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Als Paul am späten Nachmittag zu Hause war, verspürte er Lust, etwas zu trinken. War das die Folge von Lydias Walnusslikör? Er hatte seit vielen Tagen keinen Alkohol mehr getrunken. Er suchte die Flasche weißen Rum, die ihm der General geschickt hatte, mit nochmaligem Dank für seine Gefälligkeit wegen der Post aus Deutschland. Die war jedoch bisher nicht eingetroffen. Er öffnete die Flasche und schenkte sich ein Glas halb voll, dann goss er noch etwas dazu und nahm einen großen Schluck. Er musste sich schütteln, 'aber das Zeug tut verdammt gut', dachte er.
Auch Esthers Brief war immer noch nicht angekommen. Das klang so, als würde er unterwegs irgendwo liegen- geblieben sein. Aber was, wenn sie ihn noch gar nicht abgeschickt hatte? Paul machte das, was er immer tat, wenn er sehnsüchtig auf Nachricht von Esther wartete: er holte einen Stapel mit ihren Briefen aus dem Bücher- schrank und dann las er beinahe wahllos darin herum.
Sie schrieb, dass der alte Segebrecht geheiratet hat, zum vierten Mal. Wilhelm Segebrecht wohnte in Kleinz- schachwitz und der Garten beim Haus reichte bis an den Fußweg, der am Ufer der Elbe entlang ging, es war nur noch ein breiter Streifen Wiese dazwischen. In dem Garten lag ein Kahn, Esther hatte Paul darauf aufmerksam gemacht, als sie dort spazierengingen. Sie hatten immer eine Zeit lang ihre Lieblingswege, wo sie, am besten in der warmen Jahreszeit abends, wenn es lange hell war, in aller Ruhe eine Runde drehten und dann meistens an einer Kneipe vorbeikamen, wo sie draußen ein Bier oder ein Glas Wein tranken. Sie wohnten in Laubegast, in der Nähe einer Endhaltestelle der Straßenbahn, und von dort konnte man praktisch in alle Richtungen laufen (nach vorn über den Fluss gab es weiter stadtwärts eine kleine Fähre).
Esther kam auf die Idee, mit dem Kahn auf der Elbe zu fahren, und zwar zu der kleinen Insel, die auf der Höhe von Schloss Pillnitz lag. Sie sagte, davon habe sie schon als Kind geträumt. Und im Pillnitzer Park, zwischen manns- hohen, akkurat geschnittenen Hecken stand eine lange Gondel des alten sächsischen Königs, weiß und golden gestrichen, mit einer Galionsfigur vorne dran, die in ein goldenes Horn pustete, auf der hatten sich die Fräuleins und feinen Damen vor zweihundert Jahren vergnügt, und die hatte wohl das kleine Mädchen zum Phantasieren angeregt. Esther ging schnurstracks an die Haustür und klingelte, und Wilhelm Segebrecht öffnete, und Esther fragte ihn, ob man mit dem Kahn mal auf der Elbe fahren könnte.
Wilhelm Segebrecht ging schon am Stock, und er sagte, früher sei er natürlich selber den Fluss rauf und runter gerudert, und auf der Insel sei er auch gewesen, aber da ist es gar nicht so schön wie man denkt, denn es ist alles verwildert und der Boden ist überwuchert. Aber wenn sie darauf besteht, freilich, er habe nichts dagegen, nur müssten sie es allein bewerkstelligen, den Kahn aufs Wasser zu bringen.
Paul kannte eine Menge Leute in allen möglichen Werk- stätten, und mit zwei Freunden legten sie vom Garten (wo der Zaun ein Tor hatte) bis zum Ufer eine Bahn aus Holzbohlen, und auf Walzen konnte das Boot hinab- geschoben werden. Am Ufer war sogar so etwas wie eine Anlegestelle aus früherer Zeit, da machten sie es fest. Das war Ende Mai. Und dann veranstalteten sie eine richtige Gondelpartie mit feinen Häppchen zum Essen und mit Sekt vom Weingut Wackerbarth, und Esther hatte wie an einer Wäscheleine Lampions auf dem Kahn aufgehängt, und am Ufer standen Wilhelm Segebrecht und seine dritte Frau Arm in Arm und schauten dem Treiben der jungen Leute vergnügt zu. Seine Frau hieß Anneliese, und sie malten den Namen in Großbuchstaben auf den Kahn. Wilhelm lachte und meinte, der habe noch nie so einen hübschen Namen gehabt, aber wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die Stelle schon mal überpinselt worden war.
