„Hallo, kennen wir uns nicht? He, warte doch mal!“
Die durchdringende Stimme ließ mich abrupt stehen bleiben, obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte. Sie kam mir entfernt bekannt vor und ich drehte mich um.
Tatsächlich, ich erkannte die Frau, wir hatten früher ab der elften Klasse ein paar Kurse zusammen gehabt ... Wie hieß sie noch? Deike? ... Nein, Heike Hodenberg und sie eilte auf mich zu.
„Hach, Nicole, dich hier zu treffen. Das ist ja ein Zufall“, japste sie.
„Hallo Heike."
„Meike", korrigierte sie mich. „Meike Hodenberg-Rammelt. Ich hab' nach dem Abi den Mark-Oliver geheiratet."
Oh je ... Was für ein Doppel-Name, fuhr es mir durch den Kopf.
Sie war demnach tatsächlich mit ihrem ersten Freund zusammengeblieben. Das Bild des mageren, bebrillten Computerfreaks mit den Leistungskursen Informatik und Biologie stieg in meiner Erinnerung auf.
„Geht dein Kind auch in diese KiTa?“, wollte sie wissen und rückte näher ran. Zu dicht. Sie verströmte diesen Muffgeruch, den ich früher schon verabscheut hatte, wenn ich mal neben ihr sitzen musste. Sie roch, als dusche sie nur ein Mal die Woche mit Kernseife und wasche selten ihr Haar.
„Ja, seit Kurzem", antwortete ich auf ihre Frage und trat einen Schritt zurück, blickte dann auf meine Uhr. Wenn ich nicht hetzen wollte, um pünktlich zu meinem ersten Termin zu kommen, musste ich jetzt los.
„Mädchen oder Junge? Wie alt?“
„Meine Tochter heißt Leonie, sie ist gerade fünf geworden und wir sind vor sechs Wochen in dieses Viertel gezogen“, antwortete ich und musterte Meike unauffällig. Sie hatte sich in den zwanzig Jahren seit dem Abi kaum verändert. Figur wie ein Staffordshire-Bullterrier, breites, blasses Gesicht mit Eulenbrille, schlabberige Ökoklamotten.
Heute trug sie einen jutebraunen, offensichtlich selbstgehäkelten Sack von Pullover, hineingesteckt in den Gummibund einer weiten Leinenhose und die obligatorischen Birkenstocksandalen. Wie ich feststellen konnte, war ihr Motto immer noch: Ich bin ökologisch einwandfrei aufgestellt und man sieht es mir an.
Meike wiederum taxierte mich von oben bis unten.
„Gut siehst du aus in dem Business Kostüm und mit den hochhackigen Schuhen. Aber muss die Schminke sein? Für meinen Geschmack auch etwas zu viel ... Hoffe doch, du kaufst wenigstens die veganen Produkte ohne Tierversuche und Mikroplastik ..."
Ich schwieg dazu, wollte weg, aber sie fragte weiter.
„Du bist wohl berufstätig? Geht das nicht auf Kosten der Familie? Aber du warst ja immer schon extrem ehrgeizig.“
Ich merkte, das Ärger in mir aufstieg, aber es gelang mir, diesen zu unterdrücken und den geduldigen Ausdruck beizubehalten.
„Wie die Zeit vergeht, was? Klar bin ich berufstätig und das gerne. Wozu hätte ich sonst Wirtschaft und Management studieren sollen?"
Sie kniff etwas die Augen zusammen. „Was sagt denn dein Göttergatte dazu? Bleibt er zu Hause fürs Kind, damit du Karriere machen kannst?"
„Ich bin nicht verheiratet. Meine Tochter wird an Tagen, an denen ich länger arbeite, nach der Kita von einer Tagesmutter betreut. Gute Frau, sie hat mein vollstes Vertrauen.“
Meikes Mund wurde ein Strich, sie zog die Augenbrauen zusammen und zupfte Flusen von ihrem Pullover.
„So, so, eine Tagesmutter. Was sagt denn dein Partner dazu?... Oder bist du etwa alleinerziehend?" Zuzutrauen wäre dir das, sagte ihr Blick.
„Also, ich bitte dich ...", setzte ich an, aber sie fiel mir ins Wort.
