften, die man links oder rechts sehen konnte, alles ging an ihr vorbei, als müsste es so sein oder auch ganz anders, es war beliebig; es gab keine Richtung, und wenn etwas Katharinas Aufmerksamkeit erregte, so war es der schlecht reparierte Riss im Verdeck der Kutsche oder das seltsam eiernde Vorderrad, lächerliche Erscheinungen, die sie spüren ließen, dass das alles ihrer Anwesenheit entbehrte.
Die Kinder nahmen Rücksicht auf Katharina, aber sie verstand es falsch und glaubte, sie wäre den anderen lästig, jetzt, vom trauten Heim losgerissen, zeige sich ihre wahre Unfähigkeit, in einer widrigen Umgebung auch nur einigermaßen bei Laune bleiben zu können.
Wilhelmine machte mit den Kindern Fingerspiele und Rätsel. Friedrich erdachte Reimgedichte oder sie phantasierten über merkwürdige Ortsnamen. Lügenhagen, Gewissenruh, Fliegenessen, Kühlensee. "Mama, möchtest du in Großhindern wohnen?" fragte Henriette, aber Mama schlief.
Sie schlief und schlief und ihr Kopf wackelte vom Gerumpel der Kutsche. Zwischendurch, wenn man hielt, wachte sie auf, streckte sich und blickte aus verschleierten Augen. Manchmal lächelte sie, aber teilnahmslos, und Wilhelmine, die etwas sagen wollte, schwieg lieber und verschob alles auf später.
An den Brückenhäuschen und den Stationen weckte man sie nicht, einmal knurrte sie im Schlaf wie ein nachgemachter Hund, einmal murmelte sie "du stehst vor's Lädele", die anderen mussten grinsen, und Friedrich ergänzte schmunzelnd "... und i' vor der Tür".
Über Meilen weit schauten alle stumm aus den Fenstern, es wurde immer anstrengender zu sitzen. Man machte längere Pausen, Friedrich rannte und sprang mit Alfred und Henriette herum, Wilhelmine fing sogar an zu sticken, der Kutscher sagte kein Wort, wahrscheinlich war er gar nicht da.
Katharina wachte auf und lag im Bett, irgendwo drei Stunden hinter einer Stadt. Der Abend dämmerte, eine Amsel saß auf der Giebelspitze und sang zu dem rosaroten Streifen am Horizont hinüber. Die Kinder tobten noch draußen mit einem Ball und einer Katze. Friedrich und Wilhelmine machten sich am Gepäck zu schaffen.
"Wir werden den breiten Koffer nach vorn nehmen, da rutscht er nicht weg", sagte Friedrich, und als er sah, dass Katharina sich regte, meinte er "Wir fahren nach Bad Leihburg". Sie nickte, sie wusste nicht, dass das ganz woanders lag als Hamburg.
Mit jedem strahlenden Morgen, der sie begrüßte, besserte sich ihre Stimmung, aber es kehrte nicht die gewohnte zurück. Sie fand es komisch, dass diese urwaldartige und armselige Gegend, durch die sie kamen, ihr immer mehr gefiel. Je lauter Wilhelmine über Schmutz und Mangel klagte, umso mehr musste Katharina lachen.
Sie änderte nach und nach ihre Garderobe, stopfte die Stadtsachen weg, trug tagelang dasselbe leinene Kleid und sah darin hübscher aus als je zuvor. Sie band sich ein blaues Tuch um, das sie vor den Mund hielt, wenn eine Staubwolke kam, und sie schüttelte sich vornüber gebeugt die Haare aus und ließ sich von Henriette unentwegt kämmen, bis ihnen eine andere Beschäftigung einfiel. Sie trennte mit einem Ratsch den breiten Saum von Henriettes Rock und machte daraus für Alfred eine abenteuerliche Kopfbedeckung.
Sie zogen von einer Herberge zur nächsten, manchmal änderten sie ihren Plan und stellten fest, dass sie gar keinen hatten, blieben hier einen Tag länger, reisten dort gleich weiter, entsannen sich nicht mehr des Ortes, wo sie vorgestern gewesen waren. Bad Leihburg war das Ziel, aber das lief nicht weg, und wer weiß, ob es ihnen überhaupt dort gefallen würde, vielleicht mit der Zeit.
Die Pferde grasten, den Kutscher gab es nicht, Katharina saß unterm Sonnenschirm und las mit Henriette den "Rinaldo". Wilhelmines Stickerei nahm Gestalt an, Friedrich und Alfred waren unten am Bach, und manchmal kam der Junge und fragte, ob noch etwas von der Wurst übrig wäre, die sie auf diesem Markt mitgenommen hatten und die so scharf gepfeffert war. "Biete Herrn Weickert auch ein Stück an", meinte Katharina und Henriette sagte "Lies bitte weiter, Mama".
Bad Leihburg war ein echter Kurort. Es gab hier mehrere Gesundheitsbäder, die alle wohlklingende Namen hatten, "Haus Sonnenschein" war noch der schlichteste. "Vitalis Aura", "Born der Ewigen Jugend", "Nymphentempel" hießen andere. Sie waren mehr oder minder luxuriös, doch man konnte schwer einschätzen, ob die goldene Zeit dieser Häuser unmittelbar bevorstünde oder ob der Glanz bereits verblasst und der Leben spendende Ort im Niedergang begriffen war.
Es herrschte eine eigentümliche Atmosphäre zwischen Zuversicht und Resignation, die vielleicht nicht zuletzt aus der Verfassung der Gäste sich nährte, die hierher kamen. Es befanden sich heilkräftige Quellen direkt im Ort sowie in der Umgebung.
Man nahm Logis in dem Hotel "Mercurio" gleich am Anfang der Hauptstraße, das, obwohl schon Hochsaison war, zwei hübsche Zimmer frei hatte, und zwar, wie Friedrich beiläufig erfuhr, weil bei den vorherigen Gästen, einer polnischen Adelsfamilie, just an diesem Ort die Großmama verstorben war, welcher Trauerfall gerade zwei Tage zurücklag. Sie war auch nicht im Hotel entschlafen, sondern bei einem Spaziergang plötzlich einer Herzattacke oder einem Sonnenstich erlegen. Dennoch sagte Friedrich den anderen davon nichts, und die Nachricht solcher Vorfälle hielt sich naturgemäß auch nicht lange im Tagesgespräch.
Er teilte sich mit Alfred das Quartier, während die anderen das größere Zimmer bezogen, das allerdings nur über die "Männerstube" erreichbar war. Man arrangierte sich diesbezüglich schnell, und Wilhelmine war nur froh, als sie von einer kompfortablen Badetoilette im Haus hörte, die zudem gerade frei war.
Wilhelmine erbat sich von der Wirtin den Schlüssel, nahm die nötigen Waschutensilien aus dem Gepäck und verschwand mit den Worten: "Endlich ist das Zigeunerleben vorbei" für geschlagene fünf Viertelstunden hinter der Tür, die ein Motiv mit im Wasser spielenden Nixen zierte. Glücklicherweise hatte sie ihre längere Abwesenheit auch der Wirtin avisiert, mit der sie sich auf Anhieb so gut verstand, dass diese kurzerhand die Toilette wegen irgendeiner angeblichen Instandsetzung vorübergehend für andere Gäste sperrte. Sie sollte, meinte die Wirtin vertraulich, beim Baden nur keine Lieder trällern, ansonsten möge sie so lange drin bleiben wie sie wolle.
Der Örtlichkeit entsprechend mussten auch die anderen wieder konventionelle Garderobe anlegen, was Katharina sichtlich Unbehagen bereitete. Sie bestellte eine große Schüssel mit Wasser, putzte die Kinder auf, die sich sodann gleich verdrückten und gönnte sich eine Pause, in der sie nicht sonderlich teilnahmsvoll ein passendes Kleid aussuchte. Friedrich, der sich in null Komma nichts umgezogen hatte, war in den Gästegarten gegangen und hielt, wie hätte es anders sein können, Ausschau nach Zeitungslektüre.
Am frühen Nachmittag, nachdem in aller Ruhe die Formalitäten für ihren Aufenthalt erledigt waren, fand man sich im Speisesalon zum Essen wieder zusammen. Da die Hauptmittagszeit bereits verstrichen war, und nur vereinzelt noch Gäste sitzen geblieben waren, konnte sich die Gesellschaft einen Tisch aussuchen, und Katharina, der es in den letzten zwanzig Minuten gelungen war, sich wieder in eine vornehme und anständige Dame zu verwandeln, marschierte auf eine Doppeltafel mit acht Plätzen zu, die direkt an der Fensterfront stand.
Es war noch vollständig eingedeckt und unberührt, und die weißen Baumwollservietten waren kunstvoll gefaltet und standen wie Schiffchen mit hohen Segeln neben den Tellern. Friedrich machte darauf aufmerksam, dass der Tisch weitab von der Küche war, und die Kellner zum Servieren durch den ganzen Salon laufen müssten, aber Katharina meinte nur "Das ist mir doch egal", und vom Personal ließ sich auch niemand etwas anmerken.
Es gab eine Lombardische Suppe, mit frischen Karotten, Emmentaler, Thymian und mit weißem Traubensaft verfeinert, und als Hauptgericht Forelle mit Krebsen nach einem, wie der Kellner sagte, altem Klosterrezept. Um welches Kloster es sich dabei handelte, war nicht klar, und Henriette meinte, der Kellner sehe selber aus wie ein Krebs mit seinem knallroten Gesicht und den großen Händen.
Aber die Ähnlichkeit schwächte sich dann ab, denn es waren kleine Flusskrebse, die in die Forellenscheiben hinein passten, als könnten sie darin wohnen. Dazu trank man ein Wasser aus dem Mohrleichener Gesundbrunnen, das sehr teuer war, und das Henriette, die überhaupt plötzlich an allem etwas zu mäkeln hatte, wegen des Namens abschreckend fand. "Wieso, was hast du gegen Gesundbrunnen?" fragte Friedrich arglos und Alfred sagte "Sie denkt ja auch an die Moorleiche", und er schnitt ihr eine fürchterliche Grimasse.
Henriette erschreckte sich und täuschte einen Weinkrampf vor, der seinerseits Katharina verblüffte, und um sie abzulenken, sagte sie "Wusstest du eigentlich, dass Krebse immer rückwärts laufen?" Weil aber keiner erkennen konnte, wen sie damit angesprochen hatte und weil es andererseits allen bekannt war, bekam sie keine Antwort und alle widmeten sich ihrer Mahlzeit.