Sie fuhren flussabwärts bis zur Brücke und hinauf bis fast nach Heidenau. Irgendwo am Ufer machten sie Halt und suchten Holz für ein Feuerchen und saßen dann da, und es waren immer gelungene Ausflüge. Auf der Insel waren sie auch, und Esther fand, es wäre wie im Urwald, die Bäume hatten sogar dichte Schlingpflanzen um die Stämme gewunden. Was Paul dann hier an echten Urwäldern gesehen hatte, das ließ dieses Häufchen bewachsenen Schwemmsand freilich im Nachhinein kindisch erscheinen.
Eines Tages bevölkerten Dutzende von Nutrias das Ufer der Insel. Sie hatten rote Schneidezähne und ein glattes, dichtes Fell und putzige Pfoten. Man erzählte, sie wären aus einer Nutriafarm ausgebrochen, und sie vermehrten sich rasant. Am Inselufer waren sie sicher, und sie durch- löcherten den Boden mit unzähligen Bauhöhlen. Sie waren weder scheu noch zutraulich, aber es waren bald zu viele, und es war keine Freude mehr, zur Insel hinüberzurudern.
*****
Als Paul am nächsten Morgen erwachte, lag er auf dem Sofa. Bernarda hatte ihm die Decke übergelegt, die Rumflasche war halb leer, Esthers Briefe lagen verstreut. Zum ersten Mal musste er sich sehr überwinden, zur Arbeit zu gehen. Er dachte sogar daran daheim zu bleiben, aber sein gutes Gewissen gewann die Oberhand. Er ließ die Briefe so liegen, und am Abend las er weiter, als hätte sich zwischendurch nichts ereignet.
Esther erinnerte sich immer wieder an ihren Aufenthalt in einem kleinen Nest, auch an der Elbe gelegen, aber hinter Meißen, das hieß Zadel. Paul fiel auf, wie oft Esther dieses Zadel in ihren Briefen erwähnt, er suchte jetzt regelrecht danach und überflog eine ganze Reihe Blätter, ob er den Ort genannt fände. In dem Jahr hatte Paul in Meißen zu tun gehabt, und er hatte vorgeschlagen, dass sie beide eine Woche dort wohnen, keine richtigen Ferien, aber doch eine Abwechslung und Erholung wovon auch immer. Esther fand das großartig. Sie sah sich in einer kleinen niedlichen Pension mit Blick auf die Weinberge, wo sie jeden Tag ausschlafen konnten bis zum Mittagessen, das sie in irgendeinem gemütlichen Landgasthof einnehmen würden. Paul traute seinen Ohren nicht. Wenn jemand niemals länger als bis um sieben im Bett lag, so war es Esther, und wirklich trieb sie Paul jeden Morgen aus den Federn und sprühte vor Unternehmungslust.
Sie hüpfte halbnackt im Zimmer umher, und Paul sah sie vom Bett aus an. Sie war von zierlicher Gestalt und hatte überall dort entzückende Rundungen, wo man sie sich bei einer Frau wünschte. Sie hatte Pobacken nach Apfelform, wie es Paul besonders gefiel. Sie hatte schlanke Waden und leuchtende Fersen. Ihre Brüste waren rund und fest, sie hingen nicht herab, sondern streckten sich hervor, ohne jedoch gewaltig zu sein. Sie trug mittellanges Haar, das bis eben zum Nacken reichte, und Paul mochte es, wenn sie eine Seite hinters Ohr legte. Und sie mochte es, wenn er ihr Ohr küsste und mit der Zunge darin herumschnupperte, denn das kitzelte so drollig. Wenn er Glück hatte und für seine lüsternen Blicke belohnt wurde, konnte er sie überreden, noch einmal zu ihm ins Bett zu kommen.