„Früher hattest du ja öfter wechselnde Freunde", fuhr sie fort. „Monogamie war nicht so deins, wenn ich mich richtig erinnere ... Nun, mein Mark-Oliver ist ein toller Vater, aber das kannst du dir ja vorstellen. Er ist inzwischen Hochschulprofessor, verdient gut, weshalb ich uneingeschränkt für unsere Kinder da sein kann. Er ist so eine treue Seele und geht sehr verantwortungsvoll mit mir und den Kindern um. Wir leben natürlich vegan. Mark-Oliver liebt die wunderbaren Dinkelkekse, die ich immer für ihn backe. Ja, und damals hatte ich mit den Vollkornbrötchen mit selbstgemachtem Kräuterquark, die ich ihm mit zur Schule brachte, sein Herz erobert. Liebe geht ja bekanntlich auch durch den Magen, nicht?"
Meike lächelte etwas selbstgefällig, während ich mir vorstellte, wie Mark-Oliver vor dem PC an den wahrscheinlich steinharten, ungesüßten Keksen knabberte und sich dabei fast die Zähne abbrach. Den in mir aufsteigenden Lachanfall kaschierte ich mit einem Räuspern.
„Ihr habt aber lange gebraucht, um Kinder zu bekommen. Wo ihr doch schon eine Ewigkeit zusammen seid."
Diese Stichelei konnte ich mir nicht verkneifen. Allerdings prallte sie an Meike ab.
„Nein, das war eine bewusste Entscheidung", sagte sie mit wichtiger Miene. „Wie erwähnt, Mark-Oliver ist sehr verantwortungsbewusst. Er wollte erst das Studium beenden und eine feste Stelle, genug Geld verdienen. Und mit Mitte dreißig hatten wir dann auch beide die nötige Reife für das wichtigste Projekt im Leben: Unsere Kinder."
Plötzlich kicherte Meike wie ein alberner Backfisch und neigte sich mir zu. „Und wer hätte das geahnt", raunte sie. „Als wir uns dafür entschieden, hat's nach zwei Wochen schon geklappt. Bumms, war ich schwanger!"
„Kein Wunder bei euren Nachnamen ..." Upps, das war mir rausgeflutscht ...
Meikes Züge versteinerten. „Werd' bitte nicht gewöhnlich. Das mag ich nicht!"
Es wurde Zeit für meinen Abgang. „Du, ich muss jetzt ..."
Doch sie redete weiter. „Wir zeigen unserem Nachwuchs den richtigen Weg in ein natürliches Leben. Da ziehen wir an einem Strang. Wir haben drei Kinder, alles Hausgeburten. Tammo-Tristan ist hochbegabt und geht schon zur Waldorfschule. Sören-Hendrik ist vier, unser kleiner Wildfang, er hält die Erzieherinnen in der Bienengruppe ganz schön auf Trab. Ja, wenn die ihn besser fördern würden, müsste er nicht alles selbst untersuchen und zerlegen, unser kleiner Rabauke. Zu Hause hat er seltener Wutanfälle. Aber die lassen wir ihn ja auch ausleben, im Tobe-Raum."
Sie lachte voller Nachsicht, aber ich hatte ein hyperaktives, gemeines Albtraumkind vor Augen. Die Hornisse in der Bienengruppe, ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie der Junge die armen anderen Kinder und Erzieherinnen drangsalierte.
„Und Ebba-Feline, unser Nesthäkchen, geht seit Januar in die Elefantengruppe. Aber erst einmal nur von 9 bis 11 Uhr. Schwierige Eingewöhnungszeit. Sie ist hypersensibel, schaffte bis vor Kurzem immer nur eine Stunde und ich musste die ganze Zeit dabeisitzen ... Hast du außer deiner Tochter noch weitere Kinder?“
Sie musterte mich scharf durch die Gläser ihrer Eulenbrille.
Natürlich erzählte ich Meike nicht, dass Leonie bei einem One-Night-Stand entstanden war. Einer meiner verheirateten Angestellten war der Vater. Tim sah gut aus, war intelligent, hatte zwei ältere Kinder und eigentlich eine gute Ehe. Unser Verhältnis war nach wie vor bestens. Vielleicht auch deshalb, weil ich Diskretion wahrte und keine Vaterpflichten von ihm einforderte.
„Ich arbeite viel und hart, bin sehr erfolgreich“, sagte ich stattdessen. „Leonie ist ein großartiges Mädchen und wir sind trotz meiner Berufstätigkeit eine glückliche Minifamilie."
Ich ärgerte mich sofort über die Rechtfertigung, aber da ich Meikes aufgesetzt schockiertes Gesicht kaum aushalten konnte, fügte ich sogar noch hinzu: „Wir ernähren uns gesund, die Tagesmutter kocht super, die Oma auch. Wir sind überhaupt sehr umweltbewusst, mit allem was dazugehört: Mülltrennung, keine Einwegflaschen, Ökostrom, Bio-Lebensmittel, viel draußen in der Freizeit. Das sollten wir unseren Kindern wirklich vorleben!“ Nun schaute ich demonstrativ auf meine Uhr.
