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Als Ulrike am späten Nachmittag nach Hause geht, sieht sie am Myconiusplatz Karl mit etlichen anderen Kindern am Brunnen spielen. Die Jungen haben die kurzen Hosen hochgerafft und stolzieren im Wasserbecken herum. Karl sitzt zwischen zwei Mädchen, die Ulrike nicht kennt, auf dem Brunnenrand.
Die alte Wanzleben kommt mit ihrem Spitz, dem giftigen Kläffer, vorbeigehumpelt und schimpft wie immer und droht mit der Polizei und erzählt dann wieder irgendeine zotige Geschichte, die sich vor dreißig Jahren in einem Hinterhaus in einer Gothardauer Gasse zugetragen hat. Ulrike hat jetzt keine Lust, sich weder mit der Wanzleben noch mit der lärmenden Bande abzugeben, obwohl sie gern wissen würde, wer die beiden Mädchen sind.
Sie biegt vorher in eine Seitenstraße ein, und daheim beschließt sie, sich einen heißen, süßen Kakao zu kochen und zu lesen. Aber die Milch ist sauer und frische zu holen, ist sie zu faul, also trinkt sie Tee, die gute Rennsteig- mischung, mit Honig vom Imker. Sie klopft an Hans' Tür, um ihn zu fragen, ob er auch einen Becher will, aber er ist nicht da. Sie setzt sich in den Sessel am Fenster, wo man am längsten lesen kann, ohne Licht zu machen, und sie liest, bis es dämmerig wird. Und sogar, als sie kaum mehr die Schrift entziffern kann, liest sie weiter.
Hans schaut herein. "Hallo Schwesterchen. Engel hat gesagt, dass heute Nacht Verdunklungsübung ist, ich soll dir Bescheid sagen." "Ist mir doch wurscht." Hans will die Tür schließen, sie fragt "Muss jemand aufbleiben?" "Er hat sich selber bereiterklärt, wahrscheinlich erwartet er, dass er 'nen Orden kriegt, der 'Wachbleibende des Schutz- raumbezirks' oder so."
"Oder den 'Offenen-Augen-Orden mit gekreuzten Wimpern'".
Sie rappelt sich plötzlich auf. "Hast du Besuch?" "Ja, 'ne Freundin, bleibt heute hier." Ulrike späht in den Flur. "Also tschüs Schwesterchen, und denk' dran: kein Leselicht anmachen." "Ja ja." Hans und das Mädchen gehen in sein Zimmer, er kommt noch mal zurück. "Brauchst du so eine blaue Glühbirne?" "Nee, ich nehme die vom letzten Mal." Dann flüstert sie scharf "Die Müllern? Gehst du jetzt mit der?" "Warum nicht." "Na ja, einer muss es ja tun." "Eben. Übrigens habe ich vorhin deinen kleinen Lieblingsstrolch am Myconiusbrunnen herumlungern sehen." "Die treffen sich immer da." "Hauptsache, er ist rechtzeitig zu Hause. Engel hat gesagt, sie wollen heute verstärkt Streife laufen. Das wird jetzt von mal zu mal schärfer, und auf Kinder nehmen sie auch keine Rücksicht mehr, ich wollt's dir bloß sagen." Damit verschwindet er.
Engel ist der Luftschutzwart des Hauses, ein Kriegsveteran mit einem steifen Bein, aber auch damit so flink, dass er ständig neue Rekorde aufstellt, wie schnell er das Treppen- haus hoch- und runtersteigen kann. Dementsprechend schlägt er unten am Eingang neben den Briefkästen einen Zettel an, wo die Zeiten draufstehen, die jeder Mieter im Alarmfall höchstens benötigen sollte, um von seiner Wohnung bis in den Keller zu kommen.