Henriette spuckte unbemerkt das Wasser ins Glas zurück und Katharina fragte zwischendurch mit aller Offenheit und so, als hätte sie unterwegs irgendwo ein Taschentuch liegengelassen "Haben wir eigentlich genug Geld dabei?" Wilhelmine, die stillschweigend zur Verwalterin der Reisekasse erkoren worden war, schaute kaum vom Teller auf und murmelte nur etwas von 'darüber keine Gedanken machen', und Henriette, die das beiläufig angeschnittene Thema anscheinend reizte, sagte "Was kann man denn hier kaufen?" Friedrich hob die fast leere Karaffe an und sagte "Wasser. Und Netze zum Krebsefangen." Alfred fragte ernsthaft "Wollen wir das machen?" Henriette warf den Kopf zurück und strafte Friedrich mit einem bösen Blick. "Pphh! Mama, darf ich aufstehen?" Katharina erlaubte es und wollte noch eine allgemeine Benehmensregel loswerden, doch Henriette schlenderte durch den Saal davon. Katharina schaute ihr nach und meinte "Was sie sich nur einbildet?" Alfred rief "Ich gehe mit" und folgte ihr, kam aber eine Weile später wieder und sagte, Henriette habe ihn fortgejagt, und er suchte sich einen anderen Zeitvertreib.
Die Erwachsenen hatten es sich auf den Stühlen im Garten bequem gemacht, aber Katharina hielt es nicht lange aus und sie schlug vor, sich den Ort näher anzuschauen. Wilhelmine knurrte ein "nachher". Katharina raffte sich auf. "Ich gehe jetzt." Dann suchte sie Alfred und überredete ihn mitzukommen.
Vor dem Haus trafen sie auf Henriette, die gerade ein offenbar neu angekommenes Ehepaar über das Essen im "Mercurio" aufklärte. Die Frau, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem weißen Sonnenschirm, war begeistert von dem aufgeweckten Mädchen. Katharina grüßte freundlich. "Entzückend, die Kleine", sagte die Frau, "Und das ist wohl das Brüderchen, entzückend." Henriette stellte sich zwischen alle und sagte sehr gewählt "Und darf ich vorstellen, das ist unsere Mama, Madame Pauquet, aus Frankfurt." Dabei machte sie mit dem Arm eine märchenhafte Geste.
Für einen Augenblick wollte Katharina sie tadeln, weil sie so vorlaut war und besonders, weil sie gesagt hatte, woher sie kämen, aber dann dachte sie, es wäre das Selbstverständlichste, an diesem Ort arglos zu sein, und sie lächelte gelassen und nicht ohne einen gewissen Stolz über ihre Tochter. Sie fasste die Kinder bei den Händen, und alle drei schritten zur großen Besichtigung. Henriette fragte noch, warum sich die Leute nicht auch vorgestellt hätten, und Katharina meinte "Was weiß ich, das ist doch nicht so wichtig." Nach einer Pause kam die Erwiderung "Du hast recht, Mama, was geht es uns an."
In Bad Leihburg war alles zum Zweck des Kurbetriebs erbaut und eingerichtet worden. Die Häuser scharten sich um die Stellen, wo schwefelhaltiges oder auf sonst eine Art angereichertes Wasser der Erde entsprang.
Auf großzügigen, mit viel Sorgfalt und Sachkenntnis gestalteten Parkanlagen prangten die herrlichsten Blumenbeete im Sonnenschein. Die Wege waren breit, hell und eben wie Briefpapier. Man konnte den Eindruck bekommen, dass sie absichtlich in umständlichen Kurven sich zwischen Rasen, Hecken und Bäumen verliefen, um den Gang der Leute im Freien auszudehnen und selbst einem kleinen Spaziergang den Anschein einer Wanderung zu geben. Freilich waren manche Gäste so gebrechlich, dass sie befördert werden mussten, wofür erstaunlich vielfältige Transportmittel zur Verfügung standen.
In den offenen Hallen, die tatsächlich antiken Tempeln ähnelten, wandelte man in stiller Gelassenheit, unterhielt sich beinahe nur im Flüsterton, grüßte mit Handzeichen, aber sehr galant, und nur einzelne Kinder brachten eine gewisse äußerliche Aufregung in die beschauliche Ruhe.
Einige Wege kreuzten sich sternförmig auf kleinen, mit feinstem Kies belegten Plätzen, wo in der Mitte meist ein Springbrunnen stand, an dem zwischen wunderlichsten Figuren ein Wasserstrahl in hundertfache Bäche zergossen wurde, die über Kaskaden, Zwischenbecken und manchmal auch über die Hand eines an Neptun erinnernden nackten Mannsbildes herab plätscherten.
Auf dem Rasen stolzierten Pfaue, die von Zeit zu Zeit, man wusste nicht warum, die langen Federschwänze zum prächtigen Rad aufstellten, und aus manchem Kurhaus, dessen Terrassentüren zum Lüften geöffnet standen, klang ein paarmal vorsichtiges Klappern mit Geschirr und Besteck herüber.
Die Badehäuser selbst ließen auf den ersten Blick kaum ihre Geräumigkeit ahnen, und drinnen war man überrascht von der Größe und Weite des Baues. Im Untergeschoss lagen Badebecken aus Marmor in lichtarmen Grüften, in denen in warmen Nebelschwaden dicke Männer oder runzlige Frauen mit Tüchern um den Leib geschwungen auftauchten und verschwanden wie Gestalten aus römischer Vorzeit. Manche absolvierten ein vorgeschriebenes Programm, und wenn auch nirgends eine Uhr die Stunde anzeigte, so bemerkte man doch einen geregelten Ablauf, eine feste Reihenfolge aller Vorgänge und Tätigkeiten, die sich hier abspielten, wobei offenbar jeder selber genau wusste, welcher Behandlung er sich als nächstes unterziehen würde. Kein Zweifel, alles erfolgte nach einem durchdachten Plan.
Natürlich gab es am Ort eine Reihe hochkarätiger Ärzte, die für die Gäste Sorge trugen und jedem einzelnen seine persönliche Kur verschrieben. Die Konsultation des Arztes war die Voraussetzung dafür, dass mit den medizinischen Maßnahmen überhaupt begonnen werden konnte, und nicht selten reichte ein einziges Gespräch nicht aus, selbst wenn es einen ganzen Vormittag dauerte.
Gewiss war Bad Leihburg im geläufigen Sinne nicht berühmt, doch in den Kreisen derjenigen, die sich von ihren speziellen Leiden kurieren lassen wollten, stand es durchaus in hohem Ansehen. Und selbst der Umstand, dass es sehr abgelegen und schwer zu erreichen war, hatte es zu einer Art Geheimtip werden lassen.
Die drei hatten sich zerstreut. Alfred war bei einer Gruppe Kinder hängengeblieben, die sich für die ulkigen Fahrzeuge der Versehrten interessierten. Klobig und äußerst stabil gebaut, wirkten sie ein bisschen wie Kriegsgerät, das auf seinen Einsatz wartete.
Ein junger Mann in farbloser Dienstkleidung, der offenbar Aufsicht über den Fuhrpark führte und sehr schwitzte, erklärte den kleinen Besuchern allerlei technische Besonderheiten und war gleichzeitig darauf bedacht, dass sie den gebührendem Abstand wahrten. Ob man mal eins ausprobieren könne, vielleicht das Dreirad zum Liegen, fragte ein lockenköpfiger Junge, der an den Knien seiner sehr feinen hellen Hose frische Schmutzflecken hatte. "Auf keinen Fall", erklärte der Mann und streckte schon den Arm aus, um ihn abzuhalten. Erstens wäre das für Kinder gar nicht geeignet, und zweitens, wenn einer der Patienten dazu käme, wie sie gerade darauf herumspielten, dann wäre "der Teufel los", womit er wohl andeuten wollte, dass er sich einer Dienstverletzung schuldig machen würde. "Wenn was kommt?", fragte ein Mädchen mit Zöpfen. "Na, ein Patient", sagte der Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Mensch, so'n alter Krüppel meint er", gab ein anderer dem Mädchen zu verstehen. "Man nennt sie Patienten, weil sie hierher kommen, um sich von ihren Krankheiten zu erholen", erklärte der Mann mit wissender Miene, offenbar war er froh, dass sich überhaupt mal jemand mit ihm unterhielt, und überdies nicht im Befehlston. Der Lockenkopf fragte "Sterben hier auch welche?" Die Frage interessierte alle, und sie sahen den Mann gespannt an. Er kostete die kleine Pause aus und sagte dann betont "Oh ja, erst vorgestern hat es eine ältere Dame ganz plötzlich dahingerafft." "Was hat es die?" fragte das Mädchen. "Och, du bist aber auch blöde, die is' krepiert verstehst du, die hat ins Gras gebissen", sagte ein Junge, der einen Kopf größer war als alle. Das Mädchen sah ihn verständnislos an, und dann erblickte sie auf der gegenüberliegenden Rasenfläche einen Gärtner, der einige frisch aufgeworfene Mauswurfshügel abtrug, ganz bestimmt die Reste des grausigen Mahls, das der Große eben meinte.
Katharina und Henriette hatten sich zwischen Hainbuchenhecken verloren, die zwar kein ausgewiesenes Labyrinth waren (ein solches gab es hier auch; es war mit drolligen Hinweisschildern versehen), aber dennoch als solches funktionierte. Erst konnten sie sich nicht mehr sehen, und dann hörten sie auch ihr Lachen nicht mehr, aber keine von beiden kam auf die Idee zu rufen, irgendwie würde man sich schon wiederfinden.
Und das geschah auch, als Henriette an Wilhelmines Arm und Friedrichs Seite um die Ecke eines Trinkpavillons spaziert kam. Wilhelmine trug ein rot weiß kariertes Kleid und einen strohgelben Hut mit echten Blumen, die sie an einem Stand gekauft hatte. Auch das Blumenmädchen war so freundlich zu ihr, dass es half, Wilhelmines Hut gleich damit zu schmücken, und es war wirklich gelungen.
Katharina, die ihnen entgegen kam, fand, dass die drei aussehen wie eine richtige Familie, deshalb sagte sie aus Spaß "Wie schön, dass ihr mich besuchen kommt." Friedrich erwiderte listig "Haben sich Madame schon dem Schlammbad unterzogen?" Henriette sprang auf Katharinas Seite, fasste ihren Arm und sagte zu Friedrich "Pfui, Herr Weickert, wie können Sie so ungeschickt zu Mama sprechen, sie ist so hübsch."
