Es ist ein ehrenwertes Haus, in dem Christel Schweizer mit ihrem Mann Günter lebt. Wie Frau Junge und die Baslers wohnen sie seit Jahrzehnten hier. Auch die Familie Özala, Herr Sokolow und noch einige mit Migrationshintergrund haben sich vor längerer Zeit in der Mozartstraße 33 niedergelassen. In dem Haus gibt es zwölf Wohnungen. Nach anfänglichen kleinen Reibereien wegen der Lebensgewohnheiten und was akzeptable Lautstärke angeht, lebt man trotz der verschiedenen Nationalitäten recht harmonisch und gesittet beieinander.
Dann wird eine Wohnung frei, denn Frau Junge zieht ins Seniorenheim. Schade, finden nicht nur die Schweizers, denn sie war eine angenehme Nachbarin. Eine zurückhaltende Person, die niemanden störte, weder mit Lärm noch sonst mit irgendwelcher Auffälligkeit. Frau Junge war "eine Mieterin der ersten Stunde" gewesen, von dieser Generation wohnt neben den Schweizers jetzt nur noch Herr Sokolow hier. Ein ehemaliger Stahlhüttenarbeiter, alleinstehend, der vor fünf Jahren in Rente ging. Ein Segen, wenn man solche Leute als Nachbarn hat.
Und jetzt das! In die leere Wohnung von Frau Junge ist Leben gekommen. Alle haben sie ihn im Treppenhaus gesehen, als er mit anderen jungen Männern seine Habseligkeiten und Möbel in den zweiten Stock schleppte. Himmel!
Der neue Mieter ist fast noch ein Jugendlicher! Aber was für einer! Er trägt sein Haar kurzgeschoren, es sieht aus wie eine Glatze, und klobige, schwarze Schuhe. Dazu besitzt er einen zackig-militärischen Schritt. Oh Gott! Die Nachbarn sind in Sorge. Sie tuscheln, führen aufgeregte Gespräche.
Der Neue ist einer dieser „Neonazis“, das hat ihnen gerade noch gefehlt!
Besorgnis greift um sich und es wird ruhiger im Treppenhaus. Aus ist es mit den kleinen Schwätzchen auf den Fluren. Jeder nimmt von nun an lieber den Fahrstuhl und verschwindet sofort in seiner Wohnung.
Nur ja nicht diesem jungen Kerl begegnen, diesem Skinhead, wie die auch heißen. Die sind gefährlich! Und das in einem multinationalen Haus! Was hat den Hauseigentümer nur geritten, diese Wohnung an ... ja - solch ein Subjekt zu vermieten!
Da sind Chaos und Unfrieden doch vorprogrammiert. Der Neonazi hat "Freunde“, wie sie bei seinem Einzug mitbekamen, und die werden ihn sicher öfter besuchen.
Nicht auszudenken, was hier alles in Zukunft passieren kann! Am besten, man verhält sich so unaufällig wie möglich.
Ein Jammer, denn alle haben sich bisher miteinander arrangiert, im Laufe der Jahre gar voneinander gelernt. Man hat die Kulturen der Nachbarn studieren können und auch ihre Lebensgeschichten vernommen. Jetzt soll wegen eines jungen Mannes, der mit rechten Ansichten verseucht und höchstwahrscheinlich gewaltbereit ist, alles vorbei sein?
Es kommt natürlich wie erwartet. Die Kumpane des Jugendlichen rotten sich hier in diesem ehrbaren Haus zusammen. Am Wochenende schleppen sie Bierkisten und hochprozentigen Alkohol ins zweite Stockwerk, lachen laut und dreckig. Die Kerle werden beim Eintreffen erst durch die Gardinen, dann durch die Türspione beäugt, während sie durchs Treppenhaus trampeln. Manche haben Haare, andere ebenfalls eine Glatze.
Hin und wieder dringt wummernde Musik aus der Wohnung, aber meist geht es nicht laut und auch nicht auffällig zu, wenn der rechtsradikale Bengel Besuch hat.
Jedoch - wenn es ruhig verläuft, was steckt dann dahinter? Wahrscheinlich verabreden sie sich für Nazi-Demos und hecken irgendwelche Schandtaten aus! Heimtückische Anschläge und Überfälle. Wie diese Verbrecher damals, von der NSA ... nein, NSU nannten die sich. Furchtbar – nicht auszudenken! Die Angst geht um unter den alteingesessenen Mietern.
Es geschieht an einem Freitag, gegen 23.00 Uhr, als sich die Kumpane des Glatzkopfes auf den Heimweg oder wer-weiß-wohin aufmachen. Man hört sie durchs Treppenhaus poltern und sich dabei unterhalten. Die haben bestimmt wieder Alkohol getrunken.