Er meint es gut, er sorgt sich ernsthaft um die Sicherheit der Bewohner. Seit kurzem ist er auch zusätzlich Haus- feuerwehrmann, und seitdem in irgendeiner Richtlinie vom Reichsluftschutzbund empfohlen wurde, dass sich der Hausfeuerwehrmann möglichst immer in der Nähe des Dachbodens aufhalten sollte, um im Falle eines durch Brandbomben verursachten Feuers dasselbe sofort zu bekämpfen, hat Engel die alte Besenkammer an der Bodentreppe zur "Hausfeuerwehrleitstelle" erklärt und mit Tisch, Stuhl und einem Feldbett eingerichtet.
Er hat auch mit Hans über ein Feldtelefon verhandelt, und Hans, der ihm zum Schein versprochen hat, sich darum zu bemühen, wird von Engel sein "dickster Freund" genannt und von allen möglichen lästigen Hauspflichten verschont.
Ulrike ertappt sich dabei, dass sie sich nun doch Gedanken um Karlchen macht. Wenn Erich daheim sitzt und allenfalls sein Bewusstsein mit Schnaps verdunkelt, bekommt er womöglich morgen eins auf die Mütze, weil er sich nicht ordnungsgemäß an der Maßnahme beteiligt hat. Und dann fragt wieder jemand nach, wo Karl solange war und stellt fest, dass er sich - der Apfel fällt ja nicht weit vom Stamm - am Vater ein schlechtes Vorbild genommen und aus der todernsten Verteidigungsübung einen Jux gemacht hat. Ulrike sieht den Schlamassel voraus, aber am meisten ärgert sie sich jetzt darüber, dass es wieder an ihr hängenbleibt. Sie zieht ihre Jacke über und geht zum Myconiusplatz.
An der Haustür steht natürlich der dienstbeflissene Engel, der ohne jede Zurückhaltung fragt, was sie jetzt noch vorhabe. "Ich gehe spazieren." Das ist so ungeheuerlich, dass es Engel nicht ernstnehmen kann. Er schaut auf die Armbanduhr und sagt, als würde es sich um eine Mond- finsternis handeln "Also in fünf Minuten beginnt die erste Phase der Verdunklung."
"Mir macht das nichts aus, ich bin nachtblind", sagt Ulrike und geht um die nächste Häuserecke. Da jaulen auch schon die Sirenen auf. Karl kommt ihr entgegen. Sie wird wütend. "Sage mir mal, weshalb du dich hier herumtreibst?" "Und du?" Er wird auch noch frech. Ihr bleibt die Spucke weg, aber Karl lenkt ein. "Ich wollte gerade zu dir. Da hätte ich wohl Pech gehabt, du bist ja gar nicht zuhause." "Rede keinen Blödsinn. Heute Nacht ist Verdunklung, wenn sie dich ... wenn sie uns hier erwischen, kommen wir womöglich auf die Wache." "Aber wir haben doch nichts getan."
Sie schnappt ihn am Kragen und sie laufen schleunigst zu Karls Wohnung. Oben bei Erich brennt volles Licht hinter zwei Fenstern. Ulrike seufzt. "Ich habe es geahnt." "Es ist sowieso schon zugeschlossen", sagt Karl. "Na freilich, und den Schlüssel hast du wieder vergessen." Er schweigt. "Los, klingel." "Das hat eh' keinen Zweck, der schläft." "Klingel, sag' ich."
Er hält den Klingelknopf gedrückt. "Hör' schon auf", sagt sie nach einer Weile. "Und nun?" "Und nun, und nun. Was weiß denn ich." "Und bei dir?" "Hans hat Besuch." "Wen?" "Das geht dich einen feuchten Kehricht an." "Bestimmt die Müllern." Sie schleichen sich, von Engel unbemerkt, ins Haus. "Warte hier", sagt sie im Flur zu Karl.
Sie klopft leise bei Hans an und öffnet dann gleich die Tür. Das Mädchen zieht sich die Bettdecke bis zum Hals. "Was ist denn?" fragt Hans mürrisch. "Kann ich dein Fahrrad haben?" "Deshalb kommst du hier reingeplatzt?" "Es ist doch bestimmt abgeschlossen." Hans quält sich aus dem Bett und kramt aus irgendeiner Tasche den Schlüssel hervor. "Seit wann stehst du auf solche Hühnerbrüstchen?" flüstert sie. "Raus!" faucht er und schmeißt die Tür hinter ihr zu. Karl sagt "Vögeln die da drin?" "Nee, die spielen Mensch-Ärger-Dich-Nicht." "Zu zweit? Das macht doch keinen Spaß."