Wilhelmine war von Henriettes kindlicher Empörung angetan, neigte andächtig den Kopf und seufzte zufrieden. "Wie schön es hier ist, so gefällig, so ein verspielter Ernst oder ernstes Spiel? Trifft es das besser?" Friedrich schaute sie erstaunt an. "Wilhelmine, ist Ihnen der Mohrleichener Gesundbrunnen zu Kopfe gestiegen?" "Ach Weickert", meinte sie enttäuscht, "Sie sind doch der Poet des Hauses. Henriette hat Recht, Sie betragen sich unfein, höchst unfein." "Das kommt daher, weil wir nicht zu Hause sind", meinte er lachend. Dann beugte er sich nahe an sie heran und fügte hinzu wie eine freche Drohung "Ich habe die gute Kinderstube vergessen, sehen Sie sich vor, Wilhelmine."
Katharina sagte ohne Ironie "Ehrlich gesagt kommt es mir auch seltsam vor, vorhin ist mir recht bewusst geworden, dass das hier ein Ort ist, wo Krankheit und Siechtum herrschen." Henriette wollte wissen, was das ist. "Das kommt kurz vor dem Sterben. Aber mir ist ganz und gar wohl zumute, von Traurigkeit keine Spur, im Gegenteil, seitdem wir hier angekommen sind, habe ich das Gefühl, als könnte man es hier lange aushalten." Henriette streichelte vor Freude ihren Arm.
Katharina befürchtete für einen Moment, ihre Gefühle zur Schau zu stellen, doch Friedrich nahm ihre Worte auf. "Vielleicht ist es gerade die Nähe des Todes, die einen so euphorisch machen kann." Wilhelmine verzog das Gesicht. "Ach, Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie die ganze Zeit an den Tod denken?"
Henriette, die zwar nicht genau verstand, worum es ging, schüttelte den Kopf und sah Friedrich an, als erwarte sie von ihm eine Verteidigung, doch Wilhelmine fuhr fort „Mit solchem Trübsinn haben Sie aber vorhin dem Blumenmädchen nicht das Kompliment gemacht." "Er hat ihr ein Kompliment gemacht?", rief Katharina belustigt. "Ich habe lediglich ihre schönen Blumen bewundert." "Und ihr auf den Busen geschaut", rief Henriette. Katharina schüttelte sich vor Lachen, doch Wilhelmine war drauf und dran, Henriette einen Klaps zu verpassen.
In dem Moment kam von den Platanen her ein Lärm und es tauchte das Dreirad auf, das die Kinder vorhin inspiziert hatten. Tatsächlich saß oder besser gesagt lag darauf ein alter einbeiniger Offizier in Uniform und mit schlohweißem Bart, der im Wind wehte, so schnell ratterte der Alte über die Kieswege. Die Ursache für das Tempo waren Alfred und der lockenköpfige Junge, die abwechselnd hinten auf das Dreirad aufsprangen und Anschub gaben was das Zeug hielt. Alles johlte und der alte Recke fuchtelte wild mit seinen Krücken nach vorn und brüllte irgendwelche Sturmbefehle.
Sie machten eine scharfe Links und eine Rechtskurve, schrammten hart an einem Blumenkübel vorbei und wären noch wer weiß wohin gefahren, wenn nicht der junge diensthabende Mann gerufen hätte "Es reicht, kommt sofort zurück." "Ganze Abteilung kehrt Marsch", brüllte der Alte, "geordneter Rückzug, hahaha." Ein paar Minuten später kam Alfred angerannt. "Das war ein Spaß", sagte er völlig außer Atem. "Habt ihr auch keinen Schaden angerichtet", fragte Katharina besorgt. "I wo." Dann sagte er zu ihr, aber aus den Augenwinkeln heraus schaute er zu Friedrich "Mama, weißt du eigentlich, was das da drüben für'n Haus ist, das da hinter den Büschen." "Nein." "Das ist die Leichenhalle, der Mann hat's uns gesagt." "So so, das ist ja interessant, der scheint ja Kinder zu mögen."
Der Tag verging noch mit allerlei kleinen Entdeckungen und neuen Eindrücken, und bald hatte man das Gefühl, man würde sich in Bad Leihburg schon recht gut auskennen. Katharina besuchte mit den Kindern einen Garten, in dem ein Hirsch und ein Wildschwein lebten, leider verpassten sie den Zeitpunkt der Fütterung.
Friedrich machte die Runde, die Katharina schon hinter sich und ihm beschrieben hatte, und Wilhelmine ordnete im Zimmer die Sachen. Am Abend kamen sie wieder in den Speisesalon. Der große Tisch war allerdings schon in Beschlag genommen, und überhaupt herrschte jetzt reger Betrieb, und Katharina, die sich davon ein bisschen verunsichern ließ, machte am Eingang kehrt, ging noch mal kurzzeitig aufs Zimmer zurück und erschien dann in anderem Kleide, mit neu frisiertem Haar, und fing einige aufmerkende Blicke ein.
Man wählte ein Menü mit sogenannter deutscher Hausmannskost, kalte Speise mit frischem Salat, und für Henriette gab es diesmal extra Kirschlimonade. Alfred hatte sich mit dem lockenköpfigen Jungen angefreundet, und obwohl Katharina ihn ziemlich wild fand, erlaubte sie Alfred am nächsten Morgen, zu ihm zu gehen. Allerdings sollte ihn Friedrich hin begleiten und sich der Unbedenklichkeit vergewissern, Alfreden des neuen Umgangs auszusetzen, welcher Eindruck denn auch positiv ausfiel. Nette Familie aus Lübeck, Kaufmann, drei oder vier Kinder, sehr ordentlich, die Mutter sich des gelegentlichen Übermuts des Jungen durchaus bewusst, kein Zweifel ihrer uneingeschränkten Autorität. "Erzieht sie die Kinder selbst?" wollte Katharina wissen. Das habe er nicht feststellen können, meinte Friedrich, möglich sei es, es sind junge Leute. Man konnte sich also darauf einlassen, Alfred blieb den ganzen Vormittag weg, und Katharina fand Muße, sich einmal mehr mit Henriette zu beschäftigen.
Für den Nachmittag dieses Tages war, wie man dem Veranstaltungsplakat entnehmen konnte, das auch im "Mercurio" hing, ein Konzert im Freien angekündigt, bei dem das Balint Quartett aus Ungarn spielte. Man hatte die kleine Bühne schon im Vorbeigehen in Augenschein genommen, ein flaches Podest mit einer muschelförmigen Rückwand, zu dem drei Stufen hinauf führten. Davor war ein freier Platz, auf dem in mehreren Reihen weiß gestrichene einfache Gartenstühle aufgestellt waren. Die Wirtin empfahl Wilhelmine rechtzeitiges Erscheinen wegen der begrenzten Anzahl der Sitzplätze. Offenbar ging sie davon aus, dass Wilhelmine allein sich dem Vergnügen hingeben wollte.
Doch der Ratschlag hatte auch einen anderen Grund. Mit den Konzerten und den dazugehörigen Plätzen hatte es nämlich seine Bewandtnis. In erster Linie waren sie natürlich für diejenigen Zuhörer vorgesehen, die aufgrund des Alters oder ihrer Versehrtheit sozusagen Anspruch darauf hatten. Da es, außer für eine Handvoll Stühle für gewisse Honoratioren oder Ehrengäste, die aber ohnehin nicht erschienen, keine förmliche Reservierung gab, lautete das Prinzip: Wer zuerst kommt, darf sich zuerst hinsetzen.
Danach hätte man annehmen können, dass manche sich schon lange vor Beginn ihren Platz sicherten, doch dem war nicht so. Es gab ein ungeschriebenes und stillschweigend respektiertes Gesetz, demzufolge höflich abgewartet wurde, bis die Bedürftigen sich niedergelassen hatten. Die Wirtin nannte diese Personen auch die "Sesshaften", eine Bezeichnung, deren Doppelbedeutung darauf anspielte, dass es sowohl Dauer als auch Stammgäste gab, denen dieses Privileg vorbehalten war.
Nachdem die Wirtin, die sich übrigens Mademoiselle Bellchen nannte und die ständig bemüht war, ihre an und für sich urwüchsig bäurische Erscheinung mit eingeübter Vornehmheit in Ausdruck und Geste vergessen zu machen, nachdem also Mademoiselle Bellchen unserer Wilhelmine die vorderen Reihen, denn um diese handelte es sich bis dahin, erklärt hatte, kam sie auf das eigentliche Procedere zu sprechen, worauf zu achten war.
Zu diesem Zweck holte sie einen Plan auf Papier hervor, auf dem die gesamte Bestuhlung eingezeichnet und gruppenweise unterschiedlich markiert war. Wilhelmine, die von Natur aus etwas gegen unsinnige Reglementierung hatte, wollte beim Anblick der ebenso verwirrenden wie offenbar zwingenden Aufteilung kurzerhand ganz auf das Konzert verzichten, doch die Bellchen warf ihr einen Blick zu, der bedeutete, Wilhelmine sei bereits so tief in die Sache eingeweiht, dass es nicht nur undankbar sei, sondern beinahe an Verrat grenzte, würde sie sich nicht bis zum Ende aufklären lassen. Und so ließ sich Wilhelmine mehr fassungslos als ernstlich interessiert über die einzelnen Fraktionen des Stuhlpublikums unterrichten.
"Hier sitzen die Angehörigen der schwersten Fälle aus den ersten Reihen, denn manchmal mussten sie denen schon zu Hilfe eilen, und wenn es auch nur ein Hustenanfall war. Hier dahinter die bedeutenden Herren, Ärzte, Professoren, Advokaten, Künstler, allesamt nur auf den Musikgenuss aus. Hier sitzen merkwürdigerweise stets die Russen, selbst wenn sie zum ersten Mal hier sind, und hier die, die nicht gut woanders sitzen können, weil sie nicht allein sind, weswegen hier auch deutlich Damen und Herren gemischt sind. Hier sitzen die Söhne aus vornehmem Hause, aber Vorsicht, da mischen sich auch solche drunter, denen an Frauenbekanntschaft nichts gelegen ist. Und hier die Witwer, die vermögenden wohlgemerkt." Sie überlegte kurz. "Die unvermögenden Witwer haben glaube ich gar keinen Status. Aber nun passen Sie auf, meine Liebe. Diese Reihe hat es in sich." Und Mademoiselle Bellchen referierte die Liste der weiblichen Nomenklatur (denn Männer waren auf diesen Plätzen nicht zugelassen), die nach Alter, Abstammung, Familie, finanziellen und sonstigen bemerkenswerten Verhältnissen sowie nach gesundheitlicher Konstitution, sprich Lebenserwartung und, soweit bekannt, nach gewissen persönlichen Eigenarten, die man am besten mit medizinischen Fremdwörtern umschrieb, eingeteilt war. Dem folgte auch exakt die Sitzordnung, was die Beschauung durch die potentiellen Interessenten erleichterte.
