Am Abend des 2. September betrat ich die Villa eines befreundeten Paares. In der Einladung stand, es werde eine „aufsehenerregende Party mit sensationellem Buffet“. Neugierig wie eine Treppenhausfliege kam ich wie immer zu spät und durchquerte die verwaiste Eingangshalle.
Nachdem ich mich durch einige schwere Samtvorhänge gekämpft hatte, zog ich die dahinter liegende Tür auf und blieb stehen. Atmete die schwarze Luft ein.
Die Geräusche summten, tobten, wehten oder schwappten vorbei wie Brandungswellen.
Ich befand mich mittendrin in einem Hörspiel, bei dem Fantasie gefragt war.
Man konnte das Dunkle greifen, die Nacht auf der Haut spüren. Sie reicherte sich an im eigenen Körper, der plötzlich so fremd schien wie die Nähe der anderen.
Die Party in völliger Finsternis war eine neue Laune unseres blinden Gastgebers Homer.
In der Einladung hatte mein Künstlerfreund versichert, alle Gäste würden auf ihre Kosten kommen.
Dass wir Sehenden blind wie Grottenolme herumtapsen würden, hatte er nicht verraten, aber es sollte wohl Spaß bereiten.
Spaß? Na, ja. Ich vermisste vor allem Musik. Private Partys sind meist begleitet von einem Sound, der die Schädeldecke sprengt.
Nun, ich weiß, dass Homer seine Bilder in Friedhofsstille malt.
„Das Absurde an einem Maler, der keine Farben sehen kann, reduziert sich auf ein winziges Maß bei der Vorstellung, wie er arbeitet: Hörend führt er seine Pinsel, ordnet jede Farbe dem Klang des Streichgeräuschs auf der Leinwand zu. Auch die spezifischen Düfte von Farben vermag er zu unterscheiden, genauso wie man Gewürze am Aroma erkennt …“
Zumindest steht das in seiner Biografie.
Manche munkeln, er schnüffle beim Malen absichtlich die Lösungsmittel, was seine Kreativität durchaus fördere. Dabei entstehen betörende Bilder, mit denen er ein Schweinegeld verdient und sich unter anderem extravagante Gesellschaften leisten kann.
Ständig muss er Publikum um sich scharen, seinen Appetit auf alles Neue stillen. (In Wahrheit spinnt er völlig. Homer und ich sind zusammen in einem ostfriesischen Kaff aufgewachsen. In Wirklichkeit heißt er Heiko Schnaars. Und blind ist er nur wie eine Eule bei Vollmond. Aber das weiß kaum einer, bitte nicht weitersagen, wäre schlecht für sein Geschäft.)
Tastend bewegten sich die Gäste wie Kinder beim Blindekuhspielen. Gerüche stiegen mir in die Nase: Schweiß, Aftershave, Seife, ein neben mir aufwallender Darmwind ließ mich die Nase rümpfen.
Menschen, die sich unbeobachtet fühlen, tun Dinge, für die sie bei Licht angeranzt oder wegen Belästigung angezeigt würden. Ich wurde angerempelt, spürte Hände auf meinen Schultern, in meinen Haaren, kalte oder warme Finger im Gesicht. Sie tasteten fahrig oder ergründend, zogen sich erschrocken zurück oder verharrten für rätselhafte Momente auf meiner Haut.
Zum Glück waren wir alle angezogen. Hoffte ich wenigstens.
Auch ich tappte, die Arme etwas vorgestreckt, durch den Raum und stieß prompt gegen eine große Vase oder Flasche. Glas zerplatzte auf dem Marmorboden und in der Nase kitzelte der ohnehin in der Luft schwebende, säuerliche Geruch von Champagner. Man trank hier nichts anderes. Bier wäre mir zwar lieber gewesen, doch Homer verabscheute dieses „Proletariergesöff“ – wenn auch erst, seit er seine Künstlerkarriere in Berlin vorantrieb.
Als die Flasche zerschellte, jagten spitze Frauenschreie wie Pfeile durch den lichtleeren Raum. Vereinzelt war Kichern zu hören.
Wieso gaben eigentlich die Männer kaum Geräusche von sich? Manche Typen brummelten allenfalls in tiefen Tonlagen, sprachen den düsteren Umständen entsprechend gedämpft, flüsternd.
Plötzlich wurde mir etwas in die Hand gedrückt, etwas Kühles, Metallisches. Ich glaubte, die Gastgeberin zu erkennen, an ihrem intensiven Rosenparfüm, heute gepaart mit Knoblauchatem. Diese Kombination löste Erinnerungen an gemeinsame Urlaube aus – südliche Gefilde, gegrillte Fische, Wein und in Knoblauchöl eingelegte Oliven.
Die Schwere in meiner Hand lenkte meine Aufmerksamkeit wieder in eine andere Richtung. Was sollte ich damit?
„Veronique?“ fragte ich ins Nichts.
