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Seit einigen Wochen habe ich das Gefühl, dass in meiner Wohnung etwas nicht stimmt. Sachen verschwinden oder finden sich an einem anderen Ort wieder, habe ich sie nur verlegt?

Aber vor allem beunruhigt mich, dass ich nachts hin und wieder seltsame Geräusche höre. Ein Rascheln, ein Atmen. Manchmal spüre ich einen Luftzug über mich streichen, wie eine leichte Brise, obwohl das Schlafzimmerfenster geschlossen ist.

Letzte Woche erwachte ich von einem Wispern. Direkt neben meinem Bett. Ich riss die Augen auf, fuhr hoch und glaubte noch, kurz etwas Helles im Zimmer wahrzunehmen. Erstarrt lauschte ich in die Dunkelheit. Aber es war wieder still und ich dachte, nur geträumt zu haben. Bilde ich mir das alles nur ein?

Warum habe ich dann die unangenehme Ahnung, beobachtet zu werden? Die kann ich nicht abstreifen.

Erst schob ich es noch darauf, nicht gewohnt zu sein allein zu leben. Vor einem Vierteljahr hatte mein Exfreund sich von mir getrennt und ich war in diese Zwei-Zimmer-Wohnung gezogen. Ich bin noch nicht darüber weg. Ist es nur die Paranoia einer frischgebackenen Single-Frau?

Jedoch hörte ich vergangene Nacht wieder was. Verhaltene Schritte. Das Atmen. Als ich die Nachttischlampe anschaltete und mich mit klopfendem Herzen im Schlafzimmer umschaute, war da nur nächtliche Stille.

„Reiß dich zusammen, Sabrina!“, flüsterte ich mir selbst zu. „Da ist nichts, alles Einbildung! Du bist eine dreißigjährige Frau, die mitten im Leben steht, kein ängstliches Kleinkind.“

Ich schlief erst eine Stunde später wieder ein und hatte üble Träume.

Heute Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, traf ich im Treppenhaus den Hausmeister, der zugleich der Vermieter ist. Herr Wempe ist ein stämmiger Herr um die fünfzig, nicht sonderlich verbindlich, aber er kümmert sich zuverlässig um kleinere Reparaturen und andere Anliegen der Hausbewohner.

Ich fasste mir ein Herz und sprach ihn auf die seltsamen Vorgänge in meiner Wohnung an. Er wiegelte ab. Meinte, dass derartige Geräusche in einem alten Haus normal seien, ich solle mir keine Sorgen machen. Scheinbar bemerkte er mein Zweifeln, denn er fügte hinzu: „Frau Richter, ich denke, es liegt an der betagten Heizungsanlage und den ebenso alten Rohren, auch an den leider teils undichten Fenstern, die jetzt aber nach und nach ausgetauscht werden. Machen Sie sich nicht verrückt."

Diese Erklärungen beruhigen mich allerdings nicht wirklich.

Das Problem ist, dass es sich in München schwierig gestaltet, an eine bezahlbare Wohnung in guter Lage zu gelangen. Ich muss mich wohl vorerst mit den Umständen arrangieren.

Nach der Arbeit setze ich mich in mein Lieblings-Café und bestelle mir Latte Macchiato und Kuchen. Hier bin ich jeden Freitagnachmittag. Mein Ritual, das Wochenende einzuläuten, seit ich Single bin. An meinem Kaffee nippend schmökere ich in einem guten Buch. Meine Umgebung blende ich irgendwann aus, versunken ins Lesen.

Ich bemerke die fremde Person erst, als sie direkt vor meinem Tisch aufragt. Eine Frau. Etwa mein Alter. Sie trägt einen weinroten Mantel und eine Sonnenbrille. Im Vorbeigehen lässt sie einen kleinen Zettel auf meinen Tisch fallen und eilt aus dem Lokal.

Verdutzt schaue ich ihr hinterher, dann greife ich nach dem Papier, falte es auf und lese: „Verschwinde aus deiner Wohnung, solange du noch kannst!“

Mich fröstelt und ich halte kurz den Atem an. Dann springe ich auf, haste zur Tür, betrete den Gehweg und spähe umher. Viele Leute sind unterwegs, aber die Frau ist fort. Nachdenklich und zutiefst beunruhigt kehre ich an meinen Tisch zurück, raffe meine Sachen zusammen und signalisiere der Kellnerin, dass ich bezahlen möchte.