Sie sucht aus dem Schrank einen Pullover heraus und gibt ihn Karl. "Anziehen." Karl gehorcht. "Wir gehen jetzt genauso leise in den Keller und holen die Räder." "Und dann?" "Dann machen wir eine Radtour." "Du spinnst." "Kann schon sein." "Ich denke, es ist Verdunkelheits- übung?" "Umso besser, da ist nicht so viel Verkehr auf den Straßen." "Sag' mir wenigstens, wo wir hinfahren." "Zu meiner Freundin Anna." "Zum Borsberg?" "Du kennst wohl auch jeden, was?" Er zuckt mit den Schultern. "Na, so'n hübsches Mädchen." "Ach, gib' nicht so an, immerhin gehörst du erst zum Jungvolk." "Pah. Wenn ich dir erzähle ..." "Ein andermal vielleicht, jetzt komm'."
Engel steht im Hauseingang und wartet, dass die zweite Phase beginnt. "Mist", sagt Ulrike und überlegt. "Soll ich ihm eine überbraten?" fragt Karl. "Geh' rein", sagt sie, lehnt die Tür an und ruft dann nach unten "Herr Engel?" "Fräulein Friedewald? Ich habe Sie gar nicht zurückkommen sehen." "Hier oben riecht es so komisch, irgendwie brenzlig. Ich glaube, es kommt vom Dachboden."
Engel steigt in neuer Rekordzeit die Treppe hinauf, und als er die Besenkammer betritt, springen Ulrike und Karlchen abwärts, holen in Windeseile die Fahrräder aus dem Keller und jagen in der Straßenmitte davon.
Sie sind schon an der Dampfmolkerei, als Ulrike fragt "Kommst du damit zurecht?" "Der Sattel ist ein bisschen zu hoch, aber sonst geht's." "Das ist eben eins für Erwachsene." "Und wer solche Einfälle hat, ist selber noch nicht erwachsen." "Hast du nie dran gedacht, was total Verrücktes zu machen?" fragt sie. "Jetzt redest du auf einmal wieder wie 'ne alte Tante. Bei dir weiß man nicht, woran man ist." Sie lacht. "Wie hättest du mich denn gern, mein Kleiner." "Nenn' mich nicht Kleiner." "Oh pardon, Monsieur."
Sie radeln nebeneinander her, die Dynamos surren an den Reifen, die Strahlen aus den Lampen huschen über die graue Straße, die Baumkronen an den Seiten heben sich gegen den sternenklaren Himmel ab. Karl sagt "Wenn es wieder hell ist, ziehe ich deinen Pullover aber aus, da sieht man nämlich vorn die Beulen von deinem Busen." "Du könntest ihn ja andersrum anziehen, Buckel haben auch Männer." "Wenn schon, dann richtige." "He, du Großklappe, du meinst wohl ..." "Achtung, da kommt ein Auto."
Die Scheinwerfer des Wagens sind mit einer durch- scheinenden Blende bedeckt, weshalb die beiden ihn erst im letzten Moment bemerken. Er bremst scharf, und Karl kommt eine Handbreit vor der Stoßstange zum Stehen.
Auf der Beifahrerseite steigt ein Mann aus. "Was ist denn mit euch los", ruft er, "das hätte ins Auge gehen können. Wieso seid ihr mit den Rädern hier unterwegs, und warum fahrt ihr mit hellen Lampen?" Karl beugt sich nach vorn und schaut auf die Fahrradlampe, die erloschen ist, weil der Dynamo stillsteht. "Machen wir doch gar nicht", sagt er.