Warum sie ihr das so nachdrücklich auseinandersetze, wollte Wilhelmine wissen, und die Bellchen, die über die Frage ein wenig entrüstet war, sagte "Nur für den Fall, dass Sie sich einreihen möchten oder aber anderenfalls, um Sie davor zu bewahren, sich einen Platz zu wählen, der unerwartete Konsequenzen haben könnte." "Gibt es denn auch ein männliches Gegenstück zu dieser Hühnerleiter?" fragte Wilhelmine geradeheraus. "Nicht in dieser strengen Form", erwiderte die Wirtin, "die männlichen Bewerber verteilen sich auf die hinteren Reihen, aber resultierend aus ihrer Unentschlossenheit, oder sagen wir besser aus ihrer Wahlmöglichkeit, ob sie eher als Freier oder als Kandidat auftreten sollen, lassen sie sich ungern irgendwohin platzieren. Natürlich schützt sie das nicht davor, vollkommen durchschaut zu werden, denn hier (und dabei rollte sie mit den Augen) bleibt niemand unerkannt, am allerwenigsten die Männer. Es gibt einige Damen am Ort, die Ihnen jede gewünschte Information über wen auch immer liefern, nicht ganz umsonst freilich." Und dann fügte sie hinzu "Allein von Moorbädern und ordinärem Quellwasser, meine Liebe, wären wir hier kaum das geworden was wir sind."
"Das glaub' ich gern", sagte Wilhelmine und dachte: womöglich sogar ohne das. "Das ist alles sehr instruktiv, Mademoiselle Bellchen, aber was bleibt mir übrig, wenn ich, was freilich nur ganz vorläufig sein könnte, einstweilen nicht in die Mysterien des Publikums eintreten möchte. "Oh, dann empfehle ich Ihnen, sich zunächst gar keinen Sitzplatz zu nehmen. Natürlich kann man es sich auch auf dem angrenzenden Rasen bequem machen, da können Sie ja heute erst einmal einen Vorgeschmack bekommen." "Das ist eine ausgezeichnete Idee", sagte Wilhelmine, die sich irgendwie dankbar zeigen wollte. Dann meinte sie noch "Übrigens, wenn Sie einmal nach Frankfurt kommen sollten, dann würde ich Ihnen eine Karte fürs Theater besorgen, aber Sie müssten sich überraschen lassen, welcher Platz es ist." Die Wirtin verstand nicht gleich und stutzte, dann entschied sie sich, herzlich darüber zu lachen.
Wilhelmine ging nach oben und fand die anderen noch bei der Mittagsruhe. Alfred und Friedrich lagen, mit den Häuptern nach beiden Enden hin, in Friedrichs Bett. Katharina erwachte gerade aus ihrem Schlummer, und vollkommen unter der Decke vergraben war Henriette, die es offenbar nicht im geringsten störte, als die beiden Frauen laut miteinander sprachen.
Natürlich lockte auch Katharina das Konzert im Grünen, aber sie wollte die Kinder nicht wecken, die auf derart Unterhaltung sowieso wenig erpicht waren. Wilhelmine bemerkte, dass Friedrich nebenan im Gange war und sie kam mit ihm überein, dass er solange noch hier bliebe, wie die Kinder ruhten und sie dann gemeinsam nachkämen.
Dann packte sie sich, die ihr Gespräch mit der Wirtin nicht erwähnt hatte, eine wollene Decke unter den Arm, worüber sich Katharina sehr verwunderte und meinte, sie erwarte wohl einen plötzlichen Kälteeinbruch, aber Wilhelmine wusste es ja schon besser.
Friedrich gab den beiden sein Fernglas mit, und Katharina kramte schnell noch den Rinaldo hervor und legte ihn auf den Tisch mit den Worten "Damit Ihnen die Zeit nicht zu lang wird, Herr Weickert." Er dankte lächelnd, und Katharina bemühte sich, eine kleine Verlegenheit zu unterdrücken, weil ihm diese triviale Lektüre denn doch kaum zugemutet werden konnte, aber sie hatte nichts besseres. Dann steckte sie den Kopf noch mal herein und sagte "Alfred soll nicht die Kniehose anziehen, da fehlt ein Knopf." ‘Nicht die Kniehose’, dachte Friedrich und schaute am Fenster den Damen nach, die schwatzend und anscheinend fröhlicher als alle anderen Leute, davonspazierten. ‘Und welche Hose stattdessen’, fragte er sich und stellte fest, dass Katharina ihm mir nichts dir nichts eine ganz neue Aufgabe übertragen hatte.
Sie waren bei der Bühne angekommen, wo schon allerhand Publikum versammelt war. "Schau mal", sagte Katharina "dort sind noch zwei gute Plätze frei, lass uns dort hinsetzen." Und schon war sie im Begriff, sich zwischen den Reihen durchzuschlängeln, aber Wilhelmine hielt sie zurück und meinte "Ich weiß nicht, ich glaube, es bekommt mir nicht, dort zu sitzen." "Es bekommt dir nicht? Was hast du denn?" Sie wollte etwas von Platzangst sagen, doch das erschien ihr selbst angesichts des weitläufigen Parks und des endlosen blauen Himmels über ihnen zu unglaubhaft. "Aber sieh doch nur, wer davor sitzt." (wenn sie unter sich waren, konnte Wilhelmine sie duzen) "Ein paar ältere Herren, kennst du jemand davon?" "Ach Gott nein, sie sehen aus wie Witwer auf Brautschau." "Na und, du sitzt doch hinter ihnen", meinte Katharina, aber Wilhelmine fand das gar nicht witzig und bekam plötzlich wirklich ein mulmiges Gefühl. "Wir setzen uns einfach auf den Rasen, dort zum Beispiel, da sind auch schon welche und wir können alles sehr gut hören." "Ich soll mich auf die Erde setzen?" entgegnete Katharina. "Hier, auf die Decke, die reicht für uns beide, nun hab' dich nicht so, das ist doch lustig." Katharina war gar nicht dieser Meinung. Sie hielt die Hand gegen die Sonne und überschaute die grüne Fläche, schmutzig war es zwar nicht und einige Orangenbäumchen in Kübeln, große Agaven und halbhohe Magnolien spendeten sogar Schatten. Tatsächlich hatten sich vor allem Familien vereinzelt ein Fleckchen gesucht, niemand schien daran Anstoß zu nehmen. Manche waren mit ihren Rollstühlen hergefahren, und dann sah sie, dass einige Kurpatienten sogar in einer Art Morgenmantel erschienen waren.
Wilhelmine hatte die Decke ausgebreitet, und da inzwischen alle Stühle besetzt waren, ließ sich Katharina mit einem Seufzer nieder. Sie hatten von dieser Seite aus wirklich einen guten Blick auf die Bühne, und weil es vollkommen windstill war, konnte man auch die Instrumente hervorragend hören, die zunächst von den vier Musikern gestimmt wurden, nachdem man diese mit kurzem Beifall willkommen geheißen hatte.
Joseph Haydns Streichquartett in h-Moll stand auf dem Programm, und in Anbetracht der verhältnismäßigen Kürze des Stückes gab es zwischen den Sätzen längere Pausen, was hier offenbar gängige Aufführungspraxis war und letztlich der Musik auch nicht schadete.
Die Herren entpuppten sich als echte Magyaren, ritterlich von Gestalt, mit funkelnden Augen und schwarzen Schnurrbärten. Das erste Allegro war furios und insbesondere der Cellist säbelte seinen Part aus den Seiten wie Attilas Koch die Koteletts aus dem Schweinerücken. Einzig der zweite Geiger, ein glatzköpfiges Dickerchen fiel heraus und wirkte wie der sehr entfernte Verwandte der drei gleichen Brüder.
Als die Musik angehoben hatte, war Katharina mehrmals auf der Decke hin und hergerückt, um eine bequeme Haltung zu finden, und als Wilhelmine, die sich mit angezogenen Beinen und erhobenem Kopf dem Hörgenuss überließ, ihr einen scharfen Blick zuwarf, flüsterte sie betroffen "Na ja, hier drückt eine Falte, merkst du das nicht?" Wilhelmine schloss demonstrativ die Augen und Katharina rutschte herum und lehnte sich an ihre Beine. Zwar konnte sie die Bühne nicht mehr sehen, dafür aber, und zudem unter der breiten Krempe ihres Hutes hervor, das Publikum beobachten, was ihr noch mehr Vergnügen machte.
"Weißt du was, Wilhelmine", sagte sie in der Pause, "Ich glaube, einige von den Herren dort drüben haben ein Auge auf dich geworfen. Der da in dem hellgrauen Anzug hat die ganze Zeit herübergeguckt." "So so", knurrte Wilhelmine, "und ausgerechnet auf mich." "Na, du musst gemeint sein, ich bin ja gar nicht richtig zu sehen." "Gemeint sein? Womit?" "Mit dem bezüglichen Blick natürlich." "Still jetzt Madame, es geht weiter."
Im dritten Satz, dem Menuetto, geschah etwas Komisches. Von der rechten Bühnenseite kam eine schwarze Katze gesprungen und schlich zwischen den Beinen der Musiker herum als suche sie etwas. Es gab verhaltenes Gelächter, und jemand rief "Da, die Katze", als wäre sie im Programmablauf an unbestimmter Stelle vermerkt. Dann machte sich das Tier ausgerechnet über die Schuhe des zweiten Geigers her und kratzte am schwarzen Lackleder herum , während er, sobald ihm ein freier Takt Gelegenheit bot, sie mit dem Bogen zu vertreiben suchte. Mitten in seinem Spiel streifte sie den Notenständer, der scheppernd umfiel und ihr einen solchen Schreck versetzte, dass sie von der Bühne sprang und das Weite suchte. Doch wie um sein Können unter Beweis zu stellen, fiedelte er frei und besonders hingebungsvoll weiter und am Ende des Menuetts bekam er Extraapplaus.