Als sie mir die Rechnung hinlegt, krame ich Geld aus dem Portemonnaie und sage wie beiläufig: „Hier war vor ein paar Minuten eine Frau, weinroter Mantel, Sonnenbrille, schulterlanges, dunkles Haar. Kennen Sie die? Ihren Namen? Kommt die öfter hierher?“

Die Serviererin schüttelt den grauen Kopf und mustert mich regelrecht missbilligend, als gefielen ihr meine Fragen nicht. Hält sie mich für aufdringlich? Möglicherweise ist sie sehr konservativ und denkt, dass ich lesbisch bin und auf ihrem Terrain Frauen angraben will ... Peinlich berührt stehe ich auf, murmele einen Abschiedsgruß und verlasse das Café.

Bei meinem Wohnhaus angekommen tritt eine der Nachbarinnen gerade aus der Tür. Ich kenne die Blondine in mittleren Jahren nur vom Sehen, sie wohnt ein Stockwerk unter mir. Wir grüßen uns, wenn wir uns im Fahrstuhl oder Treppenhaus treffen, aber einen längeren Wortwechsel hatten wir bisher nicht. Ich beschleunige meine Schritte und spreche sie an.

„Hallo! Haben Sie eine Minute Zeit?“

Sie bleibt stehen und wendet sich mir zu. Ich bemerke, dass sie sich heute hübsch zurecht gemacht hat, vielleicht ist sie auf dem Weg zu einem Date.

Mit knappen Worten schildere ich, was in meiner Wohnung passiert und was ich nachts zu hören glaube. Ein wenig fürchte ich mich vor ihrer Reaktion, dass sie mich für hysterisch oder für eine Spinnerin halten könnte. Doch sie hört mir aufmerksam zu. Dann legt sie mir eine Hand auf den Arm und raunt:

„Mir geht es genauso! Ich hab' deshalb gekündigt und ziehe morgen aus.“ Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich spüre meine Kehle enger werden.

„Was? Bei Ihnen passiert das auch?“

Sie nickt mit düsterer Miene. „Es geht das Gerücht von einem Spanner um, der alleinstehende Frauen nicht nur heimlich ausspioniert, sondern auch in deren Wohnungen einbricht und persönliche Gegenstände mitgehen lässt. Seit ich das gehört habe, schlafe ich meist bei einer Freundin und bin froh, dass das Ganze morgen ein Ende hat. Sie sollten auch wegziehen! Aber - tut mir leid - ich muss jetzt los, bin verabredet.“

Sie tätschelt mir die Schulter, dann strebt sie mit raschen Schritten in Richtung Parkplatz.

Ich stehe versteinert, einen Moment bin ich unfähig, mich zu bewegen. Es ist also keine Einbildung! Irgendetwas Schlimmes geht hier vor sich. Mir ist kalt. Unwillkürlich fühle ich mich wieder angestarrt und blicke mich um, kann aber niemanden entdecken, der mir Beachtung schenkt. Hektisch wühle ich den Schlüssel aus der Handtasche und flüchte ins Haus. Auch wenn dies scheinbar kein sicherer Ort ist.

Ich suche meine ganze Wohnung ab. Nach Löchern in den Wänden, nach versteckten Kameras. Finde nichts. Dann stelle ich mich an die Fenster und mustere die gegenüberliegenden Häuser. Doch auch dort fällt mir nichts auf. Das ungute Gefühl bleibt.

Ich denke an die geheimnisvolle Frau, die mir im Café die Warnung auf den Tisch fallen ließ und ziehe den Zettel aus der Tasche, betrachte die Handschrift. Warum hat sie mich nicht direkt angesprochen? Wohnt sie auch hier? Die meisten Mieter kenne ich noch gar nicht. Das Haus ist groß, es umfasst etwa vierzig Wohneinheiten auf fünf Etagen.

Einem Impuls folgend setze ich mich an meinen Laptop und googele die Adresse, Rosentalstraße 16, und werde fündig. Ein Zeitungsartikel, der vor zwei Jahren im "Münchner Kurier" erschien. Zwar wird nur die Straße, nicht die Hausnummer erwähnt, aber es ist von einem Mehrparteienhaus aus der Jugendstilzeit die Rede.

