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Da steht doch tatsächlich ein Typ am Waschbecken und pinkelt rein. Ich schau ihm besonders angewidert zu.

"Sorry, ich muss total dringend und da ist alles voll."
Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Pissbecken und die Warteschlange an deren Ende ich gerade stehe. Sein Grinsen ist so breit, die Augen sind so weit aufgerissen, er könnte gut und gerne in einem japanischen Zeichentrick mitspielen. Niemand würde merken, dass er real ist. Ein Bekannter von ihm steht einige Plätze vor mir und mischt sich ein. Die beiden verständigen sich im Kauderwelsch der Region aus der sie stammen. Ich verstehe kein Wort, es ist mir auch egal.
Ich denk nur: "Touristen!"
Und dann noch: "Zugezogene, Studi-Berliner, Lumpenpack eben."

Es ist in Ordnung, so zu denken. Alle hier tun das, es ist ein allgemein gültiges Vorurteil. Wenn du in Berlin irgendwo mit Leuten rumhängst, die du hierdurch oder dadurch kennst, es dauert nicht lange und man lästert über Auswärtige. Bei solchen Gesprächen dreht es sich dann um kuriose Erlebnisse mit Trotteln unterschiedlicher Couleur.
Wird das Thema langweilig, entgegnet irgend jemand: "Seit wann bist du eigentlich hier?"
Trifft die Frage mich, bekomme ich immer einen hochroten Kopf.
Wahrheitsgemäß sage ich: "Ein knappes halbes Jahr."
Die anderen lachen dann immer und bauen mich auf, indem einer nach dem anderen zu gibt, auch noch nicht viel länger dazu zu gehören.
Ganz am Ende sagt manchmal jemand erhaben: "Ich bin wohl der einzige echte Berliner in der Runde."
Meist aber nicht. Da bleibt die Pointe aus, und man kommt auf andere Dinge zu sprechen. Bei nächster Gelegenheit werde ich von diesen zugedrogten Bauernkindern erzählen, die denken, sie müssten sich auf unseren Underground-Technopartys aufführen, wie auf ihrem Dorfbums. Nur eben in XXL.

Endlich bin ich dran: Schnell Wasser lassen und nichts wie raus hier. Die Hände wasche ich mir bestimmt nicht. Beim Verlassen des Pinkeltraktes bekomme ich einen Schlag in den Magen. Ach nein, es ist nur der Bass. Ich bin wieder auf der Party. Mich springt etwas von der Seite an. Ich kriege einen Schmatzer auf die Wange und eine Bierflasche in die Hand gedrückt.
"Frank, da bist du ja endlich wieder. Hast du noch eine Line in die Nase gezogen, oder was?", fragt mich Anja.
"Nein, ich musste am Pissbecken ewig warten", antworte ich.
Die Schlange zur Toilette ist noch wesentlich länger. Kacken muss keiner von denen. Meist drängeln sich kleine Gruppen in die Kabinen. Manchmal schaffen es bis zu fünf Leute in ein einzelnes Klo. Schon die Absurdität dieses Rituals bewahrt mich wohl davor, ein Kokain- oder Speedjunkie zu werden. Das ist echt nicht mein Stil. Seit zehn Wochen bin ich jetzt mit Anja zusammen und es ist ihr noch nicht einmal aufgefallen.

"Los komm, lass uns endlich tanzen", brüllt sie mir ins Ohr.
Den Busen drückt sie mir an den Oberarm. Ihre linke Hand krault auf meinem Rücken herum. Ich schau ihr in die Augen und erinnere mich daran, dass wir Pillen genommen haben. Ich denke sofort an den Bauern vom Klo. Scheiße, laufe ich etwa gerade auch so debil herum? Was ist mit Anja? Nein, die nicht. Ein bisschen vielleicht, aber es ist voll im Rahmen.

"Ich hab im Moment keine Lust, aber geh du ruhig", sagte ich.
Sie gibt mir noch einen langen feuchten Kuss auf die Wange.
"Aber komm nach, ja", strahlt sie und in verschwindet Richtung Tanzfläche.
Dort angekommen rastet sie von einer Sekunde auf die andere aus und taucht in der Menge ab. Ich schau mich nach einer Sitzgelegenheit um. Links wird gerade eine ganze Sesselgruppe frei. Ich beeile mich, um als einer der ersten da zu sein.

Der Ansturm ist nicht allzu groß. Hier haben wohl alle Hummeln im Arsch. Ich bin der Einzige, der sich setzt. Dann hab ich wohl meine Ruhe. Meine Ruhe? Ich bin auf einer Party in Berlin mit meiner Freundin und einem Haufen ihrer sehr netten Kumpels, ich habe Alkohol und Drogen im Blutkreislauf und ich freue mich, meine Ruhe zu haben. Bin ich etwa doch noch gar kein Berliner? Zeigt die alltägliche Dosis Wahn, die einem diese Stadt verabreicht, bei mir allmählich ihre Nebenwirkungen?