Der vierte Satz steigerte sich zum wahren Finale, und die letzten Töne schwebten durch den Park und es schien, als würden die Schwalben sie im Fluge erhaschen wollen, bevor sie ganz verklungen waren.
"Ich glaube, der kommt auf uns zu", sagte Katharina und meinte den Mann im grauen Anzug. "Wo willst du denn hin?" rief sie Wilhelmine nach, die aufgesprungen war, eilig die Decke zusammengelegt hatte und in die andere Richtung davoneilte. Der Herr hatte es tatsächlich auf sie abgesehen und nun rief er sogar ihren Namen, aber es klang noch eher fragend "Mademoiselle Reimer?"
Wilhelmine kam ein schlimmer Verdacht und in Gedanken fluchte sie auf die Wirtin, die offenbar drauf und dran war, sie zu verkuppeln. "Er kennt dich", sagte Katharina verwundert, "du musst mit ihm reden." "So, muss ich das?" fauchte sie und beschleunigte ihren Schritt, dass Katharina ihren Hut festhalten musste. "Sei nicht albern, du kannst dich nicht einfach verstecken, hier doch nicht." Damit hatte sie Recht. "Wilhelmine", rief der Verfolger, "so warte doch."
Sie blieb plötzlich stehen und sah sich um. "Wilhelmine, erkennst du mich denn nicht, ich bin es, Ernst Theodor." Wilhelmine blieb der Mund offen stehen. "Meine Güte, Ernst, was machst du denn hier, hast mich vielleicht erschreckt." "Ich hab’ gedacht, das ist sie doch." Sie begrüßten und umarmten sich herzlich, dann machte Wilhelmine die beiden miteinander bekannt.
Ernst Theodor Vollstedt war ein Jugendfreund Wilhelmines, welche Bezeichnung vielleicht etwas weit hergeholt war, denn die Zeit ihrer Bekanntschaft lag noch nicht so lange zurück. Wilhelmine hatte in Merseburg das Leuben’sche Pensionat für Hauswirtschaft besucht und Ernst Theodor hielt als frischgebackener Gerichtsassessor dort ein Seminar über Privatrecht. Das langweilte zwar die jungen Damen tödlich, wurde aber ausgeglichen durch die attraktive Erscheinung des Lehrers.
Und die hatte er sich bis dato erhalten können. Er war groß und von einer Haltung, die seinem Gegenüber immer ein Stück näher zu kommen schien, ohne aufdringlich zu sein. Sein Haar war dicht und von ursprünglicher Farbe, sein Gesicht war regelmäßig, und um seinen Mund spielte ein offenes Lächeln, was bei einem Rechtsgelehrten wohl eher selten zu finden ist. Er schenkte es für einen Augenblick auch Katharina und man sah, dass er seinen Charme einzusetzen wusste.
Man tauschte sich über die Gründe des Hierseins aus, wobei Ernst Theodor sich etwas bedeckt hielt, als er davon sprach, einen Mandanten, einen Gast, wegen einer Erbschaftsangelegenheit zu vertreten. Und plötzlich fragte Wilhelmine, wo er denn gesessen habe und er antwortete "Vierte Reihe, Platz elf." "Von links?" hakte Wilhelmine nach, und Katharina warf ein "Wir haben auf der Decke gesessen." "Auf der Decke?" meinte er, und über sein Gesicht kam ein Ausdruck großer Skepsis. "Ein Ausweich", sagte Wilhelmine schnell, "es war schon alles besetzt." "Ah, wie bedauerlich, sonst hätten Sie bestimmt in Reihe ...", er überlegte und fuhr dann anders fort "Wilhelmine, darf ich Sie zu einem Kaffee einladen, es gibt sicher viel zu erzählen. Und Sie, verehrte Madame Pauquet natürlich auch." Katharina merkte, dass er das der Höflichkeit halber hinzugefügt hatte und sie schützte irgendeine Verpflichtung vor. Wilhelmine schwieg, und so verabschiedete sich Katharina und überließ die beiden ihren gemeinsamen Erinnerungen.
Ins "Mercurio" zurückgekehrt, fand sie die Zimmer leer. Sie warf Wilhelmines Decke aufs Bett, öffnete das Fenster und ließ sich in einen Sessel fallen. Das Konzert hatte kaum eine Stunde gedauert und der Nachmittag war noch jung. Von draußen drang Stimmengewirr und Vogelgezwitscher herein. Irgendwo entfernt hörte sie eine Frauenstimme singen und dann rief vorm Eingang jemand "In Ordnung, also in zehn Minuten an der Sonnenuhr."
Katharina überfiel eine Unruhe, sie hatte das Gefühl, als mische sich in ihre Leichtigkeit die Befürchtung, etwas versäumen zu können. Der lebhafte Trubel der vergangenen Tage hatte ihre Sinne gereizt und sie ein Stück von sich selbst fortgerissen. Wie angenehm ist es, Abstand zu gewinnen vom Leben in der Stadt, von den Verhältnissen dort, die ihr allmählich belanglos vorkamen.
Wie ungewöhnlich und originell ist alles, das ihr außerhalb des engen Kreises begegnet, aus dem sie unfreiwillig herausgetreten war. Bei allem, selbst bei der geringsten Kleinigkeit, konnte sie die Freude spüren, wenn man etwas zum ersten Mal erlebt, sogar - nein vor allem - bei den Dingen, die ihr so bekannt und selbstverständlich erschienen, dass sie falsch und verdächtig geworden waren, wie ein enttäuschter Blick im Spiegel.
Und wie groß war daraufhin die Versuchung, die Vergangenheit dumpf und langweilig zu finden, wie groß die Lust, sich neugierig und waghalsig in jeden Moment jedes weiteren Tages zu stürzen und zu erleben, was mit einem passiert. Deshalb war es jetzt unerträglich, allein in diesem Zimmer zu sein und die Sonne, das Licht, die Farben und Sommerschatten draußen vergehen zu sehen, ohne zu versuchen, sie aufzuhalten, und sei es auch nur durch eine Dummheit.
Sie betrachtete das Bett, das noch so aussah, wie Henriette vorhin daraus aufgestanden war, die Decke zur Seite geschlagen, das Kopfkissen gedrückt. Auf der Matratze waren zwei Vertiefungen von der Schulter, vom Becken. Wie groß sie ist, dachte Katharina. Sie schloss das Fenster und ging nach unten, wo sie Friedrich auf der Gartenterrasse sitzen sah.
Wahrscheinlich liest er seine dumme Zeitung, dachte sie, doch dann bemerkte sie das Mädchen, mit dem er sich unterhielt. Es war eine Klingmann oder Klinckmann, sie hatte sich den Namen nicht gemerkt, die mit ihrem kranken Vater nach Bad Leihburg gekommen war. Friedrich hatte ihre Bekanntschaft schon gestern gemacht, sie waren eine halbe Stunde gemeinsam durch den Garten spaziert. Er hatte es nicht erwähnt; auch den Namen hatte Katharina nur irgendwo aufgeschnappt. Klingmann, Susanna, so hieß sie.
Sie war sehr jung und sehr hübsch, sie hatte die schönste Garderobe im "Mercurio" und sie hatte es nicht einmal nötig, damit Eindruck zu machen. Natürlich war sie die meiste Zeit in Begleitung irgendeines Verehrers, außer wenn sie mit dem Vater zusammen erschien, der, obwohl er noch nicht sehr alt sein mochte, sehr gebeugt, auf einen Stock und ihren Arm gestützt ging. Aber man sah sie selten mit jemandem sitzen so wie jetzt.
Friedrich redete, und sie lachte. Er schilderte etwas mit anschaulichen Handbewegungen, verzog das Gesicht, ahmte einen Ausdruck nach, sie schien das köstlich zu amüsieren. Katharina hatte ihn kaum je in dieser Ausgelassenheit gesehen, offenbar wollte er ihr gefallen. Ach was, dachte sie, er vertreibt sich die Zeit. Und dann kam ihr auf einmal die Idee ihn ordentlich zurechtzuweisen. Sie ging hin, und noch ehe Friedrich etwas sagen konnte, herrschte sie ihn an "Herr Weickert, ich habe den Eindruck, Sie vernachlässigen ihre Pflichten. Sie sind nicht zum Vergnügen hier und es besteht kein Grund, auf die Erteilung der Lektionen zu verzichten. Wo sind die Kinder?"
Wenn er ihr Paroli geboten hätte, dachte sie hinterher, wenn er einfach lakonisch erwidert hätte "Ich weiß nicht, sie müssen sich wohl hier irgendwo herumtreiben", wäre das zu ertragen gewesen, abgesehen davon, dass sie es so verdient hätte. Man hätte sie daraufhin vielleicht unausstehlich genannt. Aber Friedrich fügte sich.
Er sprang auf, als würde er in die Wirklichkeit zurückgerufen, schaute sich um und fand natürlich von Alfred und Henriette keine Spur. Er sagte "Madame Pauquet, es ist unverzeihlich, ich habe sie aus den Augen verloren, ich werde sie gleich suchen." Damit entfernte er sich, ohne der Klingmann eine weitere Beachtung zu schenken. Es war ganz das Gegenteil von Unterwürfigkeit, die er geflissentlich an den Tag gelegt hätte, um ihr zu gehorchen.
Und dabei war es gerade jener Gehorsam, mit dem sie gespielt hatte, ohne freilich auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, wie man ihn beherrscht. Es war aufrichtige Besorgnis, die ihn befallen hatte, und sie hatte seine Aufrichtigkeit missbraucht. Vielleicht würde er es nicht bemerken, doch sie schämte sich dafür.
Und das Fräulein Klingmann blieb ganz ungerührt von der kleinen Szene, war nicht einmal erstaunt über Friedrichs jähen Abgang. Sie schaute zu Katharina auf, wie als wolle sie nachsehen, wer da eigentlich vor ihr stand, und Katharina hatte das Gefühl, als fehlte nicht viel und sie würde bei ihr etwas zu trinken bestellen. Dann lief Katharina ihm hinterher, konnte ihn aber nirgends finden.
