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Er fährt von der nächtlichen Landtraße in den Waldweg ab und steigt aus. Kurz orientiert er sich und betritt dann das Unterholz in Richtung Norden.

Es riecht nach feuchtem Laub, Harz und Moos. Die Baumkronen schirmen das Mondlicht ab. Anfangs richtet er noch seine Handytaschenlampe auf den Boden, doch als er sich dem Ziel nähert, schaltet er sie aus und muss sich im Dunkeln zurechtfinden.

Er hat ihr zugesagt, allein zu kommen. Dennoch könnte sie in Panik geraten und flüchten, wenn sie seine Ankunft bemerkt.

Vorsichtig setzt er einen Fuß vor den anderen, auf der Hut, nicht über eine Baumwurzel zu stolpern.

Beim zweihundertsten Schritt erreicht er die Lichtung, auf der die Hütte steht. Im fahlen Mondschein sieht sie verfallen und verlassen aus. Bis zur Eingangstür sind es schätzungsweise sechs Meter oder etwa acht Schritte. Es ist eine Marotte von ihm, bei Einsätzen die Schritte zu zählen.

Langsam bewegt er sich vorwärts. Da knackt ein Ast unter seinem Fuß. Zu laut.

Er erstarrt, widersteht dem Impuls, hinter einem Baumstamm zu verschwinden. Vertraut auf seine dunkle Kleidung, die ihn mit den Schatten verschmelzen lässt und behält die Fenster im Auge. Alles ruhig, nichts regt sich. Bis auf das Rauschen des Windes in den Baumkronen.

In dieser Hütte ist sie also. Die Frau, nach der sie so lange gesucht haben. Sie gilt als eine der gefährlichsten und rätselhaftesten Mörderinnen der jüngeren Kriminalgeschichte. Ihr genetischer Fingerabdruck ist an Schauplätzen diverser Verbrechen gefunden worden.

Einige Morde soll sie begangen haben, auch Einbruchsdelikte und Identitätsdiebstähle finden sich auf der Liste ihrer Straftaten.

Fälle, die scheinbar ohne jede Verbindung zueinander standen und die Polizei vor immer neue Rätsel stellte, je mehr Spuren von der Unbekannten gefunden wurden.

Sie ist lange vor der Welt, die sie hetzte, geflüchtet. Damit soll es jetzt vorbei sein.

Er legt die letzten Meter bis zum Eingang zurück, drückt die Klinke herunter und die Tür öffnet sich mit einem leisen Knarren.

Eine Windbö begleitet ihn, weht einige Blätterleichen herein, sie rascheln über den Holzboden. Das Innere der Hütte liegt komplett im Dunkel, als er die Tür schließt. Es mufft nach schimmeligem Holz und Moder.

„Sind Sie allein gekommen?“

Die Stimme ortet er in einer Ecke neben einem Fenster. Er ist überrascht, wie ruhig sie klingt, dann vernimmt er das Ratschen eines Streichholzes. Es flammt auf und kurz darauf flackert eine Kerze auf einem Tischchen und spendet sanftes Licht. Sie sitzt auf einem Stuhl. Eine zierliche Person mittleren Alters mit verhärmten Zügen und kurzem, dunklem Haar. Früher muss sie eine Schönheit gewesen sein.

„Ja. Und Sie sind hier geblieben.“

„Ich kann nicht mehr weglaufen. Ich will, dass es endlich endet.“

Ihr Gesicht ist blass, von Müdigkeit gezeichnet, als hätte sie seit Längerem kaum geschlafen. Sie trägt eine dunkelblaue Daunenjacke, die ihr zu groß ist. Aus dem Augenwinkel scannt er den kleinen Raum, zur Rechten befindet sich eine zweite Tür.

„Das wird es“, antwortet er. „Glauben Sie mir, Sie erhalten Ihren Frieden zurück. Aber zuerst erzählen Sie mir alles.“

 Schweigen. Das Atmen der Frau ist deutlich zu hören. „Zeigen Sie mir Ihren Dienstausweis."