Hier hat sich damals ein tödlicher Unfall ereignet, es wurde spekuliert, ob es gar Selbstmord war. Die fünfundzwanzigjährige Studentin Carina K., die im fünften Stock wohnte, stürzte von ihrem Balkon auf die Rosentalstraße.

Ich schaudere, denn meine Wohnung liegt ebenfalls in der fünften Etage, mit Balkon an der vorderen Fassade. Hier oben, zu dieser Seite, gibt es nur drei Wohnungen. Lebe ich in dem Appartment, das damals Carina K. gemietet hatte? Ich betrachte das Foto der jungen Frau, die unter mysteriösen Umständen zu Tode kam. Sie war hübsch gewesen, mit blauen Augen und glattem, braunem Haar ... Ich stutze. Vom Typ her erinnert sie mich an die Frau aus dem Café, auch wenn ich die nur kurz anschaute und ihre Augen hinter der Sonnenbrille verborgen waren. Aber die Form des Gesichts, das Haar, die Stupsnase ...

Könnte sie eine Verwandte der Toten sein? Warum weiß sie, dass ich hier wohne? Beobachtet sie das Haus? Weshalb die Warnung? War es etwa kein Selbstmord oder Unfall gewesen ...? Die Nachbarin hat von einem Spanner geredet, der bei alleinstehenden Frauen einbricht, Sachen klaut ... Treibt er schon länger sein Unwesen? Ist er ein Stalker und hatte etwas mit dem Tod von Carina K. zu tun? Meine Gedanken überschlagen sich, ich bin nicht mehr nur beunruhigt. Jetzt habe ich Angst.

Was soll ich tun?

Ich rufe meine Freundin Tanja an. Lade sie für diesen Abend zum Essen und ihrem Lieblingswein ein und frage, ob sie bei mir übernachten möchte. Meiner Einladung zum Dinner stimmt sie freudig zu, aber schlafen möchte sie bei mir nicht, weil sie am nächsten Morgen ganz früh den Flohmarkt besuchen will.

Aber darum geht es mir, dass jemand heute Nacht bei mir ist und vielleicht auch etwas Seltsames in meinen vier Wänden wahrnimmt. Ich halte es kaum noch aus, hier allein zu sein.

Ich erzähle Tanja nichts von den beänstigenden Vorfällen, die mich quälen, will sie ja nicht beeinflussen. Aber ich drücke etwas auf die Tränendrüse. Was mir nicht schwerfällt, denn ich muss wirklich weinen und stammele, dass ich so einsam bin wegen der Trennung und ihre Gesellschaft brauche. Sie seufzt und willigt endlich ein. 

Es wird auch ein schöner Abend, für eine gewisse Zeit kann ich mich ablenken, sogar befreit mit ihr lachen. Obwohl ich mir vorgenommen habe, nicht so viel mit Tanja zu trinken, leeren wir dann doch zwei Flaschen Wein und legen uns kurz nach Mitternacht ins Bett. Meine Freundin schläft sofort ein. Ich liege wach. Die fröhliche Stimmung ist verpufft. Ich komme nicht zur Ruhe, starre ins Dunkel. Horche, höre jedoch nur Tanjas leises Schnarchen. Und außer diesem ist nichts weiter zu vernehmen und irgendwann fallen auch mir die Augen zu.

Als ich am nächsten Morgen in der Frühe erwache, frage ich mich: Blieb es nachts nur scheinbar ruhig, weil ich wegen des Alkohols und der tröstlichen Gesellschaft tiefer schlief oder ... weil der Beobachter - der Spanner?!- sich wegen Tanjas Anwesenheit zurückhielt? Es ist zum Verzweifeln!

 Ein schrilles Piepen erklingt, Tanjas Handy, sie hat sich einen Wecker gestellt. Meine Freundin macht sich nach einem Becher Kaffee auf den Weg zum Flohmarkt und ich tigere unruhig durch meine Küche. Ich muss endlich herausfinden, was hier vor sich geht. Die blonde Nachbarin kann ich nicht weiter befragen, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigt. Unten parkt ein LKW und sie wickelt gerade ihren Umzug ab. Soll ich an den Türen klingeln und die anderen Bewohner befragen? Nein. Das Problem betrifft wohl nur alleinstehende Frauen wie mich. Die Blöße, dass die Paare und Familien mich für durchgeknallt halten, will ich mir nicht geben. Außerdem könnte einer der Nachbarn der Spanner sein ...