Drei Tage, nachdem Katharina sich gegenüber Friedrich vor dem fremden Fräulein so unmöglich benommen hatte, war die Sache längst bereinigt. Sie hatte sich bei ihm indirekt entschuldigt, indem sie sagte, dass während der Zeit ihres Aufenthaltes in Bad Leihburg kein Unterricht Alfreds nötig sei, da dieser ohnehin durch die ungewohnte Umgebung zu sehr abgelenkt und das Behalten irgendwelcher Lektionen unnötig erschwert werde.
Außerdem, so nehme sie an, fehle es Friedrich wohl an erforderlichen Hilfsmitteln, und er möge, fügte sie ausdrücklich hinzu, wenn er wollte, die Gelegenheit nutzen, seine eigenen Studien voranzutreiben. Was das beinhaltete, darüber sagte sie nichts, weil sie nur wenig Einblick darein hatte, und es schien, als machte sie ihm dieses Zugeständnis, um selber mehr davon zu erfahren und daran teilhaben zu können. Bei all dem Redeschwall, der aus ihrem Munde kam, konnte sie ein kaum merkliches Zittern nicht verbergen, als würde sie insgeheim denken: 'Was schwätze ich da eigentlich für bedeutungsloses Zeug?'
Wilhelmine hatte ihre Jugendfreundschaft mit dem Herrn Vollstedt erneuert und blieb tagsüber stundenlang fern, natürlich mit Katharinas Einverständnis, die eingesehen hatte, dass hier sowieso jeder machte was er wollte, und darüber auch keineswegs ärgerlich war, hatte sie doch selbst das Gefühl, von, wenn auch nicht lästigen, so doch überflüssigen Pflichten einer Hausmutter entledigt zu sein. Und mit der Aufhebung ihres Amtes schwand auch wieder die erzwungene Förmlichkeit, die sie bereits auf der Reise hierher einmal abgelegt hatte. Sie fühlte sich so jung und wohl wie nie und war auch kaum je zuvor so schön anzusehen.
Am Ort gab es einen kleinen Markt, der eher die Bezeichnung Basar verdiente und offiziell nicht gerade unbescheiden "Die Esplanade" hieß. Eine Menge bunter Butiken wetteiferte untereinander um die Gunst der Gäste, die die Offerten von feiner eleganter Garderobe über teure Antiquitäten bis hin zu kuriosen Souvenirs dankbar annahmen und zu jeder Tageszeit daran entlang flanierten.
Katharina bereitete es das reinste Vergnügen, ihre Zeit damit zu verbringen, Kleider und Schuhe, Hüte und Accessoires aller Art zu bestaunen, an und auszuprobieren und sich das eine oder andere zur Erwerbung vorzumerken. Anfangs ging sie mit Wilhelmine durch die Läden und als diese sich dauernd mit Ernst Theodor verabredete, nahm sie Henriette mit auf den Bummel. Der gefiel das zwar außerordentlich; es ließ Katharina aber dann doch unschicklich erscheinen, sich von einem halberwachsenen Mädchen auf ihren Streifzügen durch die Galanterien begleiten zu lassen; und dass es die eigene Tochter war, verstärkte nur ihre Bedenken. Andererseits wollte sie ungern darauf verzichten, zumal täglich neue Waren auftauchten.
Alsbald fand sie doch eine neue Gefährtin und komischerweise war es jenes Fräulein Klingmann, das ihr in Gesellschaft Friedrichs begegnet war. Auf die Art und Weise, wie manchmal im Gehen zerstreutes und zielstrebiges Sinnen sich vermischend die Schritte lenkt, wenn man es sich selbst überlässt, so kamen die beiden Frauen in Berührung, als sie anscheinend zufällig in einem allerdings ziemlich engen und überfüllten Laden für Kosmetik und die Kur begleitende Gesundheitsartikel versehentlich aneinander stießen und sich gegenseitig überaus freundlich entschuldigten.
Offenbar wollte Katharina den Eindruck, den sie bei der hübschen Dame hinterlassen hatte, wiedergutmachen, wogegen das Fräulein Klingmann mit ihrer liebenswürdigen Geste so tat, als sehe sie Katharina zum ersten Mal.
Ein Fläschchen mit einer Essenz, die laut Etikett körperliches und seelisches Wohlbefinden bewirkte und, falls sich das bereits eingestellt habe, es zu steigern versprach, war ihr aus der Hand gefallen und zerbrochen, woraufhin sich ein undefinierbares Aroma im Raum verbreitete, das die Klingmann nicht besonders attraktiv fand.
Der Verkäufer machte kein Aufhebens wegen der Bagatelle, und die Klingmann flüsterte Katharina zu, sie habe sie wohl davor bewahrt, viel Geld für ein nutzloses Wässerchen zu verschwenden und schräg gegenüber gebe es sowieso eine vielversprechendere Auswahl. Auch das Fräulein war allein, und so blieben die beiden noch einige Minuten zusammen, und daraus wurde eine Stunde und schließlich stellte eine von ihnen fest, dass sie die ganze Mittagszeit verbracht hatten. Und das, ohne auch nur einmal überlegen zu müssen, worüber sie noch reden sollten.
Von da an spazierten sie, wenn es sich ermöglichen ließ, gemeinsam über die Esplanade. Katharina brachte einige Verkäufer sogar dazu, ihr dieses oder jenes Kleidungsstück für die Anprobe im Hotelzimmer zu überlassen, wo sich so etwas wie eine Modenschau entfaltete, die Henriette dafür entschädigte, dass sie nicht mehr mitkommen durfte. Nur Friedrich und Alfred waren wenig erfreut, dass sie ständig das Feld räumen mussten, der eine aus Anstand, der andere aus Verdruss über das "Weibergetue". Doch auch der Junge sollte nicht des Abenteuers entbehren müssen.
Wilhelmines Bekannter, der sich als alter heimlicher und neuentbrannter Verehrer entpuppt hatte, machte den Vorschlag, am nächsten Sonntag eine Wanderung in die Gegend zu unternehmen, was begeistert aufgenommen wurde, da inzwischen in Bad Leihburg auch die letzten, den gewöhnlichen Gästen zugänglichen Winkel entdeckt und erschlossen worden waren.
Ernst Theodor hatte eine Route ausfindig gemacht, zu deren Ausgangspunkt, dem "Dreiherrenstein" man mit der Kutsche gelangte, die dafür angemietet werden konnte. Zudem erhielt man eine Skizze des Wanderweges, die zwar nicht maßstabgetreu, dafür aber mit einprägsamen Symbolen für die Naturmale, eine frei stehende Eiche, eine eingefasste Quelle, einen Aussichtspunkt und dergleichen, wo man vorbei kam, sowie mit Entfernungsangaben versehen war. Diese Tour trug den Namen "Arminiuspfad" und hatte den besonderen Hinweis: "Auch für Kinder geeignet".
Ernst Theodor, Friedrich und Alfred studierten die Karte im Vorfeld eingehend und berechneten eine ungefähre Dauer von drei Stunden, zuzüglich der Pausen. Wilhelmine, Katharina und Henriette kümmerten sich um die Verpflegung, und Dank Wilhelmines guter Beziehung zur Wirtin, wurden sie mit allerlei leckeren Kleinigkeiten aus der Küche versorgt, darunter Schinkenbrote, kalter Geflügelbraten, Honigkuchen und Salzgebäck und zwei Flaschen Wasser, die unterwegs aufgefüllt werden konnten. Das meiste wurde in Friedrichs Tornister verstaut, der Rest in eine leinene Umhängetasche, mit der sich die Frauen abwechselten.
Es war zur Mittagsstunde, als man vom Dreiherrenstein aus aufbrach und zunächst einen Wald von Kiefern durchquerte, deren dicke, von roten Bändern durchwirkte Rinde zerfurcht war, als hätte sie jemand ungestüm mit einem Beil verziert. Die Wärme hatte das duftende Harz wie goldene Tränen heraus getrieben und der Boden war übersät mit langen Nadeln und mit Zapfen, die sich vor Trockenheit rundherum auseinander spreizten.
Es ging bergan und der Weg verlor sich oftmals zwischen aufeinander gehäuften, mit Flechten überzogenen Steinen oder schien sich undeutlich zu verzweigen. Mehrmals schauten sie auf die Karte und Ernst Theodor geriet mit seinem Orientierungssinn in Konflikt zu den aufgezeichneten Lageverhältnissen. Schließlich prüfte er sogar das Impressum der Karte, wo stand, dass diese in der Verlagsanstalt von Johann Bruder in Sturtzheim gedruckt worden war. "Na, hoffentlich ist das nicht der Bruder aus dem Märchen", meinte er, und als Henriette fragte "Welches Märchen?", da sagte er "Das Märchen von Brüderchen und Schwesterchen, wo der Junge bekanntlich Erbsen auf den Weg streut, damit sie die Spur wiederfinden." "Herr Ernst", sagte daraufhin Henriette, die nicht recht wusste, wie sie ihn anreden sollte, "erstens waren es nicht Erbsen, sondern Brotkrümel, und zweitens war es nicht das Märchen vom Brüderchen und Schwesterchen, sondern 'Hänsel und Gretel'." "So", sagte Ernst Theodor erstaunt und anscheinend über seine Unwissenheit beschämt, "wie komme ich dann nur auf die Erbsen? Irgendwo müssen die doch auch mitgespielt haben." Henriette lachte. "Wie können Erbsen mitspielen? Wie stellen Sie sich das vor?" "Du hast Recht, Erbsen liegen bloß unter der Matratze, und wenn die Täubchen kommen, werden sie aufgelesen." "Alles durcheinander", rief Henriette. Es dauerte mehr als eine Viertelstunde, bis Henriette ihm alles genau auseinandergesetzt hatte, und darüber waren sie ein gutes Stück Weg vorangekommen.
Zwei, dreimal entdeckte Alfred die markanten Zeichen, unter anderem an der Stelle, wo das Steinkreuz auf einer mit hohem Gras bewachsenen Lichtung stehen sollte. Man machte Rast, stärkte und erfrischte sich mit Speise und Trank, und Alfred sagte, er werde sich auf die Suche nach dem Kreuz begeben. "Da komme ich mit", sagte Friedrich. Alfred war einverstanden, stellte aber klar, dass er es finden werde. "Esst nicht von dem Fliegenpilz", rief Ernst Theodor ihnen nach, "er ist giftig." Wilhemine schüttelte den Kopf. "Ich wusste gar nicht, dass du so komisch sein kannst." "Wieso komisch?" "Na, wie du das sagst, wie ein ... Paradieswächter." Darüber musste er lachen. "Du liebe Güte, Wilhelmine, ich bin nichts weniger als ein Paradieswächter, ich bin zehnmal eher ein Schutzmann auf dem Wochenmarkt." "Nur nicht so bescheiden, mein Gutster." Alfred und Friedrich waren im Gras verschwunden.