„Ich muss los. Die Chefin sollte pünktlich sein.“
Auf dem Weg zu meinem Wellness-Hotel, das ich in einem idyllischen, etwas außerhalb der Stadt gelegenen Rittergut eröffnet hatte, dachte ich nach. Ja, das konnte Meike in ihrem starren Denken natürlich nicht nachvollziehen, das ich nicht nur im Muttersein aufging, sondern auf meinen - nach harten Jahren - florierenden Betrieb, mein inzwischen erfolgreiches erstes "Baby" stolz war. Ich verdiente sehr gut und hatte Arbeitsplätze geschaffen.
In meinem Hotel wurden die Gäste verwöhnt. Sie fanden Muße, Entspannung und Erholung vom stressigen Alltag, was ich für ebenso wichtig hielt wie gesunde Ernährung ... Die man außerdem dort auch in Form gelungener Kreationen bestellen konnte.
Und obwohl ich viel arbeitete, hatte sich Leonie super entwickelt. Wir genossen stets unsere gemeinsame Zeit und sie freute sich, das Hotel zu erkunden, wenn die Tagesmutter mal krank war und die Oma auch keine Zeit hatte. Meine Mitarbeiter hatten Leonie wirklich gern, weil sie ein reizendes Kind war. Ich liebte sie sehr. Und sie mich. Natürlich konnte man Karriere und Muttersein unter einen Hut bringen!
Ich rechtfertige mich schon wieder, dachte ich erbost. Ja, diese unangenehme Wirkung hatte Meike auf Mitmenschen, das war bereits damals der Fall gewesen.
Ich ließ die Abijahre mit ihr Revue passieren. Zwei Kurse hatten wir gemeinsam besucht. Deutsch und Gemeinschaftskunde. Ich hatte sie als neunmalkluge, übergriffige Nervensäge empfunden, die den Lehrern, die so tickten wie sie, nach dem Mund quatschte, sich aber mit anderen Pädagogen und Mitschülern öfter heftige, dabei meist fruchtlose Diskussionen lieferte. Mit ihrer typischen Dominanz. Zum Beispiel hatte sie gefordert, dass die ungesunden Snackangebote im Schulkiosk ausgetauscht oder aus dem Sortiment entfernt werden sollten.
Einmal hatte sie sich mit unserem Deutschlehrer angelegt, weil dessen Jackenkragen aus echtem Fell bestand ...
Ja, mit ihrem durchdringenden Organ hatte die gute Meike zu allem eine unumstößliche Meinung gehabt. Und das war offensichtlich nach wie vor so.
In den nächsten Wochen traf ich sie hin und wieder, wenn ich Leonie zur Kita brachte. Bei der letzten Begegnung musterte sie mich mit unverhohlener Missbilligung, als ich das Gebäude verließ und meinen Wagen auffunkte.
„Teurer Schlitten. Mercedes. Tja, nicht jeder kann es sich leisten, mit den Ressourcen unseres Planeten zu aasen“, bemerkte sie spitz.
„Ein Hybrid. Ich fahre meist elektrisch. Nicht jeder kann es sich leisten, seine Zeit auf dem Fahrrad oder zu Fuß zu verplempern, wenn er Termine hat“, antwortete ich nicht weniger sarkastisch und zog die Autotür auf.
„Tja, auch wenn du einen Elektrowagen fährst, vergiss nicht, der schadet der Natur ebenfalls! Denk' an die Herstellung und Entsorgung der Batterien! Lies dir dazu mal seriöse Artikel durch!", rief sie mir nach.
Ich verkniff mir eine Antwort, stieg ein und fuhr los.
Heute Morgen passte Meike mich offensichtlich ab, denn sie wartete auf dem Flur vor Leonies Gruppenraum, als ich diesen verließ.
„Also“, begann sie mit Oberlehrermiene. „Wie du vielleicht mitbekommen hast - oder auch nicht, bist ja immer so busy - also, ich bin im Festkomitee für unser Frühlingsfest am Freitag. Diesen Freitag! Wir haben beschlossen, dass alle einen Beitrag für das Fest leisten müssen. Jeder. Du bist hiermit beauftragt, einen großen Kuchen zu backen. Ich will es dir leicht machen: Vegan muss er nicht sein, aber er sollte selbstverständlich aus naturbelassenen Zutaten, möglichst mit Gütesiegel bestehen." Sie hob einen Zeigefinger.