Oder er umarmte sie, wenn sie am Waschbecken vor dem Spiegel stand, was sie scheinbar überhaupt nicht leiden konnte, weil sie gerade dabei war sich zu kämmen oder zu schminken. Er küsste sie auf die Schulter, streichelte ihren Hals, ihre Brüste, ihren Bauch und Schoß, und schließlich drehte sie sich zu ihm und sie umarmten und liebkosten sich, heimlich und ungestüm wie zwei junge Ausreißer. Hatte er nicht damals schon das Gefühl, mit Esther an einem Ort zu sein, wo niemand sie finden konnte?
Im Gasthaus "Zur Linde" lernten sie zufällig ein Ehepaar kennen, er war Architekt, sie Kunstmalerin, beide etwa in ihrem Alter. Sie kamen ins Gespräch, und die beiden luden sie ein, sie zu besuchen. Da stellte sich heraus, dass sie in einer alten Windmühle wohnten, die auf einem Hügel nahe am Fluss stand und die der Architekt ausgebaut und zu einem richtigen Wohnhaus umfunktioniert hatte. Natürlich fand Esthers Begeisterung keine Grenzen mehr. Sie ließ sich von dem Hausherrn alles erklären und erzählen, sie interessierte sich anscheinend sogar für die alten verwickelten Besitzverhältnisse, über die er berichtete. Er zeigte ihr (und Paul auch) die Konstruktions- und Baupläne, und beim Essen beschrieb er Esther in allen Einzelheiten, wie hier früher Mehl gemahlen wurde und was sich da befunden hat, wo jetzt der Tisch, die Couch, der Geschirr- schrank stehen.
Alle Räume hatten gewölbte Wände, und vom obersten aus hatte man eine tolle Aussicht über die Landschaft, die flach war, mit kleinen Wäldchen zwischen endlosen Rüben- feldern. Da erst fiel Paul auf, dass an der Mühle das wichtigste, nämlich die Windflügel, fehlten, die nicht mehr benötigt wurden. Er sagte nichts, aber er dachte, wie deprimierend es im Grunde war, in einer Windmühle zu wohnen, wenn man kein Müller ist. Während Esther und der Architekt miteinander fachsimpelten (Esther hatte sich bereits Grundkenntnisse im Bauen angeeignet), ließ sich Paul von der Frau ein paar Bilder zeigen. Sie war eine schlanke Person, größer als Paul, und sie war ganz hübsch, aber schweigsam, und Paul wusste in ihrer Gegenwart auch nichts zu sagen. Er beschränkte sich auf Allgemein- plätze beim Betrachten ihrer Bilder, es waren fast ausschließlich Landschaften und Blumen. Sie sagte, dass sie im Dresdner Polizeipräsidium gerade ein Wandbild gestaltet, und da erkannte Paul, dass ihre Landschaften alle so aussehen, als würde der Schutzmann darin für Ordnung sorgen. Plötzlich sagte sie "Gehen wir wieder hinunter, wir wollen die beiden doch nicht so allein lassen."
Es wurde spät, und dann meinten die Gastgeber, Paul und Esther sollten ruhig hier übernachten, Platz wäre genug (die beiden hatten keine Kinder). Sie willigten ein, und es war nachts wunderbar still, und Paul schlief gut. Aber mitten in der Nacht wachte er auf und hatte großen Durst. Er ging hinunter in die Küche, und dort standen Esther und der Architekt, sie an die Spüle, er an den Tisch gelehnt und redeten über die ägyptischen Pyramiden. Esther lächelte und rief "Paul, du kleiner Nachtwandler, kannst du nicht schlafen?" Es war die Haltung, die ihm an dem Architekten missfiel, die lässig übereinandergeschlagenen Beine, die aufgestützten Arme, der leicht hervorgehobene Unterleib. "Nein, ich habe bloß Durst." Der Archiekt reichte ihm sofort ein Glas Wasser, Esther sagte "Ich komme dann auch gleich, Schatz", und er legte sich wieder hin und schlief bis zum Morgen durch.