Jemand stolpert über meine ausgestreckten Beine. Es ist natürlich der Kumpel vom Waschbeckenpinkler. Er erkennt mich wohl nicht wieder und quatscht mich trotzdem freundlich nervend voll. Ich ignoriere ihn einfach, sonst kommt er noch auf die Idee, sich neben mich zu setzen. Der Typ versteht die Signale falsch und kriecht näher an mich ran, damit ich ihn besser höre.
"Man, verzieh dich, du Penner", sage ich, bevor er zu Wort kommt.
Dabei schaue ich, als wäre ich bereit, ihm sofort eins in die Fresse zu hauen, wenn er es nicht tut. Das ist natürlich glatt gelogen, funktioniert aber fast immer. Auch dieses Mal.

Ich denke an die Werbekampagne, die derzeit über die Bildschirme in der U-Bahn flackern. Der Senat mahnt dabei die Bewohner der Stadt zu mehr Gastfreundlichkeit. Mich erinnert das an Nachrichten aus China. Da gab es vor den Olympischen Spielen ähnliche Appelle. Zum Glück wird der hiesige Versuch eher das Gegenteil bewirken. Übrigens auch im Sinne der Touristen, die ja durch die Aufrufe noch einmal explizit auf die Attraktion der Berliner Unfreundlichkeit hingewiesen werden und diese dann auch erleben wollen.

Aber was interessieren die mich schon. Ich muss mir erst einmal über mich Gedanken machen. Was stimmt nicht mit mir, dass ich hier nur so herum sitzen will? An Anja kann es nicht liegen, unsere Beziehung ist immer noch so, wie zu Beginn. Eigentlich nicht vorhanden.

Anja kommt aus der selben Kleinstadt und der selben Grundschulklasse wie mein Mitbewohner. Sie saß oft bei uns in der Küche, wir haben uns ein paar Mal unterhalten und bald betrunken geknutscht. Sie hat gelegentlich bei mir übernachtet und irgendwann angefangen, mich Schatzi zu nennen. Seitdem telefonieren wir an den Tagen, an denen wir uns nicht sehen. Dass wir zusammen sind, haben wir uns nie gesagt.

Vielleicht liegt es daran. Ich sollte Anja sagen, dass die Zeit mit ihr schön war, ich mich aber lieber nach etwas Ernsthafterem umsehen will. Warum, wird sie dann zweifelsohne fragen. Ich sollte mir eine Antwort darauf überlegen.

Mir wird schlagartig klar, in sie nicht nur nicht verliebt zu sein. Sie geht mir sogar gehörig auf den Wecker. Eigentlich sind wir nur deshalb zusammen. Anja hat solange gebaggert, bis ich einfach klein bei gegeben habe. Seitdem schleppt sie mich von einer Party auf die nächste und stellt mich irgend welchen Freunden vor. Sie hat viele Freunde. Ich habe auch welche, aber nicht so reichlich. Dadurch laufen wir ihren häufiger über den Weg.

Sitzen ist genau das Richtige. In den vergangenen Wochen ist alles nur so an mir vorbei gerauscht. Ich bin mit Anja von einem Winkel der Stadt zum anderen gehastet, nur um möglichst Nichts zu verpassen. Und um mich herum sind auch alle gehastet, in jede Richtungen. Überall scheint gerade ein Ereignis statt zu finden. Fast immer werden die Erwartungen enttäuscht. Aber man bleibt im Strom, schließlich kann einem niemand sagen, was noch passiert.

Die ganze Stadt ist in unermüdlicher Bewegung, also am besten hinsetzen. Wer sitzt, verpasst hier viel weniger. Das ist wie bei Autoreisen. Der Fahrer sucht die Strecke aus, aber der Beifahrer hat was von der Landschaft. Ich werde mich ab heute viel häufiger einfach irgendwo hinsetzen. Das Spektakel soll an mir vorbei ziehen und ich nehme die Parade ab, anstatt hinterher zu jagen.

Anja eilt auf mich zu. Anscheinend hat sie mich gesucht.
"Die anderen wollen langsam los in die nächste Location. Lass uns die Jacken holen."
Ich sollte es ihr gleich sagen. Ernst schaue ich sie an. Anja lächelt blöde, als gebe es nur Gutes in der Welt. Ich spare mir die Diskussion lieber.
"Ich weiß auch nicht, mir ist irgendwie nicht so. Ich glaub ich trink aus und mach mich nach Hause auf."
So richtig scheint Anja nicht zu begreifen, was ich gemeint habe.
"Aber wir wollten doch heute Spaß haben", freut sie sich.
"Geh ruhig mit. Wir holen das nächsten Freitag nach, ja?"
Ich gebe ihr einen langen Zungenkuss.
"Schade, aber bevor mir mein Schatzi noch krank wird..."
Sie seufzt tief und umarmt mich zum Abschied.
"Aber nächste Woche machen wir wieder Party", zwinkert sie mir zu.
Party machen? Das hab ich nicht mehr nötig. Ich bin doch jetzt Berliner.


Impressum

Texte: Text und Gestaltung: Gorm Witte
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2009

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