„Auf keinen Fall raffinierter Zucker, klaro? Zur Info: Ich werde die kulinarischen Beiträge alle vorher kosten. Chemiefraß wird aussortiert! Gesunde Ernährung ist wichtig, da hatte ich hier in der Kita anfangs viele Diskussionen mit den Erzieherinnen, bis das endlich klappte. Und, Nicole, Schummeln und Backmischungen sind ein No-go! Das merke ich sofort.“
Zwei andere Mütter standen in der Nähe und verfolgten interessiert ihren Monolog, wie ich bemerkte. Ich war die Neue, daher schluckte ich die patzige Antwort hinunter, die mir auf der Zunge lag, und sagte stattdessen:
„Einen Kuchen? In Ordnung. Das ist zwar zeitlich schwierig, aber ich werde es hinbekommen.“
Niemals hätte ich vor der selbstgerechten Öko-Ziege zugegeben, dass ich bisher nur zu Leonies Geburtstagen gebacken hatte. Und auch nicht daran dachte, das zu ändern.
„Das wäre ja dann geklärt.“ Meike streckte mir ihren Bauch entgegen. „Hast du's bemerkt? Dritter Monat. Unser vierter oder unsere vierte kleine Hodenberg-Rammelt ist unterwegs.“ Der abrupte Themenwechsel irritierte mich kurz.
Eine Schwangerschaft würde man dir in diesen Schlabberpullis auch im sechsten Monat nicht ansehen, dachte ich dann.
Sie glühte vor Stolz und blinzelte mir zu.
„Mark-Oliver muss nur seine Unterhose an den Bettpfosten hängen, schon schnackelt's. Manchmal glaube ich, dass mein Körper immer empfängnisbereit ist.“
Bah - wie war das noch mit dem: Jetzt werd' nicht gewöhnlich ..., dachte ich und wand mich innerlich vor Fremdscham.
Eine der lauschenden Mütter riss die Augen auf. Die andere wandte sich mit zuckenden Schultern ab - weil sie lachen musste? Ja, eindeutig. Das stachelte mich an, einen draufzusetzen.
„Ja, wenn man selbstgehäkelte Verhüterlis benutzt, dann kommt's halt so“, erwiderte ich mit einem Grinsen.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie die glucksende Mutter sich nun eine Hand vor den Mund presste, sehr sympathisch, während die andere den Kopf schüttelte und weiterging.
Meike winkte ab. Humor war nie ihre Stärke gewesen.
„Nein, daran liegt's nicht, wir haben uns bewusst für ein viertes Kind entschieden und die Verhütung einfach weggelassen. Unsere Kondome sind doch nicht gehäkelt, das wäre doch absurd. Sie sind aus fairer Baumwolle, sehr passgenau und reißfest, waschbar, deshalb wiederverwendbar und umweltfreundlich."
Ich starrte Meike an und die Mutter mit der Hand vorm Mund gab ein Quieken von sich, bevor sie mit Lachtränen in den Augen ebenfalls über den Flur verschwand.
Meike schien die Erheiterung nicht wahrzunehmen, hob die Arme etwas an.
„Und schau mal, mein neuer Pulli! Den hat mein Ehemann mir zum Geburtstag gestrickt. Ist er nicht toll?“
Sie drehte sich in ihrem unförmigen Norwegerpullover etwas hin und her. „Und mein Mark-Oliver bringt mir jetzt immer die besten Demeter-Leckereien mit, ich muss ja wieder für zwei essen.“
So viel Liebe und Umweltbewusstsein ließen mich einknicken. Mit einem „Na, alles Gute, ich muss dann mal", drehte ich mich auf dem Absatz um.
In der Bäckerei meines Vertrauens angekommen gab ich die Bestellung auf und wiederholte Meikes Anweisungen.
„Sie könnten vielleicht einige Stückchen Eierschale in den Teig geben. Der Kuchen kann auch ruhig etwas klitschig sein. Hauptsache, er ist bio und sieht hausgemacht aus.“
Die Fachverkäuferin musterte mich einen Augenblick, dann grinste sie. „Aha, ist wohl auch für das Kita-Frühlingsfest. Ja, da haben wir schon eine Großbestellung.“
Ich stutzte und sie deutete auf einen Haufen dröger Kekse, welche hinter ihr auf einer Ablage vor sich hin bröselten.