Plötzlich läutet es bei Schweizers. Christel Schweizer zuckt zusammen, dann eilt sie an die Tür und guckt durch den Spion. Oh, Gott – dieser Jugendliche steht draußen! Und er schaut so finster drein.
Was soll sie machen? Günter ist außer Haus, er spielt Skat mit seinen Freunden. Haben die Kerle das mitbekommen und sehen in ihr ein leichtes Opfer?
Jetzt hämmert der Neonazi an die Tür, sodass sie zurückschreckt.
„Hallo?", hört Frau Schweizer. „Es ist wirklich dringend!"
Ihr Herz trommelt in der Brust, doch sie nimmt den ganzen Mut zusammen und zieht die Tür auf. Aber sie ist vorsichtig, öffnet sie nur einen Spalt, so weit, wie die vorgelegte Kette es zulässt.
Sie mustert den Skinhead und nimmt echte Besorgnis in seinen Augen wahr. Das verwirrt sie. Zwei seiner Freunde stehen hinter ihm, sie wirken ebenfalls ernst und angespannt.
Was ist geschehen?
Ihr neuer Nachbar kommt schnell zur Sache. „Würden Sie bitte nach unten gehen?“
Verstellt sich der Kerl, macht er einen auf harmlos? Ist das eine Finte, um sie herauszulocken, weil die Kerle wissen, dass sie gerade allein zu Hause ist? Frau Schweizers Augen verengen sich.
„Warum, was ist denn los?", fragt sie scharf, bereit, die Tür zuzudrücken und zu verriegeln.
„Im Erdgeschoss liegt der alte Mann, der auch auf ihrer Etage wohnt. Es geht ihm nicht gut! Ich weiß nicht, wie er heißt, wohn' ja noch nicht so lange hier. Aber er fragte nach Ihnen. Ich hab' einen Krankenwagen gerufen!“
Nun ist es an Frau Schweizer, Überraschung zu zeigen. Doch sie hat keine Zeit, lange zu überlegen. Sie eilt die Stufen hinab und beugt sich über ihren Nachbarn. Einer der jungen Männer hat ihm eine Jacke unter den Hinterkopf geschoben. Vitali Sokolows Gesicht zeigt eine gespenstische Blässe, er atmet schwer. Frau Schweizer hält seine kalte Hand und redet beruhigend auf ihn ein, dann wird er wieder bewusstlos.
Minuten später treffen die Sanitäter ein und holen ihn ab. Gerade noch rechtzeitig, wie sie betonen, um ihm das Leben retten zu können. Er hatte einen Herzinfarkt.
Nun ist es an der Zeit, die Vorurteile abzubauen und sich eigentlich dafür zu schämen. Wären dieser „glatzköpfige“ Jugendliche und seine Freunde nicht so überlegt und beherzt gewesen, hätte es keinen freundlichen Herrn Sokolow mehr gegeben, sondern eine weitere leere Wohnung. Vielleicht wäre dort wieder ein neuer Mieter eingezogen, über den sie sich im Vorfeld aufgeregt hätten.
Doch die Begebenheit hat alle in diesem Haus etwas Wichtiges gelehrt: Menschen nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Sondern erst mal abzuwarten, wie sich alles entwickelt!
Seit dieser Nacht ist Entspannung und auch Respekt gegenüber diesem Jugendlichen, der Alex heißt, im Haus eingekehrt. Er und seine Freunde sind jetzt willkommen.
Erst Wochen später beichtet Christel Schweizer dem Jungen ihre Vorurteile, als sie ihn vor der Haustür trifft, er ihr die schwere Einkaufstasche abnimmt und für sie hinaufträgt.
Diese nette Geste verstärkt ihr schlechtes Gewissen. Sie muss einfach loswerden, dass nicht nur sie, sondern die ganze Hausgemeinschaft annahm, er und seine Freunde seien Neonazis. Als sie daraufhin seinen Gesichtsausdruck sieht, weicht sie seinem Blick aus.
„Es tut mir leid, dass ich so negativ über Sie dachte, nur weil Sie Ihr Haar abrasieren und diese Schuhe tragen", fügt sie zerknirscht hinzu, doch das zuzugeben, erleichtert sie auch.
Alex bläst die Luft aus und schüttelt den Kopf, dann findet er seine Sprache wieder. „Was? Sie glaubten echt, ich bin ein Skin?"
Christel Schweizer beißt sich verlegen auf die Unterlippe und nickt.
„Viele in meinem Alter tragen momentan so kurze Haare, ist einfacher. Weniger Stress mit dem Styling, besonders, wenn man so'n Morgenmuffel ist wie ich. Und auch beim Sport ist es praktischer!“, meint er.
„Aber ...“ Sein Innehalten lässt Frau Schweizer ihn wieder anschauen.
„Vielleicht lass ich die Haare wieder etwas wachsen, nach ihrem schockierenden Statement eben." Er lächelt und zwinkert ihr zu.
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2023
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