"Weißt du", sagte er, "es ist ganz schön dort bei denen und interessant ist es sicher auch, ich meine, so eine umgebaute Mühle findet man nicht alle Tage. Aber ehrlich gesagt habe ich keine große Lust, noch mal hinzugehen. Du?" Esther war gerade damit beschäftigt, ein Photo von einer Steinskulptur zu machen, die in einem kleinen heruntergekommenen Park stand. "Bitte? Was sagtest du?" "Ob du noch mal zu deinem Architekten willst?" "Mein Architekt? Was soll denn das heißen?" lachte sie. Und als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, kam sie auf ihn zugesprungen und hielt den Photoapparat auf ihn gerichtet. "Bleib' mal so." "Was ist?" "Das muss festgehalten werden, mein eifersüchtiger Ehemann, das ist urkomisch!" Sie knipste ein paar Mal. Er sagte "Eifersüchtig? Auf wen? Auf ihn etwa?" "Oh ja, auf deinen Nebenbuhler, oh, seht nur, wie zornig er wird, ja, das weckt den Ritter in ihm." "Hör auf damit. Ich bin nicht eifersüchtig." Sie schmiegte sich an ihn und er bekam einen Kuss. "Es gibt dafür auch gar keinen Grund." Sie waren nicht noch mal dort. Trotzdem schwatzte Esther noch Wochen lang von allen möglichen Bauwerken, und ob er wüsste, dass es in London ein altes Wasserwerk gebe, das man zu einem Kaufhaus umgebaut habe, mit einer riesigen Glasfassade, oder war es vorher ein Gefängnis gewesen?
*****
Am Freitag spätabends klingelte das Telephon, und Paul nahm ab. Es war Lydia, die sich über den Mann beschwerte, den Paul wegen der Elektrik zu ihr geschickt hatte. Der wäre unmöglich gewesen, hätte sich aufgeführt wie der Hausbesitzer und habe sie beschimpft, weil sie angeblich alles hatte verrotten lassen. Dabei hätte er selber keine Ahnung gehabt und von dem Aufzug gleich ganz die Finger gelassen. "Bei allem guten Willen, Paul", sagte sie, "aber so was können wir uns schenken." Paul wusste gar nicht wie ihm geschieht. Er brauchte einen Moment, um sich zu besinnen, dann entgegnete er ihr mit aller Ungerührtheit: "Fühlen Sie sich jetzt besser, Lydia?" "Wie? Was? Warum soll ich mich schlecht gefühlt haben? Mir geht's gut. Ich habe nur ein Problem mit solchen Leuten, die so tun, als könnten sie alles besser als ich und mich wie eine kleine Fischersfrau behandeln." "Eine Fischersfrau?" "Ach lenken Sie nicht ab, Paul." Sie machte eine Pause, dann sagte sie "Ich wollte nur, dass Ihnen das klar ist." "Ja, gut, ich werde es meinem Kollegen ausrichten, buenas noches Lydia." Sie schwiegen beide, er konnte ihren Atem hören, dann sagte sie fast leise "Gute Nacht, Paul." Am meisten war er irritiert davon, um welche Zeit Lydia angerufen hatte, um ihn mit so einer Lappalie zu belästigen.