Damit hat er gerechnet und greift in seine Manteltasche, hält ihr die Plastikkarte im Kerzenschein entgegen. Sie beugt sich kurz vor, mustert den Ausweis, und als sie nickt, steckt er ihn wieder ein.

„Ich bin nicht die Täterin.“

Pause, wie um die Spannung zu steigern. Dann, langsam und betont: „Ich bin das Opfer.“

Er zieht den einzigen weiteren Stuhl im Raum heran und setzt sich. Ihr nicht zu nah, aber dicht genug für ein vertrauliches Gespräch.

„Reden Sie, ich höre Ihnen zu.“

„Seit vielen Jahren werde ich gejagt.“

„Von der Polizei“, erwidert er. Es ist eine Feststellung, keine Frage.

„Nein. Das heißt … ja, auch von der Polizei, wegen der DNA-Spuren. Aber ich meine etwas anderes: Sie wollen mich umbringen.“

„Wer will Sie umbringen?“

„Drago Gjoka. Dem ich weggelaufen bin, damals, vor fünfzehn Jahren. Mit unserem Sohn und einer Menge Geld. Aber Dragos Männer sind immer noch hinter mir her. Er denkt, ich bin sein Eigentum. Aber das bin ich nicht. Ich gehöre niemandem außer mir selbst!“

Leiser fährt sie fort: „Ich weiß, wie sie mit Verrätern verfahren. Drago hat geschworen, seinen Sohn zurückzuholen und mich zu töten. Und jeden, bei dem ich mich verstecke.“

„Die ältere Frau, an deren …“, setzt er an.

„An deren Tasse meine DNA gefunden wurde?“, fällt sie ihm ins Wort. „Ich hatte ihr alles erzählt. Sie wollte mir helfen, doch sie haben sie umgebracht.“

„Und Andre Helm?“ Er beobachtet, wie sie bei der Erwähnung des Namens schmerzvoll das Gesicht verzieht.

„Genau dasselbe. Er hatte sich in mich verliebt, wollte mich freikaufen. Doch Geld zählt nicht für die. Sie wollen meinen Kopf.“

„Deswegen haben die ihn getötet?“

„Ja. Ihn auch ...“ Unterdrücktes Schluchzen.

„Und aus diesem Grund sind Sie untergetaucht.“ Wieder eine Feststellung, keine Frage. „Warum haben Sie sich nicht früher an die Polizei gewandt? Bevor das alles passierte?"

Sie stößt einen Laut des Unmuts aus. „Ich hatte Drogen-Geld gestohlen, gefälschte Papiere, unseren Sohn dem Vater entzogen, also entführt. Wenn man mich in U-Haft genommen hätte ... er hat überall Kontakte, vor allem im Knast."

„War Ihr Sohn die ganze Zeit bei Ihnen?" Trauer zieht über ihr Gesicht.

„Nein, meinen Jungen brachte ich sicher unter. Jahrelang habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen. Um ihn und die Familie, bei der er lebte, nicht in Gefahr zu bringen."

Draußen ist der Wind stärker geworden, er faucht ums Haus, durch die Ritzen herein. Die Kerze verlöscht. Der Raum liegt wieder in Finsternis. Doch das stört keinen von beiden.

„Sie haben lange unter dem Radar gelebt. Und dann kam die Nachricht in der Presse, dass die DNA-Spuren auf zufällige Verunreinigungen zurückzuführen sind.“

„Mein Sohn hat mir zugeredet, zu reagieren, über die Zeitung Kontakt mit der Polizei - mit Ihnen - aufzunehmen. Weil jetzt bewiesen ist, dass ich keine Mörderin bin. Ich habe Ihnen gerade erzählt, wie es wirklich war. Sie werden mich unter Polizeischutz stellen, mir eine neue Identität beschaffen, und ich kann endlich …“

„Was?“, unterbricht sie der Mann. „Frei sein? Das glaube ich kaum.“

Ihre Stimme wird lauter. „Aber das haben Sie mir zugesagt! Ich habe niemanden umgebracht! Und Andre hatte die komplette Summe mit Zinsen zurückgegeben! Es hat ihn, verdammt nochmal, sein Leben gekostet!"