Dann kommt mir eine Idee. Ich will Kontakt aufnehmen zu Marlies Blum, der Redakteurin, die vor zwei Jahren den Artikel über das Unglück in der Rosentalstraße verfasste. Ich greife zu meinem Telefon. Auch wenn ich die Frau heute, am Samstag, bestimmt nicht beim Zeitungsverlag erreichen werde ... oder? Richtig. Frau Blum ist erst am Montag wieder im Haus. Zumindest erhalte ich ihre Email-Adresse. Also schreibe ich ihr, füge meine Kontaktdaten hinzu und sende die Nachricht ab.

 

Die Dame ist auf Zack und scheinbar ein Workaholic - oder sie wittert eine gute Schlagzeile - denn sie ruft mich noch am selben Nachmittag an. Sie hat eine angenehme Stimme, wirkt intelligent und energisch und zeigt großes Interesse an meinem "Fall". Wir verabreden uns für den nächsten Morgen in dem Café.

In dieser Nacht schlafe ich wie ein Stein.

 

Pünktlich um 9 Uhr erscheine ich beim Treffpunkt. Eine kleine, hagere Frau mit Brille und einer großen Tasche über der Schulter wartet vor dem Eingang, ich schätze sie auf Ende vierzig.

„Frau Richter?", fragt sie und als ich nicke, rauscht sie mir voraus ins Café.

„Kaffee bitte, schwarz", ruft sie der Tresenkraft zu und nimmt an einem Tisch Platz.

„Für mich auch einen Kaffee bitte, mit Milch", füge ich hinzu und setze mich zu ihr.

Frau Blum packt einen Laptop, einen Ordner sowie Block und Stift aus. Ihr Handy legt sie daneben auf den Tisch und übernimmt weiter die Führung. Von Smalltalk hält sie scheinbar nichts, sie kommt gleich zur Sache.

„Ich habe mich wieder mit den Fakten vertraut gemacht. Aber erzählen Sie noch einmal, was seit einiger Zeit in Ihrer Wohnung los ist."

Das tue ich und sie unterbricht mich einige Male, um nachzuhaken, macht sich Notizen. Ich halte kurz inne, als die Kellnerin die Kaffeebecher bringt, berichte dann weiter von den Aussagen meiner Nachbarin und der Begegnung mit der Fremden in diesem Café, beschreibe diese und reiche ihr den Zettel. 

Als ich fertig bin, lehnt sich Frau Blum auf dem Stuhl zurück und blickt mich ernst an. Dann wedelt sie mit dem kleinen Papier.

„Das wird Tamara gewesen sein, die Ihnen die Warnung auf den Tisch fallen ließ, die Schwester von Carina K."

Ich habe also recht gehabt mit meiner Vermutung, dass es eine Verwandte des Opfers ist. 

„Sie hatte damals nach Erscheinen meines Artikels Kontakt zu mir aufgenommen, so wie Sie", fährt Frau Blum fort. „Wir trafen uns, sogar mehrmals. Sie war überzeugt davon, dass es weder ein Unfall noch Selbstmord gewesen war. Carina hatte ihr in den Wochen vor ihrem Tod von nächtlichen Geräuschen erzählt, dass sie sich beobachtet fühlte, dass Dinge verschwanden. Und - sie hatte jemanden in Verdacht. Beim letzten Telefonat mit ihrer Schwester, am Abend des 12.5., sprach Carina davon, dass sie Kameras in ihrer Wohnung gefunden hatte. Im Flur, im Schlafzimmer und im Bad. Daraufhin besorgte sie selbst eine Überwachungskamera mit Bewegungsmelder und stellte diese versteckt in ihrem Schlafzimmer auf, um den Spanner zu überführen. Aber genau in dieser Nacht, etwa gegen 3 Uhr, stürzte sie vom Balkon in den Tod."

„Wen hatte Carola in Verdacht gehabt?", will ich wissen und eine gewisse Vorahnung lässt mich versteifen.

„Den Hausmeister, der auch der Vermieter ist."

Mein Magen zieht sich zusammen, mich fröstelt. Natürlich, dass ich auf den nicht selbst gekommen bin!

„Dietmar Wempe", ergänze ich den Namen und beiße mir auf die Unterlippe.