„Aber empfehlen tu ich Ihnen die nicht. Vegane Dinkelmehlkekse, staubtrocken. Wir backen sie extra für eine Kundin, die sie monatlich in großen Mengen abnimmt. Und jetzt orderte sie noch zwei Bleche fürs Fest.”
Ich senkte etwas die Stimme, obwohl wir gerade allein im Verkaufsraum waren. „Unter uns: Heißt die Kundin Hodenberg-Rammelt?"
Die Verkäuferin nickte leicht, an ihrem Mienenspiel war abzulesen, das sie nicht sonderlich viel von Meike hielt. Auf keinen Fall wollte ich mit der in einen Topf geworfen werden.
„Nun denn, ich bin mir sicher, dass Sie den Kuchen für die Kids bestens hinbekommen werden. Schließlich sind Sie Profi und wissen genau, was gesund und lecker ist!", sagte ich und schenkte ihr zum Abschied ein warmes Lächeln.
Ich verließ das Geschäft um einige Illusionen ärmer, doch rückte die gewonnene Erkenntnis mein Weltbild wieder zurecht, rettete meine ganz persönliche Weltordnung und gab mir eine gewisse Genugtuung. Dennoch war Meikes Verlogenheit die Höhe!
Wegen des Abstechers in die Bäckerei war ich heute ausnahmsweise etwas später dran als sonst. Als ich das Hotel betrat, bemerkte ich sofort, dass am Empfang nur einer der Azubis stand. „Guten Morgen Tobias", grüßte ich ihn. „Wo ist denn Anne?"
„Frau Feldmann, gut, dass Sie da sind! Anne ... ich meine Frau Meißner, hat sich heute krankgemeldet. Aber gleich kommt mein Berufsschullehrer für das Gespräch ..."
„Schon in Ordnung. Ich übernehme dann, wenn dein Lehrer da ist."
Nachdem ich kurz in meinem Büro vorbeigeschaut und mit der Sekretärin gesprochen hatte, kehrte ich zum Empfang zurück. Der Lehrer war eingetroffen und Tobias zog sich mit ihm in das Besprechungszimmer zurück.
Eigentlich genoss ich es, mal wieder selbst im praktischen Dienst zu sein, empfing neue Kunden und plauderte mit Stammgästen, checkte Buchungen und beriet über Angebote.
Dann kam ein Mann im Anzug mit Halbglatze herein.
„Guten Tag! Zwei Mal Hamam mit Massage, danach hätte ich gern noch ein Zimmer bis heute Abend. Mit Zimmerservice, Champagner, Hummer, Austern und Kaviar um 17 Uhr."
„Verzeihung, ein oder zwei Mal Hamam mit Massage?", fragte ich nach, weil er so leise nuschelte und nicht in Begleitung war.
„Zwei Mal. Meine Frau kommt gleich. Sie telefoniert noch kurz. Draußen, wie sich das gehört."
Er reichte mir seinen Ausweis und eine Kreditkarte.
Mir fiel fast die Kinnlade runter, als ich den Namen las, erkannt hätte ich ihn nicht mehr: Mark-Oliver Rammelt.
Einen Augenblick war ich fassungslos. Er buchte für sich und Meike Wellness & Spa, ein Zimmer sowie Kaviar, Hummer, Austern und Champagner?? Und wer betreute in der Zeit ihre Kinder, die Früchte der Liebe? Meike würden gleich die Augen rausquellen und sie vor Scham im Boden versinken, wenn sie mich hier am Tresen stehen sah. Bigotter ging's ja kaum noch ... Pff, von wegen bewusst lebende Veganer ...
Just in dem Moment stöckelte eine dralle Blondine um die zwanzig ins Foyer, in einem Minirock, der so kurz war, dass er kaum ihren Hintern bedeckte. Sie hängte sich an Mark-Olivers Arm und kaute hektisch auf einem Kaugummi. Ein zweites Mal musste ich mich beherrschen, damit meine Gesichtszüge nicht entgleisten.
Eine seiner Studentinnen? Oder ein Escort-Girl? Meike würde im Karree springen ... Egal, mich ging's nix an und ich war immer schon diskret gewesen.
Der strickende Hochschulprofessor, diese verantwortungsbewusste Seele von Mann, macht seinem Nachnamen nicht nur im trauten Heim alle Ehre ..., dachte ich amüsiert und zog die Kreditkarte durch.
Nein, ein treuer Ehemann war Mark-Oliver beileibe nicht, aber vielleicht würde er ja noch einer meiner treuesten Stammgäste werden ...
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2023
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