Er suchte nach der Branntweinflasche, fand sie aber nicht. Er ging zu Bernarda, die beim Backen war, sie sagte, es sei kein Schnaps mehr im Hause. Er ging brummig zurück in sein Arbeitszimmer. Am folgenden Abend kam Bernarda herein und brachte ihm eine Flasche Whisky. "Woher haben Sie den?" fragte er beinahe vorwurfsvoll. "Gekauft natürlich, Sie wollten gestern doch welchen haben." Er bedankte sich artig. "Trinken Sie nicht gleich alles", sagte Bernarda im Hinausgehen, dann drehte sie sich noch mal um und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, "Wollen Sie, dass ich hier mal aufräume?" Er sah erst sie an, dann das Zimmer, überall lagen Esthers Briefe herum, manche Blätter waren unter den Tisch gefallen, andere hatte Paul mit Gegenständen beschwert (zum Beispiel auf dem Fensterbrett), als sollte der Wind sie nicht fortfegen. Bernarda vermutete ganz richtig: er hatte das getan, als er zuviel getrunken hatte. "Nein, lassen Sie nur, Bernarda, ich mache das selbst. Ich muss sie erst wieder sortieren." "Gewiss kommt bald Post von Ihrer lieben Frau", sagte Bernarda sehr warmherzig, "ich habe das im Gefühl." Paul lächelte ihr zu. "Danke."
Das mit dem Sortieren wäre angebracht gewesen, sie waren alle durcheinander geraten. Paul musste feststellen, dass Esther am meisten über jene Erlebnisse schrieb, die sie gemeinsam hatten, bevor er das erste Mal nach Südamerika ging. Und merkwürdigerweise rief er sich jetzt all das in Erinnerung, wovon Esther offenbar schon längst gezehrt hatte, ohne dass ihm bewusst geworden war, wie viel es ihr bedeutet und wie sehr sie sich daran fest- klammert. Er war in seinen Antworten kaum darauf eingegangen, das musste er jetzt eingestehen, und dabei hätte sich Esther womöglich gewünscht, diese Erinne- rungen an eine sorglose Zeit so unmittelbar mit ihm zu teilen, wie es eben auf die Entfernung ging. Oder war es genau dieses Gefühl einer verlorengegangenen Gemein- samkeit, ein Gefühl, das er fürchterlich sentimental fand, gegen das er sich wehrte?
Sentimental zu sein, das hatte er Esther einige Male vorgeworfen und sie damit sogar zum Weinen gebracht. Oh, wie schämte er sich jetzt dafür! Er hatte sie (und sich doch auch) immer wieder darin bestärkt, dass ihre gemeinsame große Zeit noch bevorstünde, er hatte alles in den frohesten Farben ausgemalt, darauf hatten sie sich doch so gefreut, als sie heirateten, auf das tolle Pläne- schmieden! Und was war daraus geworden? Was hatte er unternommen, damit diese Zeit endlich anbricht? Er war fortgegangen. Mit den trivialsten Argumenten dafür, dass dies notwendig sei. Er hätte sich gegen ihren Vater stellen müssen, und er hätte Esther von ihm befreien sollen. Stattdessen hat er der Firma gedient und sich Josef Waldstein unterworfen. Und am schlimmsten: er war auch noch fassungslos darüber, dass Esther sich auf die Seite des Vaters stellte. Dabei war es genau das, was er, Paul selbst, durch sein Handeln verursacht hatte.
Es war ihm an diesem Abend so weinerlich zumute, dass er nicht weiterlesen konnte. Tagsüber suchte er Ablenkung bei der Arbeit, und es schien zu klappen. Abends ging es ihm besser und er war wieder soweit, sich in ihre Briefe zu vertiefen, ohne von Schuldgefühlen befallen zu werden. Vielleicht lag eine wundertätige Wirkung in ihnen, die Esther beim Schreiben hatte miteinfließen lassen, für den Fall, daß ihnen beiden die Trennung so sehr zu schaffen macht.
Aus ihrer Wohnung in Laubegast waren sie auf die andere Seite des Flusses gezogen, in den ersten Stock eines Hauses, das ein Stück abseits der Straße stand und das an der Sonnenseite dicht mit Weinpflanzen bedeckt war, die sich an einem Holzgitter empor rankten. Später schrieb Esther jedesmal über irgendeine neue Errungenschaft in der Wohnung, einen neuen Teppich ("einen echten Perser"), einen Sessel, in dem sie herrlich "rumfläzen" konnte oder schlichte, aber praktische Gartenmöbel. Im Herbst hatte sie neue Fenster im Wohn- und im Schlaf- zimmer einbauen lassen, ganz moderne, die angeblich die Wärme besser im Innern hielten. Und prompt wurde der folgende Winter (übrigens der erste, in dem Paul nicht zu Hause war) bitterkalt, "wie ich es vorausgesehen habe".