„Er hat Zugang zu allen Wohnungen, weiß genau, wann wer aus dem Haus ist", führe ich meine Gedanken aus. „Niemand kennt dieses Gebäude so gut wie er ..."

Frau Blum nickt, zieht die Augenbrauen zusammen und tippt mit ihrem Kugelschreiber auf den Tisch.

„Hat die Schwester, diese Tamara, der Polizei von dem Verdacht und den Kameras erzählt? Wurden die entdeckt?", frage ich.

„Ja und nein. Tamara war bei der Polizei nach dem Unglück, aber es wurden keinerlei Kameras in der Wohnung gefunden, die Befragung der Nachbarn ergab auch nichts und deshalb nahm man sie nicht ernst. Als Tamara dem Wempe auf den Pelz rückte und ihn immer wieder anging, zeigte der sie wegen Stalking an und sie erhielt einen Platzverweis, durfte sich ihm oder dem Haus nicht mehr nähern."

„Aber warum sind die Polizisten dem Hinweis nicht intensiver nachgegangen, selbst wenn da keine Kameras waren? Die hätte der Wempe nach Carinas Sturz vom Balkon doch entfernt haben können", frage ich erregt. 

„Doch, zuerst taten sie das. Sie befragten den Vermieter, nahmen auch dessen Wohnung hier im Haus unter die Lupe. Aber die war sauber, sie fanden nichts, was auf seine Täterschaft schließen ließ."

„Vielleicht war es doch ein Unfall gewesen, Carina war in Panik geraten, vielleicht betrunken ...", wende ich ein.

„Nein, da war kein Alkohol im Blut. Und wer begeht Selbstmord, wenn er gerade entschlossen ist, den Mann zu überführen, der einem Schaden zufügt? Tamara hatte die Theorie, dass dieser Wempe ihre Schwester nicht nur filmte, sondern die installierten Kameras auch den Ton aufnahmen. So hatte er wohl das Telefonat und Carinas Absichten mitbekommen, möglicherweise Panik gekriegt, sie könne die Polizei verständigen."

„Und dann hat er sie ermordet?", presse ich hervor.

„Ja, vielleicht hat er das getan", murmelt sie. „Es ist alles wie damals. Ich fürchte, er überwacht Ihre Wohnung und Sie."

„Deshalb schlugen Sie vor, dass wir uns hier treffen und nicht in meiner Wohnung ... ", mutmaße ich und Frau Blum nickt.

Ich spüre, dass Säure in meiner Kehle aufsteigt und schlucke mehrmals.

„Aber ich habe alles abgesucht. Da war nichts", entgegne ich dann.

„Haben Sie auch die Lampen überprüft? Dort hatte Carina die Kameras gefunden, bei den eingebauten Strahlern unter der Decke."

Ich schweige fassungslos, überlege. Dann flüstere ich: „Hatten Sie nicht die Möglichkeit, mehr herauszubekommen? An der Sache dran zu bleiben? Mit einem weiteren Artikel der Schwester eine Stimme zu geben?"

Frau Blums Miene wird hart. „Ich wollte, ja. Aber unser Chefredakteur hat das unterbunden. Wegen der Stalking-Anzeige gegen Tamara. Dieser Wempe ist ein gerissenes Aas, kennt seine Rechte genau. Außerdem ist er reich, auch wenn man ihm das nicht ansieht. Er besitzt nicht nur diese, sondern einige Immobilien in München, kann sich Spitzen-Anwälte leisten. Zudem spielte er überzeugend den unbescholtenen, zu Unrecht verdächtigten Bürger und drohte, die Zeitung wegen Rufmordes zu verklagen, falls einer von uns ihn mit dem Tod der Frau in Zusammenhang bringt. Da hat mein Chef den Schwanz eingekniffen, weil wir kurz zuvor schon einen Prozess wegen einer ähnlichen Sache am Hals gehabt hatten."

„Was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun?"

„Verbringen Sie die Nächte woanders. So, wie Sie es beschreiben, das Atmen, die Schritte, scheint der Kerl nachts Ihre Wohnung zu betreten! Vielleicht sind Sie in Gefahr. Ich kann Tamara fragen, ob sie sich mit Ihnen unterhalten will."

„In Ordnung. Tun Sie das bitte." Ich zittere leicht.

„Seien Sie vorsichtig. Und ... wenn Sie den Kerl drankriegen sollten, würde ich Sie gerne als Erste interviewen, ja?"