Der Mann mustert ihn. "Wer bist du?" "Ich bin Karl." "Doch nicht etwa der Karl Oschatz?" "Wenn Sie denselben meinen, ja." "Werd' nicht pampig. Und warum hast du ein Mädchenpullover an?" "Das ist meiner, Herr Schwemmler."
Der Mann leuchtet ihr mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. "Fräulein Friedewald? Sie haben mich erkannt?" sagt er, als wäre ihm eine Verkleidung misslungen. "So dunkel ist es auch wieder nicht." Schwemmler fällt gleich wieder in seinen gewohnten Kommandoton. "Hat Sie der Engel nicht instruiert?" Karl sieht Ulrike an und muss lachen. Schwemmler wischt ihm mit dem Taschen- lampenlicht eins aus.
"Herr Engel ist der beste Luftschutzwart weit und breit, ich wollte ihn schon für einen Orden denunzieren", sagt Ulrike und kichert zu Karl zurück. "Darüber wird zu gegebener Zeit entschieden. Jetzt erklärt' mir mal gefälligst, was ihr hier zu suchen habt." "Suchen eigentlich nichts ..." "Du nicht! Sie erklärt mir das, verstanden." "Ähm, wir wollen zu Doktor Weber." "Ausgerechnet jetzt, wo die Aktion in vollem Gange ist?" "Ja, der Karl ist nämlich, der hat geschwollene Mandeln." Sie fasst sich an den Hals, damit es Karl sieht, und der fängt an, fürchterlich zu husten. "Nun kratz' nicht gleich ab", sagt Schwemmler, "ein echter Pimpf kennt keinen Schmerz." Ulrike sagt "Nee, dafür aber einen Arzt, der ihm helfen kann. Ich weiß, dass große Verdunklungsübung ist, aber ich kann ihn doch nicht die ganze Nacht husten lassen, das kann uns ja auch verraten." Schwemmler wirft einen Blick in die Gegend ringsum. "Es ist nicht ungefährlich, hier allein rumzuradeln." "Deshalb sind wir auch heilfroh, dass Sie uns begegnet sind, von Ihnen haben wir natürlich nichts zu befürchten."
"Ich kann das nicht einfach durchgehen lassen, dass ihr mit voller Beleuchtung gefahren seid." "Aber das sieht man doch höchstens auf zehn Schritte", sagt Karl, und als Schwemmler ihn scharf ansieht, rettet er sich in einen Hustenanfall. "Er hat Recht, Sie haben uns auch erst im letzten Moment gesehen." "Umso schlimmer, auf diese Weise kann sich der Feind unbemerkt annähern, und dann überraschend angreifen." Karl meint kleinlaut "Sie werden uns doch nicht schlagen?" "Mit dir habe ich bestimmt noch ein Hühnchen zu rupfen." "Vielleicht, wenn ich wieder ganz gesund bin."
Ulrike fröstelt. "Ist Ihnen kalt?" "Ein bisschen, von dem langen Rumgestehe." "Borchert", ruft er zum Wagen, "bringen Sie die Uniformjacke her, die da hinten liegt. Und von den Schlitzblenden welche." Der andere tut wie ihm geheißen. "Ziehen Sie die an", sagt Schwemmler. "Puh, die stinkt aber nach Benzin." "Besser ist es, bevor du auch krank wirst", sagt Karl. "Hören Sie auf den Rat von unserm Jungvolkmann. Warum waren Sie eigentlich nicht im BDM?" "Ich hatte da so was." "Ach so. Und die Dinger kleben wir über eure Lampen." "Das soll halten?" fragt Karl. "Die sind selbstklebend." "Und wenn nicht?" "Dann schiebt ihr, verstanden", sagt er gereizt. "Zu Befehl." "Es ist sowieso nicht mehr weit."
Plötzlich wird Schwemmler misstrauisch. "Ihr fahrt auch wirklich zu Doktor Weber?" "Selbstverständlich", erwidert Ulrike, und Karl hustet. "Borchert, das wäre eine gute Gelegenheit, das Feldtelefon auszuprobieren." Borchert nickt. "Rufe den Doktor Weber an und sag' Bescheid, dass die beiden gleich kommen. Sie müssen verstehen, Fräulein Friedewald, ich will Sie so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone heraushaben."