Die Gegend auf dieser Elbseite hatten sie vorher schon gelegentlich erkundet. Gegenüber vom Haus ging ein Hang ziemlich steil in die Höhe, und eine Straße schlängelte sich in Serpentinen hinauf, zum Spaziergehen war es da zu unwegsam. Es verschlug sie immer weiter flussaufwärts, der Elbhang war dort weiter vom Ufer weg, und es gab eine Fläche, wo eine Quittenplantage war, auf der die gelben Früchte in Hülle und Fülle an den niedrigen Bäumchen hingen. Dort stibitzten sie drei große Taschen voll, und Esther machte Quittengelee, so viel, dass sie nachher das meiste verschenkten. Wahrscheinlich waren es diese Quitten, an welche Paul erinnert wurde, als im Haus des Generals sich Senorita Carrasco über das Quittenbrot hermachte.
Noch weiter hinten gab es etliche Täler, die sich in den Berghang eingeschnitten hatten. Es waren schmale, tiefe und dunkle Gründe, mit schlanken hohen Buchen an den Seiten und fast immer einem Bach, der über Stock und Stein hinabgluckerte. Vor Zeiten stand in manchem Tal eine Wassermühle, zwei, drei gab es noch, außer Betrieb, und sie machten ganz den Eindruck von Behausungen für Räuber und Wilddiebe. Bis auf eine im Schiefergrund, die zu einer Schänke ausgebaut worden war. Die Schiefergrund Schänke war ein beliebtes Ausflugslokal für alle möglichen Korporationen aus der Stadt, die sich hier mit ihren Namen auf Holztafeln verewigten, die Baumstämme waren übersät damit. Außerdem stand da auf der Freiterrasse ein überdimensionaler Richard Wagner Kopf, angeblich hatte sich der Komponist hier für irgendwelche Szenen in seinen Opern anregen lassen.
Wenn man es bis zur Schiefergrund Schänke geschafft hatte, war es eine Wonne, sich mit einem kühlen Bier zu erfrischen, und Esther und er zählten sich bald schon zu den Stammgästen. Irgendwann gesellten sich zu den Studenten immer öfter und immer mehr SA-Männer, oder viele von den Studenten traten von nun an in Uniform auf. Es erschienen auch junge, gutaussehende Männer von der SS, die sich im Gegensatz zu den braunen Horden nicht mit groben Trinksprüchen und markigen Liedern ergötzten. Zum Himmelfahrtstag hielt ein Dresdner Parteifunktionär eine Rede und anschließend gab es einen kleinen Gottesdienst, und zu irgendeinem Anlass, der Paul jetzt entfallen war, hatte die SA bei Einbruch der Dämmerung eine Zeremonie mit Fackeln veranstaltet, die in dem Waldesgrund beim Feuerschein wirkte, wie wenn die Statisten einer Freischütz-Aufführung aufbrechen, den Kaiser Barbarossa zu erwecken. Paul und Esther gerieten in solche völkischen Szenen hinein ohne es zu ahnen.
Endgültig verleidet wurde ihnen die Schiefergrund Schänke, als sich eines Sonntags ein SS-Untersturmführer mitten unter die Gäste hinstellte und alle Juden unter ihnen aufforderte, sofort das Lokal zu verlassen. Als nichts dergleichen geschah, holte der SS-Mann tatsächlich seine Pistole aus dem Holster, hielt sie drohend in die Luft und wiederholte seine Aufforderung, woraufhin vier oder fünf Männer aufstanden und gingen. Dem einen rief das Serviermädchen, eine vollbusige, strohblonde Maid, hinterher "Aber erst bezahlen, mein Herr." Und plötzlich sprangen ein paar andere Gäste von ihren Stühlen auf und stürzten sich auf ihn. Einer durchwühlte seine Taschen, fand eine Geldbörse und warf sie der Kellnerin zu. Die fing sie mit ihrem Tablett auf und nahm sich das Geld heraus, während die anderen den vermeintlichen Zechpreller über die Abgrenzung aus Birkenstämmchen hinweg in den Abgrund schmissen, dass er bis in den Bach purzelte. Die Kellnerin ließ die Börse hinterherfliegen. Es gab ein allgemeines Gelächter und Gejohle, und Paul spürte, wie Esther unterm Tisch seine Hand fasste und sie festhielt.