Typisch Reporterin, denke ich. Aber damit hatte ich fast gerechnet und nicke. Sie greift nach Ihrem Handy, um Tamara anzurufen, erreicht diese auch und schildert die Situation. Dann übergibt sie mir das Telefon.

Wir unterhalten uns kurz. Tamara gibt ohne Umschweife zu, dass sie es gewesen war, die mir die Warnung auf den Tisch fallen ließ. Ich bitte sie um ein Treffen und um ihre Hilfe. Sie kündigt an, mich an diesem Abend zu besuchen. Wir wollen einen Plan schmieden.


Wempe darf sie nicht sehen. Daher warte ich hinten vor dem Haus auf sie, am Eingang zum Fahrradkeller. Sie verspätet sich. Endlich sehe ich eine Gestalt über den Hof huschen. Im schwachen Licht der Außenlampe betrachte ich Tamara. Sie trägt dunkle Kleidung, einen übergroßen Hoodie, hat sich die Kapuze weit ins Gesicht gezogen. Man könnte sie auch für einen männlichen Jugendlichen halten.

Ich begrüße sie leise und gehe ihr voraus, durchquere das Treppenhaus und sie folgt mir in einigem Abstand. Ich bin auf der Hut, dass wir den Hausmeister nicht treffen. Aber alles ist ruhig, um diese Zeit guckt er meist fern, und wir erreichen ungesehen meine Wohnung. Die früher die ihrer Schwester war, wie sie mir bestätigt.

Ich führe sie in meine Küche, sie zieht die Kapuze vom Kopf und schaut sich um. Ihr Gesicht sieht traurig aus.

„Danke, dass Sie gekommen sind. Es tut mir sehr leid, dass ich das alles wieder in Ihnen hochwühle", sage ich.

„Nein, nein,  ich bin froh, dass Sie sich bei mir gemeldet haben. Dass ich die Möglichkeit bekomme, dabei zu helfen, das Verbrechen endlich aufzuklären und den Dreckskerl dranzukriegen!" Jetzt wirkt sie entschlossen.

„Haben Sie Kameras in den Strahlern entdeckt?", will sie wissen.

„Ja, im Bad und im Schlafzimmer. Wenn man weiß, wo man suchen soll, ist es einfacher, sie zu entdecken."

Tamara presst die Lippen zusammen. „Wie bei Carina ..." Sie seufzt leise, schaut sich um. „Es ist seltsam, irgendwie habe ich das Gefühl, sie ist noch hier."

Sie schüttelt den Kopf, wie um diesen Gedanken loszuwerden.  „Wie wollen wir vorgehen?", fragt sie dann.

Obwohl meine Küche nicht überwacht wird, senke ich die Stimme zu einem Flüstern.

„Ich hab' mir gedacht, ich täusche ein Telefonat in meinem Schlafzimmer vor. Dass ich angeblich bei der Polizei anrufe und von der Entdeckung der Kameras erzähle. Die Beamten erwidern dann vermeintlich, dass sie morgen Vormittag zu mir kommen, um das zu überprüfen. Wenn Wempe das mitkriegt, wird er vielleicht diese Nacht aktiv werden. Was halten Sie davon?"

Tamara denkt nach. Als sie gerade zu einer Erwiderung ansetzt, flackert plötzlich das Licht. Die Küchenlampe erlischt, wir stehen im Dunkeln, denn zeitgleich ist auch die Beleuchtung im Flur ausgegangen. Ein Stromausfall?

Ich höre meine Besucherin scharf den Atem einsaugen.

„Haben Sie auch gerade ein Zischen gehört?", raunt sie mir zu und mich durchfährt es kalt. Nicht sie hat das Geräusch ausgestoßen ... Ist der Wempe hier? Mein Herz rast, ich halte den Atem an und horche, ob sich uns jemand nähert.  

„Da ... hinter Ihnen", flüstert Tamara entsetzt. Ich wirbele herum - und zucke zusammen, als ich ein Flimmern wahrnehme. Etwas wie eine zart leuchtende Gestalt. Zeitgleich ist jetzt ein Wispern zu vernehmen. Das Geräusch, dass ich auch nachts schon hörte!