Katharina lehnte sich an einen Baumstamm und schaute auf die sonnenüberflutete Wiese, die über eine kleine Höhe hinwegging, und drüben auf der anderen Seite mussten die beiden wohl stecken. Überall standen die schönen, geraden Stengel des Fingerhuts mit weißen oder purpurroten Blüten. "Ich gehe ihnen nach", sagte Katharina mehr zu sich selbst. Dann schaute sie zu Henriette. "Willst du mit?" Aber sie schlummerte. Ernst Theodor und Wilhelmine plauderten über irgendetwas.
Katharina ging quer hinüber zu dem einzigen großen Baum, der auf der freien Fläche stand. Es war eine uralte, knorrige Eiche. An ihrer Wurzel stand auch das Steinkreuz, ein Malteserkreuz mit einer undeutlichen Jahreszahl. "Ich bin hier, Mama", rief Alfred. Sie schaute sich um. "Hier." "Wo?" "Hier oben." Er saß auf einem der dicken Äste und ließ die Beine baumeln.
"Wirf mir mal einen schönen Apfel herunter", sagte sie. "Einen Apfel?" fragte er ungläubig. "Ja, den da." Er schaute über sich, dann sagte er "Ach, den?" "Nein, den da links." Alfred zeigte mit ausgestrecktem Finger überall hin, dann wackelte er auch noch mit dem anderen Arm und schnitt Grimassen, dass Katharina Angst bekam, er werde herunterfallen. "Ja, den." "Fang auf." "Danke. Wo ist Friedrich, ich meine, Herr Weickert." "Friedrich ist ... ähm, warte, er muss dort im Gras liegen." "Da drüben?" "Schmeckt's?" "Oh ja, ein bisschen hart, aber sehr süß." "Ich pflücke noch ein paar."
Friedrich lag, die Arme unterm Kopf verschränkt und die Beine übereinander. Er hatte die Augen geschlossen, aber Katharina sah, dass er nicht schlief, denn er kaute auf einem Grashalm. Sie kniete sich so leise neben ihn, dass er sie nicht bemerkte und schaute ihn an. Sie musste lächeln. Sie hätte ihn am liebsten erschreckt, wie ein wilder Bär ihm ins Ohr gebrummt oder ihn wie eine Biene irgendwohin gestochen.
"Ich seh' dich", presste er plötzlich zwischen den Zähnen hindurch, und sie fiel beinahe hintenüber. Sie ballte die Fäuste. "So was Gemeines, ich wollte dich überraschen." Sie trommelte auf seine Brust. Er umfasste ihre Handgelenke, sie machte ihre Arme steif und hielt dagegen. Obwohl er sie im Griff hatte, fühlte sie sich jetzt wie die Stärkere. Sie hätte sich auf ihn drauf plumpsen lassen können, dass ihm die Luft wegbliebe, er hatte keine Hand frei, weil er sie festhielt, er war wie an sie gefesselt, er konnte nicht weg, er konnte nicht einmal den Grashalm von seinen Lippen nehmen. Er versuchte es trotzdem und spuckte ihn aus, aber er war zu lang und lag quer auf seinem Gesicht. Sie musste lachen, sie beherrschte ihn. Ihre Augen funkelten, als plane sie eine Attacke, aber weil sie nichts tat, schüttelte er ihre Hände und meinte "Was hast du vor?" "Ich weiß nicht", zischte sie, und dann stieß sie blitzschnell auf ihn herab und biss ihn in die Wange. Er schrie auf vor Schmerz, ließ sie los, und Katharina bekam einen furchtbaren Schreck über das was sie angerichtet hatte. Er blutete, und das Blut lief über seine Wange. Sie wollte es fortwischen, sie entschuldigte sich tausendmal. Er meinte, es wäre nicht schlimm, aber sie sagte, doch, es wäre schlimm, dass sie ihm solchen Schmerz zufüge, obwohl sie es gar nicht gewollt habe. Er hielt ein Tuch auf die kleine Wunde und sagte "Nein?" Sie sah ihm in die Augen, wie jemand, die darauf wartet, dass er sich rächt. Aber es geschah nichts. Dann flüsterte sie, jedes Wort einzeln: "Nein. Ich wollte dir eigentlich etwas Liebes antun." "Der Schmerz lässt nach, das ist angenehm", erwiderte er. Sie sahen sich unverwandt an. Auf einmal errötete sie und begann heftig zu atmen. "Lass uns gehen." "Wohin?" "Wo wir allein sind, nur du und ich." "Ja."
Alfred kam herbeigesprungen. "Hast du geschrien? Bist du verletzt?" "Irgend so eine kleine Grille hat mich gebissen." "Zeig' mal. Das sieht eher aus wie ein Schlangenbiss." "Nein, nein, dann wäre ich jetzt sicher schon tot."
Sie wanderten alle zusammen weiter. Sie kamen durch einen feuchten Grund, zu dessen Seiten moosige Felsbrocken hingen, an denen sich Fichtenbäumchen mit dürren Wurzeln klammerten, und durch den ein klarer Bach rauschte. Dann mussten sie über eine glitschige Holzbrücke und schließlich wieder ein Stück den Berghang hinauf, bis sie auf einen schönen, ebenen Weg gelangten, auf den durch die Baumwipfel die Sonnenstrahlen fielen.
Das ging eine Weile so, aber plötzlich war der Weg zu Ende und die Sonne war auch weg. Sie standen mitten im Wald, und durch die Bäume konnte man die dunklen Wolken am Himmel sehen. Da fing es auch schon an zu regnen, ein Wolkenbruch wie nach lange angestauter Hitze. Friedrich befürchtete ein schweres Gewitter, aber Ernst Theodor meinte, in dieser Gegend wären Gewitter eine Seltenheit.
Obwohl zunächst die Bäume viel vom Regen abgefangen hatten, waren sie alle ziemlich durchnässt, Henriette klebte das Kleid an ihrem mageren Körper, Friedrich hing ein Tropfen an der Nase. Ernst Theodor unternahm ein letzten Versuch, ihren Standort nach der Karte zu bestimmen, aber sie hatte schon auf der zurückliegenden Strecke mehrmals irregeführt. Alfred wurde es kühl in den nassen Sachen, Wilhelmine sagte, er soll eine Runde rennen, die Bewegung wärme auf. Er machte einen Bogen um die anderen herum und verschwand für einen Moment in den kleinwüchsigen Tannen, die sich zwischen den hohen Stämmen breitmachten.
Dann kam er aufgeregt wieder und rief "Da unten ist ein Haus." "Ein Haus?" Er zog Ernst Theodor mit sich, und sie stolperten über den Waldboden einen Abhang hinunter, wo auf einem kleinen Plateau eine Hütte stand. Dahinter ging es tief hinab in ein schmales Tal, auf der Vorderseite jedoch führte ein breiter Weg vorbei, der offenbar nach den Spurrinnen zu urteilen, auch befahren wurde.
Die Hütte diente wohl Förstern und Jägern zum Schutz und Aufenthalt, sie hatte einen Schlot und einen Schuppen. Die Fensterläden waren dicht, die Tür abgeschlossen, aber Ernst Theodor fand an der Außenwand unter dem Dach einen Kasten, und mit Friedrichs Hilfe langte er hinauf, und darin hing tatsächlich an einem Nagel der Schlüssel. Sie öffneten und traten ein. Die Männer lösten die Verriegelung der Fensterläden und ein matter, aber gemütlicher Lichtschein erfüllte den Raum.
Es befand sich nur das Nötigste darin, Tisch und Bänke, auch ein Schrank mit einem Haufen Geschirr und Besteck, das anderswo entbehrlich gewesen und hergeschafft worden war. Was man von außen nicht hatte sehen können: Eine kleine Schlafkammer war vom Hauptraum abgetrennt, darin stand ein breites, einfaches Holzbett mit einer Strohmatratze.
Die Männer entschieden, dass zuerst Feuer gemacht werden muss. Es gab einen halboffenen, aus groben Steinen gemauerten Kamin. Alle wurden losgeschickt, Brennholz zu sammeln, und man fand am dem Schuppen Holzscheite gestapelt, die, wie Alfred meinte "furztrocken" waren, worüber Katharina schrecklich lachen musste. Der Kamin strahlte die Wärme ins Zimmer ab und war hervorragend geeignet, die Kleidung zu trocknen, die man auf alle möglichen Gerätschaften davor aufhängte.
Man fand auch ein paar Decken, die zwar ein bisschen klamm waren und einen sonderbaren Geruch hatten, aber herrlich wärmten. Henriette schlang sich eine davon um den Leib, und Katharina band einen dicken Strick um ihre Taille, dass sie aussah wie ein Germanenmädchen aus grauer Vorzeit. So gekleidet ging sie mit Ernst Theodor und Wilhelmine und einem großen Wasserkessel auf die Suche nach einer Quelle, die Ernst Theodor in der Nähe vermutete, denn: "Wo eine Behausung ist, da ist auch Wasser." Damit lag er richtig, und man befeuerte den kleinen Herd, um Teewasser aufzusetzen. "Hat jemand nachgesehen, ob überhaupt Tee da ist?" fragte Friedrich, und keiner sagte etwas. In dem Schrank war eine Blechdose mit welken, zerriebenen Blättern wie Herbstlaub, zerschnittenen Stengeln und winzigen, halbzerfallenen Blütenkelchen. Es duftete sehr aromatisch.
Das Feuer im Herd brauchte eine Ewigkeit, und Alfred tauchte von Zeit zu Zeit die Fingerspitze hinein; es hatte sich kaum erhitzt. Man goss einen Teil davon ab, und irgendwann fing es sachte an zu rauschen und Bläschen stiegen darin empor und schließlich dampfte es ordentlich. Ernst Theodor meinte, das reiche aus, zum Kochen brächte man es sowieso nicht.
"Was ist'n das?" fragte Alfred, der ein Töpfchen gefunden hatte, in dem eine braune harte Masse steckte. Friedrich probierte. "Honig." Er schnitt mit dem Messer kleine Stücken heraus und gab jedem davon, nur Ernst Theodor lehnte dankend ab, "Ich vertrage keinen Honig, ich bekomme davon Sodbrennen." "Das habe ich ja noch nie gehört", meinte Wilhelmine und grinste und sah ihn immer wieder von der Seite an, als würde sie eine neue Eigenschaft nach der anderen an ihm entdecken.