Borchert bringt den Apparat angeschleppt und fummelt daran herum. "So einen wünscht sich der Engel auch", sagt Ulrike. "Das kann ich mir denken", meint Schwemmler und grinst. "Na, wird's denn nun?" sagt er zu Borchert. "Welche Nummer hat der denn?" "Welche Nummer hat der?" "Welche Nummer?" "Die Sechsundzwanzigfünfundfünfzig", sagt Karl. Die anderen sehen ihn erstaunt an, er fügt hinzu "Hat jedenfalls die Anna". "Nun wählen Sie schon." "Mach' ich doch." "Da sind wir ja eher dort", meint Ulrike. Borchert hebt die Hand. "Rufzeichen ertönt. Es ist besetzt." "Besetzt? Mit wem telefoniert der um diese Zeit?" "Jetzt ist es weg." "Wie weg?" "Die Verbindung ist zusammengebrochen. Ah, der Akku ist leer, hier die rote Lampe, die zeigt es an."
"Wir könnten ja Sie von dort aus anrufen und sagen, dass wir angekommen sind." Schwemmler überlegt. "Das geht nicht." "Wieso nicht?" "Das ist ein Apparat für den internen Funkverkehr, ich kann Ihnen nicht einfach die Nummer geben." "Verstehe." "Sie müssen mir versprechen, dass Sie auf dem schnellsten Weg dorthin fahren, keine unnötigen Zwischenaufenthalte, keine Umwege." "Zu Befehl", sagt Karl, und Schwemmler sagt an ihn gewandt "Du bist mir dafür verantwortlich, dass die Ulrike sicher ankommt." "Ich werde mein Bestes tun", erwidert Karl, und Ulrike unter- drückt ein Glucksen.
Borchert schaut auf die Uhr. "Günther, die andern sitzen sicher schon in der Gartenklause." In der Stadt hört man eine Sirene. "Man braucht uns", sagt Schwemmler, und sie steigen in den Wagen ein. Ulrike ruft "Denken Sie mal an den Herrn Engel wegen dem Orden." "Ist in Arbeit."
Sie fahren langsam davon. "Funktioniert das mit den Blenden?" "Es ist weniger Licht. Hoffentlich kommen nicht noch welche." "Da sorgt der Schwemmler schon dafür, dass er der einzige ist." "Du? Was war das, was du hattest?" "Was?" "Als du nicht beim BDM warst?" "Das interessiert dich wohl brennend?" "Nö, nur so." "Oh, die Jacke stinkt." "Damit hättest du es beinahe vermasselt." "Fahr nicht so schnell, ich muss gucken, wo das Haus ist."
Auf den Grundstücken am Borsberg ist es stockfinster, und die Bewohner der kleinen Siedlung sind der Anweisung nachgekommen und haben ihre Häuschen verdunkelt, dass kein Licht nach außen dringt. Ulrike findet das Webersche Haus und klingelt am Gartentor, doch es hört niemand.
Endlich geht die Haustür auf und jemand ruft "Wer ist da?" "Anna? Ich bin's, Ulrike."
"Huch, so 'ne späte Überraschung, komm' rein." "Können wir die Fahrräder hier draußen abstellen." "Ja, ja, hier wird nichts geklaut. Hast du noch jemanden bei dir?" "Das ist Karl, der Junge von Erich Oschatz, der alte Kommunist, du erinnerst dich." "Oh, bei dem ich das Dach zerschossen habe?" "Was'n für ein Dach?" fragt Karl. "Vielleicht sagst du erst mal guten Abend." "Hallo, ich bin Karl."