„Ich weiß“, sagt der Mann.

Sie kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, hört aber an seiner Stimme, dass er lächelt oder grinst.

Das gefällt ihr nicht. Es ist unprofessionell. Wirkt falsch.

Er steht auf. „Alles, was Sie mir erzählt haben, war mir längst bekannt.“

Die Frau versteift sich und schluckt.

„Aber wie konnten Sie wissen … Sind Sie überhaupt Polizist?“

Sie springt auf, ihr Schemen tritt zurück vom Tisch.

„Ist das wichtig?“, fragt er. „Ich befasse mich seit Jahren mit Ihrem Fall und habe Verbindungen zur Presse.“

Langsam bewegt er sich auf sie zu. Sie weicht zurück, doch hinter ihr ist die Wand. Die Unebenheiten der Holzbohlen bohren sich in ihren Rücken. Selbst im Dunkeln meint er wahrzunehmen, wie die Frau noch bleicher wird, zittert.

„Die Nachricht über die neuen Erkenntnisse …“, flüstert sie.

„War gefälscht“, bestätigt der Mann ihren Verdacht.

„Aber ... “

„Um Sie aus der Reserve locken. Wir wollten, dass Sie sich sicher fühlen und aus Ihrem Versteck ans Licht kommen.“

Das Wort „Licht“ empfindet sie als Widerspruch in der Dunkelheit der Hütte.

„Dann glauben Sie mir gar nicht, dass ich unschuldig bin?“

„Doch. Ich sagte doch, dass ich über alles Bescheid weiß.“

Draußen sind gedämpfte Stimmen und das Geräusch knackender Äste zu hören. Durch die Fensterscheibe zuckt unruhiges Licht. Sie saugt panisch die Luft ein.

Dann wird die Tür aufgerissen. Zwei Männer treten ein, begleitet von der nächtlichen Kälte. Aber es sind keine Uniformierten. Neben den Taschenlampen halten sie Waffen in den Händen.

Der Frau entfährt ein Laut des Entsetzens. Sie kann ihre Gesichter nicht erkennen, aber sie ahnt, wer sie sind. Einer von ihnen bleibt im Türrahmen stehen, der andere stapft zur zweiten Tür und baut sich davor auf.

 „Sie stecken mit denen unter einer Decke!“, schreit sie ihn an. „Sie Schwein!“

„Ich habe Ihnen doch versprochen, dass es heute endet.“

Er lächelt und dreht sich um. Im Vorbeigehen steckt ihm der Mann am Vordereingang einen Umschlag zu. Er muss nicht nachzählen, weiß, dass die vereinbarte Summe darin ist.

„Vergeben Sie Ihrem Sohn, dass er Ihnen zu unserem Treffen riet. Er wollte nur Ihr Bestes. Man sollte nicht mit Zorn im Herzen abtreten."

Er zieht die Tür hinter sich zu, schaltet die Handylampe an und schlendert über den Waldweg. Zählt wieder seine Schritte. Will die exakte Anzahl wissen, die er bis zum Wagen braucht.

Kurz darauf hört er zwei Schüsse knallen. Es sind immer mindestens zwei Schüsse. Einer in die Brust, der zweite in den Kopf. Profis.

Bei Schritt 181 vernimmt er hinter sich ein Geräusch, wirbelt mit dem Handylicht herum. Doch er hat zu spät reagiert. Der junge Mann ist direkt hinter ihm.

Gerade noch erkennt er seine Ähnlichkeit mit der Frau, ehe der Schuss ihn trifft. Schmerz explodiert in seiner Brust. Er sinkt auf den Waldboden. Krallt die Finger ins Moos. Die Umgebung beginnt vor seinen Augen zu verschwimmen, er atmet flach.

Ihr Sohn ragt als dunkler Schemen vor ihm auf. Das Letzte, was er hört, ist dessen Stimme.

„Richtig, Arschloch, ich will nur das Beste für meine Mutter. Deshalb habe ich sie begleitet."

Der zweite Schuss trifft ihn in den Kopf.

 

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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2023

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