In einem Brief hatte Esther ihm mitgeteilt, dass der Doktor Schlesinger ihnen (also eigentlich war sie an Joseph Waldstein adressiert) eine Postkarte aus Californien geschickt hat, wo er nach einer Monate langen Odyssee angekommen und sich niedergelassen hat. Doktor Schlesinger war Kinderarzt am Dresdner Klinikum gewesen, und er hatte Esther behandelt, als sie all die üblichen Kinderkrankheiten durchmachte und als sie in der Pubertät manchmal nervliche Schwächen hatte. Er war sozusagen der Hausarzt der Familie (als auch Esthers Mutter noch dazugehörte), und er war auf seinem Gebiet eine Koryphäe. Esther schrieb, die Postkarte zeige eine Ansicht von der Strandpromenade mit richtigen Palmen und riesigen weißen Limousinen ohne Dach, "weil es dort so warm ist". Paul musste schmunzeln. Hatte er seinen Briefen nicht mehr als ein Dutzend Photos von hier mit der üppigsten Vegetation beigelegt? Allerdings, das musste er zugeben, hatte Esther auch darüber jedesmal gestaunt. Der Vater sei von Doktor Schlesingers nettem Gruß völlig unbeeindruckt gewesen und habe lediglich geäußert, es sei nicht recht von einem Arzt, seine Patientenschaft so im Stich zu lassen.
Es gab damals im Februar eine Zeit, als sich Esther ziemlich komisch fühlte. Sie druckste herum und schien es vor Paul verbergen zu wollen, aber gleichzeitig suchte sie seine Nähe und Zuwendung. Was mit ihr los wäre, fragte er. Nichts. Es wäre doch irgendwas. Nein, gar nichts. Dann sagte sie eines Morgens wie nebenbei, aber so, dass er es mitbekommt, ihre Periode wäre seit zwei Monaten ausgeblieben. Sein Gesicht erstarrte. Und? Was bedeutet das? Nichts, erwiderte sie unbekümmert, so etwas kann öfter vorkommen. "Ja, aber bei dir ist es das erste Mal, oder?" "Ja." Nach einer Pause sagte sie: "Es kann natürlich auch sein, dass ich schwanger bin." "Im Ernst?" rief er so heftig, als habe er gerade erfahren, dass sich das Magnet- feld der Erde umgepolt hat. "Sachte, sachte, du erschrickst mich ja", sagte sie und lachte dabei. Und da es jetzt heraus war, redete Esther in diesem Ton weiter, eine Mischung aus Begeisterung und Besonnenheit, während Paul versuchte zu entscheiden, was als nächstes zu tun sei.
Da war der Doktor Schlesinger schon nicht mehr da, und die anderen jüdischen Ärzte aus seinem Umkreis waren mit Berufsverbot belegt. Das Klinikum hatte, trotz aller Gegenbemühungen einen miesen Ruf bekommen. Gerade was Entbindungen anbetraf, gab es praktisch nur eine erste Adresse, nämlich das Krankenhaus in der Fried- richstadt. Das lag von ihrer Wohnung aus am anderen Ende, und Paul verzweifelte beinahe, indem er die Notwen- digkeit, Esther dorthin zu bringen gegen die Strapazen abwog, welche eine zweistündige Straßenbahnreise für sie bedeuten würde. "Aber Liebling, ich bin doch nicht im achten Monat", sagte sie, und er erklärte ihr, dass die Erschütterungen auf den Gleisen oder eine plötzliche Bremsung den größten Schaden anrichten können, bis hin zur Fehlgeburt, worauf sie es beide mit der Angst bekamen.