Er reicht ihr die Hand. "Ich bin die Anna, einen hübschen Pullover hast du an." "Uns hat eine SA-Streife hoch- genommen", sagt Karl, um das Thema zu wechseln. "Was?" "Nichts besonderes, ich kannte den Mann." "Gehen wir in mein Zimmer. Oder wir können auch unten im Wohnzimmer bleiben." "Wo is'n es schöner?" fragt Karl. Anna lacht. "Weiß nicht, alles gleich gemütlich." "Sind deine Eltern da? Wir wollen hier nicht so hereinplatzen. Wenn wir stören, hauen wir wieder ab." "Ach wo. Meine alten Herrschaften sind im Theater." "Es ist doch Verdunkelung?" "Gott sei Dank nicht überall. Die sind in Erfurt oder in Meiningen, hab' mir's nicht gemerkt, kommen erst morgen früh wieder."
"Da biste jetzt ganz allein hier?" fragt Karl. "Nein, ihr seid ja auch da." "Wie schön, dass deine Mutter mit aus- gegangen ist", sagt Ulrike, "ich denke, sie ist sonst immer ein bisschen zurückgezogen." "Ja, mich freut es auch, dass sie sich endlich mal aufgerafft hat." "Ist das denn bei ihr irgendwie psychisch bedingt?" fragt Ulrike, setzt dann aber gleich hinzu "Es geht mich nichts an." Anna sagt "Jedenfalls nervlich, keiner kann das so richtig sagen. Papa kennt ja eine Menge Spezialisten, aber Mam sagt, die reden immer nur wie die Schafe über die Wolle. Sie würde es einfach selber gern wissen, was mit ihr los ist. Das kannst du dir ruhig anschauen", sagt sie zu Karl, der sich im Zimmer umsieht. "Das sind Elefanten aus Elfenbein, die sind aus Indien. Und das da oben ist ein arabisches Krummschwert. Ich habe gehört, damit säbeln sie den Dieben die Hand ab." Karl sieht sie erschrocken an. "Und dann?" "Dann? Stecken sie es wieder ein." "Oder schärfen es, mit Diamantenstaub." "Ach so?" "Ja. Gehört es deinem Vater?" "Er hat es von einer Reise mitgebracht. Wollt ihr was trinken?" "Hm." "Wir haben versucht, dich anzurufen, aber es war besetzt." "Hatte gerade 'n ziemlich langes Gespräch." "Mit wem denn?" Ulrike wirft Karl einen scharfen Blick zu. "Ansonsten gehe ich sowieso nicht dran, wenn's klingelt." "Wieso nicht?" "Was interessiert mich das? Letztens haben ständig solche Idioten angerufen und gefragt, ob ich mich mal mit ihnen treffen möchte, Eisessen oder Kino und so was, die haben geklungen wie Bübchen. Was ist? Was guckst du so?" "Nichts."
Anna bringt drei Gläser mit Saft und Salzgebäck. "Wollt ihr hier bleiben?" "Gern", sagt Karl. "Nee, geht nicht", sagt Ulrike, "wir warten das Ende von der Verdunklung ab, das wird ja nicht die ganze Nacht dauern." "Doch, das geht die ganze Nacht", sagt Karl und trinkt das Saftglas mit einem mal aus. "Ihr werdet wohl nicht nach Mitternacht wieder zurückradeln." "Habe ich auch keine Lust drauf", meint Karl und knabbert von dem Gebäck. "Du machst, was ich sage. Bei mir würde es ja gehen, Anna, aber Karlchen muss früh zur Schule." "Ich kenne keinen Karlchen." Anna lacht. Er sagt "Und außerdem bin ich immer noch krank." "Wie bitte?" "Hast du selber gesagt gegenüber den SA-Leuten, dass ich zu Annas Vater muss." Er hustet. "Das war doch bloß eine Ausrede." "Ach so, weil's dir genützt hat, und jetzt lässt du mich hängen." "Haben die es geglaubt?" "Na klar doch", sagt er und hustet stärker. "Ich hole dir noch ein Glas Saft." "Oh, das ist lieb von dir." Anna schaut zu Ulrike und zieht die Augenbrauen hoch "Er kann ja richtig nett sein." "Wenn er was haben will."


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Texte: ISBN: 978-3-00-031064-5
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2010

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