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Da brauche ich mir nichts vorzumachen. Mein Leben hat sich in jeder Hinsicht verschlechtert.

Viele Jahre lang habe ich als Anlageberaterin bestens verdient und meinen arbeitsscheuen Mann mit durchgefüttert. Ohne zu bemerken, dass er mich die ganze Zeit nur ausgenutzt hat.

Kaum war ich arbeitslos geworden, sodass bei mir nichts mehr zu holen war, ließ mein Mann mich mit unseren drei Töchtern, einem Berg Schulden, den er hinter meinem Rücken angehäuft hatte, und ein paar verblassten Erinnerungen an bessere Zeiten einfach sitzen. Von Heute auf Morgen verschwand er.

Die Kinder und ich mussten uns nun einschränken, konnten unser bisheriges Leben nicht fortzusetzen. Der Umzug in eine möglichst billige Wohnung war angesagt.
Isabell, mit dreizehn meine älteste Tochter, trifft es am härtesten. Sie schämt sich, sagt, dass wir "jetzt Asis sind" und hasst die neue Schule.
Die beiden jüngeren, Carlotta und Sarah, nehmen es etwas leichter, aber auch sie fühlen sich in dem Wohnblock nicht wohl.

Das alles tut mir schrecklich leid und ich gebe jeden Tag mein Bestes, ihnen eine gute Mutter zu sein und wieder Arbeit zu finden. 

Nun hausen wir seit Wochen in dieser engen, muffigen Dachwohnung mit schrägen Wänden, an einer vom Durchgangsverkehr umtosten Ausfallstraße.

Vierundzwanzig Stunden Lärm. Die Fenster vibrieren, die Wände beben. Von Doppelverglasung und Lärmschutz haben die Menschen hier noch nichts gehört.

Und dann noch die lauten Mieter der anderen Wohnungen, die saufen, streiten und prügeln sich gelegentlich. Denen gehen wir aus dem Weg.

Bevor wir im schummerigen Treppenhaus hinunterschleichen, vergewissern wir uns, dass keiner der Mitbewohner auf dem Flur ist. Wir möchten niemandem begegnen.

Meine Töchter begleite ich, wenn möglich, bis vor die Haustür, und schärfe ihnen jeden Tag aufs Neue ein, nie allein das Haus zu betreten oder zu verlassen.

Angst und Misstrauen sitzen tief.

Seit wir uns hier einquartiert haben und dabei noch froh sein müssen, dass wir ein billiges Obdach gefunden haben, ist es aus mit der Nachtruhe.

Sowohl der Straßenlärm als auch die grölenden, keifenden Mitbewohner lassen wegen der dünnen Wände keinen ruhigen Schlaf zu.

Den Mädchen geht es nicht viel besser als mir. Morgens sind sie meistens unausgeschlafen und schlecht gelaunt. Wir fühlen uns wie gerädert. Unsere Nerven liegen blank.

Wir fangen an, uns zu streiten und anzuschreien. Das tut mir so leid.

Vorgestern Nacht kam zu allem Überfluss noch ein weiteres Ärgernis hinzu: Irgendjemand hat auf dem ohnehin viel zu schmalen Gehweg riesige, mit Sand gefüllte Kunststofftaschen direkt vor der Haustür abgeladen. Was das wohl werden soll? Sand für einen Kinderspielplatz?

Hier spielen kaum Kinder, und  wenn, dann auf betonierten Parkplätzen oder in baumlosen Hinterhöfen.

Ist der Sand für eine Ausbesserung der unzähligen Löcher in Straße oder Bürgersteig gedacht? Auch das ist wenig wahrscheinlich. In dieser Gegend wird nichts ausgebessert. Und kein einziger Straßenarbeiter ist hier in den letzten vierzehn Tagen aufgetaucht.

Dafür ein neuer Mieter. Ganz unten im Parterre. Nicht, dass er sich uns vorgestellt hätte, aber meine Töchter haben ihn mehrere Male flüchtig im Treppenhaus gesehen.

„Ein kauziges Männchen“, sagen sie, „viel kleiner als wir, alt, sehr alt. Der Typ huscht flink wie eine Kakerlake durchs Treppenhaus. Er hat einen langen weißen Bart und einen Buckel, und er kichert vor sich hin.“

„Hat der Mann euch angesprochen?“, frage ich. „Hat er euch gegrüßt?“

„Nein, nur angestarrt hat er uns mit seinen kleinen roten Augen, richtig unheimlich. Und gekichert hat er, und dann ist er ganz schnell in seine Wohnung verschwunden.“

Ich mache mir Sorgen, ob das irgendein Psycho ist, der hier einquartiert wurde. Bloß nicht ... Ich nehme mir vor,  morgen bei ihm zu läuten und ihn im Haus willkommen zu heißen. In Wahrheit will ich mir einen Eindruck von ihm verschaffen, ob er okay ist. Aber irgendwie vergesse ich, dass ich bei ihm klingeln wollte ...

Mit dem Einzug des neuen Mieters schlummern wir tief und traumlos, stehen morgens frisch und gutgelaunt auf. Unsere Schlafprobleme sind wie weggewischt und stellen sich auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht wieder ein.

Ob wir uns allmählich an den Höllenlärm draußen und drinnen gewöhnt haben? Nicht wirklich, aber mit der wiedergefundenen Nachtruhe gewinne ich meinen alten Lebensmut zurück.

Ich will, muss, werde Arbeit finden. Die Mädchen gehen ohne zu murren in die Schule, ihre Noten verbessern sich zusehends.

 

An einem Vormittag taste ich mich durch das dämmerige Treppenhaus nach unten, um Brot beim Bäcker zu kaufen. Die Haustür steht sperrangelweit offen, sodass ich das Schild an der Tür des neuen Mieters lesen kann. Ein weißer mit Tesafilm befestigter Papierstreifen, auf dem in altdeutscher Schrift ein Name steht, den ich mit Mühe entziffere:

S a n d m a n n.
Ich lege ein Ohr an die Tür und meine, ein leises Kichern zu vernehmen.

 

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Tag der Veröffentlichung: 05.12.2023

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