Die Antwort blieb aus, sie war fort. Es war kaum mehr zu ertragen, dieses Nichtsehen, das einen zum armseligen, wehrlosen Trottel machte.
Allmählich verspürte ich Gereiztheit! Okay, Homer, dachte ich, du amüsierst dich, kennst jeden Zentimeter deines Domizils. Und vielleicht trickst du auch auf ganz banale Weise mit einem Nachtsichtgerät, damit dir auch ja nichts entgeht.
Ich respektiere deine Idee und Ausführung dieser Party, stille von mir aus deine Gier auf neue Gelüste, aber bedien‘ dich nicht an meinem Nervenkostüm!
Zwar ahnte ich, was mir zugesteckt worden war, aber ich wollte es auch wissen. Sehen.
„Homer!“, schrie ich in die Nacht. Das Gemurmel um mich herum verstummte für einen Augenblick. Dann setzte sich das Summen fort, als hätte ich nicht gerufen.
Ein warmer Atem strich an meiner Wange vorbei. Jemand knabberte an meinem Ohr, ein Hauch Chanel Nr. 5 stieg mir in die Nase, vertraut. Eine Hand fasste frech-fordernd zwischen meine Beine – welche Art von Party war das?
Sollte Homer in seinem Haus etwa Sexorgien forcieren? Aber mit so vielen Gästen? Sein Ding waren doch eher Fressgelage.
Der Künstler, der aussah wie ein feister Mönch ohne Kutte, schätzte extravagante Speisen noch mehr als abnorme Vergnügungen.
Ich hatte Tascha am Parfüm erkannt, bevor sie kicherte und „Hi“ flüsterte.
Wir sind nicht mehr zusammen, verstehen uns aber super. Bei Gelegenheit verbringen Tascha und ich eine Nacht zusammen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie auch eingeladen war. Und jetzt grapschte sie an meinem Körper herum, als gehörte er ihr.
Aber ich konnte und wollte ihre Annäherung gerade nicht erwidern.
Mir war nicht danach, solange ich nicht wusste, warum mir dieser Gegenstand zugespielt worden war.
„Lass das!"
Tascha murrte wie eine giftige Katze, doch ihre zupackenden Finger ließen mich jetzt endlich los, ehe sie wieder ins Dunkel entschwand.
Mein aktueller Unwillen in Bezug auf Homer verstärkte sich. Ich war mir absolut sicher, dass der Kerl eine Möglichkeit nutzte, uns alle zu beobachten und seine Sensationsgier zu befriedigen.
Ich atmete durch und straffte die Schultern. Mit einem Mal war mir die Finsternis nicht mehr so suspekt. Sie fing sogar an, mich auf eine morbide Art zu berauschen.
So musste es sein, wenn man ein Geist oder unsichtbar war, ich fühlte eine gewisse Macht. Hatte man bisher mit mir gespielt oder mich zu unmoralischen Spielen verführen wollen, nahm ich das Heft jetzt selbst in die Hand.
Meine Finger tasteten die Konturen des Dings in meiner Rechten nach – ja, es war genau das, was ich von Anfang an vermutet hatte …
Wieder tauchte jemand neben mir auf, legte mir einen Arm um die Schulter und brummte mit verstellter Stimme: „Hey, Benny-Boy!“
Homer! Nur er nannte mich so und konnte durch irgendein Hilfsmittel sehen.
Dann spürte ich, wie sich sein massiger Körper versteifte. „Scheiße, tu ’s nicht! Die hast du von Vero, stimmt's? Sie …“ Statt den Satz zu beenden, packte er meine Hand, um mir die Waffe zu entwinden.
Wumm! Der aufglühende Blitz zerriss die Nacht. Meine Ohren klingelten, für eine Sekunde sah ich Homers grau abstehendes Haar hinter dem Nachtsichtgerät, sein Mund bildete ein O im Bart, ihm entfuhr ein Ächzen. Schrille Schreie, irgendwer brüllte, man solle endlich das Licht anschalten! Jemand tat es.
Homer lag mir zu Füßen, auf dem Bauch. Blut quoll aus seinem Hals und verlief zwischen den Scherben der Champagnerflasche zu einer beeindruckenden Lache.
Einige Umstehende kreischten oder sogen entsetzt die Luft ein. Ich stand wie mit kaltem Meerwasser übergossen, mein Herz hämmerte und stolperte. Oh Gott, das hatte ich nicht gewollt, das war nur passiert, weil er die Waffe an sich riss!
Die schöne Veronique wandte mir den Rücken zu und nahm ihr Nachtsichtgerät ab, kniete an Homers Seite nieder. Ohne sich umzuwenden rief sie mir zu: „Ben, du böser Junge!", ehe sie den Kopf hinab zum Marmorboden senkte. Ihre blonde Mähne glitt durch Homers Blut. Mit Genuss leckte sie es von seiner Haut.