Der Regen hatte aufgehört, aber wie es im Wald geschieht, tropfte es noch lange von den Bäumen. Katharina schaute aus dem Fenster, sie wiegte ihre Hüfte hin und her, man sah, dass sie noch nicht wieder von hier weg wollte. "Dann können wir aufbrechen", sagte Ernst Theodor, nachdem er sich noch einmal in die Karte vertieft hatte. "Aber das Feuer?" meinte Katharina nach einer Pause. "Das brennt langsam herunter, ich werde etwas Wasser darüber schütten." "Halt, warten Sie." "Was ist denn?" "Ich glaube, ich weiß nicht, ich habe so ein Stechen im linken Bein." "Ein Stechen?" fragte Ernst Theodor und zog die Augenbrauen hoch. "Ja, oder genauer gesagt ein Ziehen, seit vorhin schon, als wir hier herunter gekommen sind." "Ja, und nun?" "Ja, und nun?" fragte sie und warf auch Friedrich einen kurzen Blick zu. Der kratzte jedoch gedankenverloren in dem Honigtöpfchen herum. "Friedrich", rief sie. Er fuhr zusammen. Sie wusste nicht genau, weshalb sie in angesprochen hatte, und Ernst Theodor meinte in leicht besorgtem Ton "Katharina ist, wie es scheint, nicht mehr gut zu Fuß." "Dann soll ich sie tragen?" Katharina wandte sich jäh ab. "Ach Friedrich, Sie ... Klotz." "Ich bin ein Klotz?" sagte er und war sich keiner Schuld bewusst. "Natürlich wird Sie niemand bitten, mich zu tragen." Ernst Theodor versuchte sich einzumischen, sie winkte ab. "Es wird schon gehen." Sie machte ein paar vorsichtige Schritte, dann knickte sie um. "Ich weiß nicht recht", sagte Ernst Theodor, der sie hielt.
Da hörte man plötzlich draußen, wie sich ein Pferdefuhrwerk über den feuchten Weg wälzte. Auf die geöffneten Fensterläden aufmerksam geworden, hielt der Kutscher, ein Waldarbeiter, der Holz auf seinen Leiterwagen geladen hatte, an. Die anderen traten vor die Tür, man begrüßte sich. Der Mann fragte, ob alles in Ordnung sei, und Ernst Theodor berichtete kurz, wie es ihnen auf ihrer Wanderung ergangen war. "Bis Leihburg sind es zu Fuß zwei Stunden", meinte der andere. Er kaute auf einem dicken Klumpen Tabak herum. "Ja, es ist, wir haben hier eine Dame, die nicht mehr laufen kann." "Klar kann ich." Der Kutscher schaute von einem zum andern. "Kann sie oder kann sie nicht?" "Nein." "Ja." "Nicht so richtig." "Sie hat was mit dem Bein." „Das ist schlecht." "Hm." "Ich würde Sie mitnehmen, aber", sagte der Mann und deutete auf seinen Wagen, "erstens ist da zu wenig Platz, und zweitens", er kratzte sich am Hinterkopf, "das ist kein Vergnügen, auf so 'nem Wagen mitzufahren, wäre möglich, dass es davon noch schlimmer wird für das gnädige Fräulein." Katharina fühlte sich geschmeichelt von seiner Anrede. Da sagte Wilhelmine "Und wenn Sie uns mitnehmen?" Man sah sie erstaunt an, aber Katharina war die erste, die den Vorschlag unterstützte. "Ja, lassen Sie Wilhelmine und die Kinder und Friedrich oder Ernst Theodor mitfahren, damit sie wenigstens rasch ins Hotel zurückkommen." "Soll ich dafür das ganze Holz abladen?" entgegnete der Kutscher missmutig, "das hätten Sie sich vorher überlegen sollen." "Was?" Wilhelmine sagte "Wir bezahlen Sie gut für Ihren Dienst." "Ich bin kein Dienstmann, ich bin Holzhauer." Dann schaute er abermals auf seine Ladung. "Drei allenfalls, zwanzig Kreuzer für jeden." "Fünfzehn." "Aber nur bis zum Ortseingang, ich kann ja schlecht damit bis vors Hotel fahren." Dann wurde lange hin und her entschieden, wer mitfahren und wer hierbleiben soll, bis der Kutscher davon genug hatte. "Wir sind uns auch schon einig", sagte Katharina fröhlich. Die dünnen Baumstämme, die er geladen hatte, lagen, wie man feststellte, wie zwei Bänke gegeneinander, so dass Wilhelmine und Henriette auf der einen, Ernst Theodor auf der anderen Seite Platz fanden, und damit rumpelte die Fuhre los. Sie winkten sich noch zu.
Ein paar Minuten später bekam Katharina einen Schreck. "Aber was ist denn nun mit uns?" "Das wollte ich die ganze Zeit schon fragen", meinte Alfred. "Wir hätten vereinbaren sollen, dass er noch mal wiederkommt." "Dann müsste er in stockdunkler Nacht fahren, das macht der nicht. Außerdem werden Wilhelmine und Ernst Theodor ohnehin dafür sorgen, dass man uns abholt." "Hoffentlich." "Und wann?" "Gleich morgen natürlich."
Alfred war auf einmal todmüde. Er verkroch sich mit zwei Decken auf das Bett in der Kammer. Als Katharina hinzukam, um ihm seine Jacke auszuziehen, schlief er schon tief und fest. Sie nahm seine Schuhe, die er achtlos von den Füßen gestreift hatte, und säuberte sie vom Dreck, der an den Sohlen hing. Friedrich gab ihr eine harte Bürste, die er aus einer großen Kiste mit Werkzeug hervorholte.
Über den ganzen Beschäftigungen war es Abend geworden und die Nacht verwandelte den Wald in eine dunkle Höhle, vor der ein leises Rauschen ging und aus deren Tiefe nur noch seltsame Geräusche heraus drangen. Später wurde es ganz still, allein der Bach gluckerte monoton ins Tal hinab.
Die beiden lauschten schweigend, und Katharina hielt das Gesicht in die frische Nachtluft, in der auch jetzt noch der Duft der Fichten nach Harz und feuchter Wurzelerde lag. Dann sagte sie "Ich lege mich auch schlafen." Man musste sich einigen, wer sich wo hinlegen kann. Sie meinte, dass sie bei Alfred Platz findet, und Friedrich sagte schnell, er würde es sich auf den zwei Bänken bequem machen. Er befürchtete, dass es in der Kammer rasch kühl wird, weswegen man die Tür, die man sowieso nicht richtig schließen konnte, auf lassen sollte. "Damit Sie mich beim Schlafen beobachten können?" sagte sie lachend. "Warum sollte ich das tun?" "Nun, warum nicht?" Obwohl sie allein waren, hörte Katharina nicht auf, an dem förmlichen "Sie" festzuhalten. Und auch den merkwürdigen Vorfall am Nachmittag auf der Wiese schienen beide vergessen zu haben; war es der Streich eines niederen, flatterhaften Waldgeistes gewesen, der vorbeiziehende Wanderer mit harmlosen Pfeilen der Lust bespickt?
Katharina hatte ihr Kleid abgelegt und war unter die Decke geschlüpft. Aber bei Friedrich, der sein Lager vor dem Kamin ausgebreitet hatte, war noch keine Ruhe eingekehrt. "Was machen Sie denn?" fragte sie aus dem Dunkel heraus. "Ich lege bloß die Bürste wieder in die Kiste zurück." "Hat das nicht Zeit bis morgen?" "Störe ich?" "Ja. Nein. Sind Sie nicht auch müde?" "Doch." Sie schwiegen, bis er annahm, sie sei eingeschlafen.
Er fand in der Kiste allerlei Sachen, unter anderem ein Paar Steigeisen, mit denen man an den Baumstämmen emporklettern konnte, oder einige Klumpen feinen weißen Hirschtalg. Dass er das alles überhaupt erkannte, lag daran, dass er früher als Knabe etliche Male im Harzgebirge bei einem Onkel zu Besuch war, der ein leidenschaftlicher und äußerst kenntnisreicher Waldläufer gewesen war, obwohl er einen verkrüppelten Fuß hatte. Für einen Moment erinnerte er sich an diese schöne Zeit. Morgen wird er Alfred einiges davon zeigen und erklären.
"Und?" flüsterte Katharina, und Friedrich erschrak, weil ihre Stimme so nahe klang. Tatsächlich stand sie hinter ihm und beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, über seine Schultern. "Ist es eine Schatzkiste?" Er lachte. "Ja, aber wohl eher eine, die schon mal geplündert wurde." "Was ist das da? Marzipan?" "Das ist Hirschtalg." "Kann man das essen?" "Man kann schon", meinte er, "aber es ist nicht angeraten." Dann machte er Ernst Theodor nach: "Esst nicht von dem Hirschtalg, er bekommt euch schlecht."
Sie kniete sich neben ihn und kramte ebenfalls in der Kiste herum, während er mit der Kerze leuchtete. "Da, schau mal, eine Flasche." Sie zog die staubige Flasche heraus, er betrachtete sie und wischte mit dem Ärmel über das Etikett. "Ist es echter Kräuterschnaps?" "Rotwein." "Ah. Wollen wir ihn trinken?" "Aber er gehört uns nicht." "Doch, mir gehört er, ich habe ihn gefunden." "Ich weiß nicht." "Was weißt du nicht? Glaubst du, jemand hat ihn extra hier versteckt und holt ihn morgen früh?" "Und wenn es nun wirklich so ist?" Sie lachten. Sie schauten sich an. Er hielt in der einen Hand das Licht, in der andern die Flasche. Sie näherte sich ihm und küsste ihn auf den Mund, einmal, zweimal. Von der Kerze tropfte das heiße Wachs. Dann sagte sie "Dir wird schon eine Ausrede einfallen." "Für die Flasche?" "Ja." Sie küssten sich. "Ich werde sagen, du hast mich dazu überredet." "Das wirst du nicht tun." Er stellte die Sachen auf dem Boden ab. Sie küssten sich lange. "Und wieso nicht." "Ich verlange es von dir. Du sollst mich verleugnen." Sie zog ihn auf die Decken, die vor dem Feuer lagen, dessen Glut einen magischen Schein und wonnige Wärme spendete.
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2010
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