„Carina ...", entfährt es Tamara, sie schluchzt leise auf. Ich stehe wie gelähmt und starre auf die Erscheinung, die sich nun von uns fortbewegt. Aus der Küche hinaus, in den finsteren Flur. Wir folgen ihr, beobachten, wie das Leuchten auf die Haustür zuschwebt und einfach hindurchgleitet. Ich bin zuerst an der Tür und ziehe sie auf, Tamara ist genau hinter mir.

Wieder passiert etwas Beängstigendes ... Die Deckenlampen des Hauskorridors erlöschen der Reihe nach, als würde jemand sie einzeln ausknipsen. Und in den entstehenden Schatten sehen wir die flimmernde Gestalt, die sich weiter von uns wegbewegt. Als ob sie uns irgendwohin führte ...

Im Treppenhaus geschieht das gleiche, die Lampen verlöschen nacheinander, wir folgen Carinas Geist - ja, ich bin mir sicher, sie ist es! - die Stufen hinab. Dann gleitet das Flimmern durch die Tür des Heizungskellers, ich öffne auch diese und wir sehen die Erscheinung in der Finsternis vor einem Regal schweben, dann ist sie plötzlich fort.

Das Licht flammt auf, alle Strahler gleichzeitig. Mein Herz pocht fast schmerzhaft in meiner Brust, ich sehe, dass Tamara totenbleich ist und zittert.

„Das war meine Schwester", murmelt sie wie neben sich. Ich fasse mich als erste. „Ja, so unglaublich das ist, wir haben sie beide gesehen. Und sie wollte uns auf etwas hinweisen. Hier muss was sein!"

Wir mustern das Regal, das mit Farbtöpfen, Reinigungsmitteln und Werkzeugen beladen ist. Wir untersuchen die Wand. Dann wieder das Regal. Endlich finden wir einen gut versteckten Hebel. Als ich den betätige, schiebt sich der Holzkorpus zur Seite und gibt einen Eingang zu einem geheimen Raum frei. Und was wir darin entdecken, macht uns einerseits fassungslos, aber auch siegesgewiss. Jetzt ist Wempe dran!

 

Wir rufen die Polizei. Zeigen den Beamten den verborgenen Kellerraum, in dem sich mehrere Bildschirme, die Videobänder, weitere Technik und auch die entwendeten Gegenstände befinden. Wempes Trophäen, die er aus den Wohnungen der gestalkten Frauen stahl und in beschrifteten Kartons und Beuteln aufbewahrte. Ziemlich viele! Carina hatte er ein auffälliges Goldmedaillon und Unterwäsche gestohlen. Mir ein seidenes Nachthemd und eine Haarbürste. Es existiert sogar eine Liste mit den Namen seiner Opfer, in denen er sein Wissen über sie notierte, auch, wann welche Frau ein - und wieder auszog. Neben Carinas Namen steht: Die Petze habe ich zum Schweigen gebracht, am 13.5.22, um 2.50 Uhr. R.I.P. Das kranke, widerliche Schwein!

Das über Jahre angehäufte Material ist eindeutig. Er hat sich so sicher gefühlt, dass er dort unten alles aufbewahrte, was nun zu seiner Überführung und auch Verurteilung führt. Wird er einknicken und den Mord gestehen? Reicht der Eintrag?

Die Polizisten schicken uns auf den Flur, man wird gleich unsere Aussage aufnehmen. Sie dokumentieren das Beweismaterial und zwei von ihnen machen sich auf den Weg zu Wempes Wohnung. Mir geht ein Gedanke durch den Kopf: Von wem stammten die nächtlichen Geräusche in meiner Wohnung? Hatte mir wirklich Wempe Besuche abgestattet, als ich schlief? Oder wollte Carinas Geist mich warnen? Wenn ja, wird sie weiter in der Wohnung spuken?

„Wir sollten den Polizisten besser nichts von der Erscheinung, von Ihrer Schwester, erzählen ...", sage ich.

Tamara beginnt unterdrückt zu weinen, darum ziehe ich sie in meine Arme. „Beruhigen Sie sich, jetzt ist alles gut. Es hat ein Ende! Der Drecksack wird zur Veranwortung gezogen! Ich bin froh, dass Sie mir die Warnung zukommen ließen, sonst hätten wir das hier nie herausgefunden!"

Ich drücke ihre Hand und da keine Beamten in der Nähe sind, sage ich leise in den Flur hinein: „Falls du mich hören kannst, Carina: Ich danke dir. Ich danke dir so sehr!"

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2023

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