Einige Umstehende gaben Laute des Ekels von sich, eine Frau wimmerte, bis Homer den Kopf hob. Den Mund zu einem Grinsen verzogen, als hätte er soeben eine lustige Fahrt in der Achterbahn hinter sich. „Ja, weiter, mein Engel!“
„Das ist nicht Homer!", rief einer aus dem erstarrten Publikum und sprach aus, was alle erkannten.
„Nur Ketchup!“, äußerte ein zweiter. Sein Lachen dröhnte in die Runde. Für seine weibliche Begleitung kam die Aufklärung zu spät, sie kippte aus ihren Stilettos.
Das beleibte Homerdouble setzte sich auf und wischte sich die Tomatensauce vom Hals. Die Frau mit der blonden Perücke, die Vero gemimt hatte, erhob sich ebenfalls und begann zu klatschen, aber der Applaus hielt sich in Grenzen.
Erst, als ich mich nach Kameras umblickend, brüllte: „Homer, du bist ein Riesenarschloch!", spendete das Publikum erleichterten Beifall.
Die Vero-Darstellerin funkelte mich an, als würde sie mich gleich fressen. Mit Ketchup.
Tascha drängte sich zu mir durch und nahm mir die Waffe ab. Jetzt, bei Licht, erkannte ich, dass auch diese attraktive Frau meiner Ex nur ähnelte.
„Hast du nicht geahnt, dass es nur eine Fake-Wumme ist?"
Ich schüttelte den Kopf.
Sie wirkte fassungslos.
„Warum hast du dann geschossen?“
Die stumme Antwort darauf fuhr mir in die Glieder.
Mit scharfer Munition hätte ich den Mann umgebracht. Bloß hätte ich kaum beweisen können, dass nicht ich, sondern er selbst den Abzug drückte.
Ich schüttelte das Unbehagen ab, denn niemals hätten Homer und Veronique, so durchgeknallt die beiden auch waren, mir eine echte Wumme zugesteckt. Oder ...?
Um mich abzulenken, musterte ich die Frau vor mir. Wie Tascha hatte sie braunes Haar. Sie gefiel mir, auch dieser belustigte Ausdruck in ihren Augen, groß und dunkel wie reife Oliven. Ich erinnerte mich an ihre Hand in meinem Schritt, sie auch? Denn ihre Lippen kräuselten sich, sie hatte weiß Gott mindestens so sinnliche wie einst die Bardot!
Das Licht ging wieder aus.
Eine Stimme ertönte aus einem Lautsprecher, die des echten Homer. „Das Buffet ist eröffnet!“
Dieser Wichser! Wo steckte er?
Leute, ein Buffet im Dunkeln übersteigt jede Vorstellungskraft, wenn man bedenkt, wie es bereits bei Tageslicht zugeht.
Ich fürchtete, nun könnte es echte Tote geben! Die Masse bewegte sich - wieder erblindet - den köstlichen Gerüchen folgend in einen anderen Saal. Meine Begleiterin und ich wurden mitgeschoben.
Schnuppernd lokalisierte ich: Gebratenes und Gegrilltes musste links liegen. Gewürztes Gemüse verströmte mittig seine Aromen, und die Beilagen dufteten von rechts.
Das Gedrängel war unglaublich. Von Überall wurde ich geknufft, geschubst, gefoult. Reis und Sauce flogen durch die Luft, als die Leute ihrer Fresslust nachgaben.
Ein kurzer Aufschrei. Dann befreites Lachen. Teller und Besteck klapperten ein rhythmusfreies Konzert. Andere schienen sich mit den Fingern zu bedienen und diese abzuschlecken.
Mir war nicht nach essen, meine ungewollte Hauptrolle in der geschmacklosen Theatereinlage hatte mir auf den Magen geschlagen. Die aufdringlichen Essgeräusche um mich herum gepaart mit den Ausdünstungen von Mensch und Nahrung stießen mich ab. Aber ein anderer Heißhunger überfiel mich - auf das Leben, auf die Frau neben mir. Ja, der Tod macht Appetit – auch, wenn er nur gespielt ist!
Sie schien das Gleiche zu empfinden, denn sie nahm meine Hand und raunte „Komm mit.“
Wir verzogen uns in eine Ecke, nahmen auf dem Boden Platz und verschlangen uns.
Die Fremde schmeckte nach tausendmal herrlicheren Aromen als das Buffet mir bieten konnte.
Uns sah ja niemand. Wenn doch, sollte bloß keiner sagen, das sei jetzt unappetitlich.
Um uns herum herrschte Chaos, völlige Freiheit von Zwängen. Wir beide waren längst beim Dessert.
Einzig Homer schaute wahrscheinlich sabbernd zu.
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Platz 1 im Anthologie-Wettbewerb September 2023.
Das Thema lautet: "Du kommst auf eine Party, auf der du niemanden kennst. Dann passiert etwas …"