Paul hatte eine Idee. Ein paar Häuser weiter nebenan war eine Automobilwerkstatt, vielleicht wären die so freundlich, ihnen einen Wagen zu leihen. Der Mechaniker hätte das gern getan, aber es war kein Wagen verfügbar. "Worum geht's denn?" fragte ein Gefreiter von der Wehrmacht, der mit seinem Lastwagen da war. Paul erwiderte, seine Frau müsse so schnell wie möglich ins Friedrichstädter Krankenhaus. Der Gefreite erklärte sich bereit, sie mitzunehmen. Sie setzten sich vorn mit ins Fahrerhaus, Esther zwischen die beiden. Der Gefreite hieß Rhyks und hatte einen unheimlichen Silberblick. Er fuhr gut, aber er musterte Esther ständig von der Seite, als hätte er sie eben auf dem Sklavenmarkt erstanden. Paul sah ihn auch an und bemerkte, dass sein Blick irgendwohin ging. "Würden Sie bitte auf die Straße achten", sagte er. "Mach' ich doch", sagte der Gefreite Rhyks.
"Sie bekommen also ein Kind?" fragte er Esther, und Paul wies eindringlich mit der Hand nach vorn. "Wahrscheinlich", sagte Esther und lächelte. "Was haben Sie geladen?" fragte ihn Paul. "Gasflaschen." Die beiden zuckten zusammen und wandten sich um. "Fürs Schweißen in der Werkstatt", sagte der Gefreite Rhyks. "Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie abzuladen?" "Wieso? Brauchen Sie welche?" "Jetzt übertreib' nicht, Liebling", meinte Esther und streichelte seine Hand. Rhyks sagte "Wenn's ein Junge wird, nennen Sie ihn Max." Es war nicht herauszuhören, ob das eine Frage oder eine Forderung sein sollte. "Gefällt Ihnen Max?" wandte er sich an Esther. "Na ja, ist nicht schlecht. Aber ich kann das nicht allein entscheiden", fügte sie hinzu, als würde sie ihn zumindest in die engere Wahl ziehen. Paul murmelte: "Und wenn es Zwillinge sind, nennen wir den anderen Moritz." "Da würden sich die Jungs aber später schön für bedanken", prophezeite Rhyks. "Vielleicht wird es ja auch ein Mädchen", sagte Esther.
Der Gefreite Rhyks setzte sie vorm Krankenhaus ab. "Mein Gott, wo müssen wir denn nun hin?" fragte Esther, als sie die Tafel mit den Abteilungen las. "Am besten in die Notaufnahme", entschied Paul. "Da gehen Sie in die Abteilung VI, dritter Stock", sagte die Schwester, nachdem sie einen Blick auf Esther geworfen hatte. Sie mussten warten, eine Schwester nahm Esthers Personalien auf. Paul machte die Angaben, er sagte, ihr Vorname ist Edda. Die Schwester wollte den Ausweis sehen, Paul sagte, den hätten sie in der Eile vergessen. Dann musste sie ins Behandlungszimmer. Sie fuhren mit der Straßenbahn zurück, sie saßen schweigend, Esther hielt das Rezept vom Arzt zwischen den Fingern, als würde darauf stehen, wo sie aussteigen müssen. Dann fragte sie ihn "Bist du enttäuscht?" "Nein, gar nicht." "Traurig?" "Nein." Er gab ihr einen Kuss. Sie meinte "Beim nächsten Mal klappt's bestimmt." "Ja. Jetzt wissen wir ja, wie's geht." Sie mussten beide lachen. Sie holten sich bei Feinkost Vogel eine Flasche Rotwein. Als es dämmerig wurde, machte Esther ein paar Kerzenlichter an. "Es ist schön mit dir", sagte Paul. Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, war er auf dem Sofa eingeschlafen.
Copyright © Edition Gothaer Hefte
Texte: Edition Gothaer Hefte
ISBN 978-3-00-030749-2
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
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