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Tag 1

Meine Eltern sind so glücklich, dass sie das neue Haus gefunden haben. Seit der Erstbesichtigung schwärmen sie ununterbrochen davon. Ich hab' bisher nur Fotos gesehen. Und die hauen mich nicht um. Ein rotes Reetdachhaus. Aber selbst, wenn es um eine Villa mit Pool gehen würde, wäre ich dagegen.

„No way! Nur über meine Leiche!", hab' ich geätzt, als sie ankündigten, das Haus zu kaufen. Ohne Erfolg. Meine Proteste wurden ignoriert.

Und heute ist es soweit: Wir ziehen von Köln nach Witzwort, einem Dorf mit etwa 1000 Einwohnern in Schleswig Holstein. Kein Scheiß - das Kaff heißt echt so!

Wir sitzen im Auto, Mama und Papa vorne, Lucy und ich hinten. Ich hab' mir nach einer halben Stunde Fahrt meine AirPods in die Ohren gedrückt und versuche, das Gequatsche auszublenden. Mit mäßigem Erfolg, so laut wie die reden und lachen. Außerdem kann ich kaum Nachrichten meiner Freunde empfangen oder ihnen schreiben, weil wir ständig durchs Nirwana fahren.

Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte. Diesen Spruch hab' ich mal irgendwo gehört und der passt gerade total. Nicht nur, dass ich ein Landei werde, nein, ich muss auch meine Freunde verlassen, dabei sind seit vorgestern Sommerferien. Die beste Zeit, um zusammen abzuhängen. Was ich gerade alles verpasse! 

Und in sechs Wochen werde ich eine neue Schule besuchen und mit dem Bus dafür in die nächstgrößere Gemeinde juckeln müssen. Shit!

Mama wendet sich zu mir um und sagt was. Ich ziehe einen Kopfhörer raus.

„Wir sind bald da", wiederholt sie und strahlt. Ich verziehe keine Miene, wende den Kopf wieder ab und starre auf die vorüberziehende Landschaft. Rapsfelder, Wiesen, Bäume, Kühe. Ein Trecker, den wir überholen.

Wie kommt man darauf, aus einer Stadt wie Köln hierher zu ziehen? Meine kleine Schwester Lucy dagegen ist völlig aus dem Häuschen. Seit wir losgefahren sind - inklusive der Rastzeit an einer Tankstelle - plappert sie unaufhörlich, was sie sich für ihr neues Zimmer noch wünscht, dass sie endlich einen Hund oder eine Katze haben will und was wohl alles in Zukunft passieren wird.

Sie ist acht Jahre alt und ich bin sechzehn. Das ist wohl der Grund für unsere unterschiedlichen Meinungen zu diesem Umzug in die Pampa - für sie ist es ein Abenteuer und für mich das Ende. Wobei Lucy möglicherweise nicht wirklich schnallt, was abgeht. Vielleicht denkt sie, dass wir gerade in Urlaub fahren und checkt nicht, dass sie ihre Freundinnen nicht wiedersehen wird ...

Wir sind da. Meine Eltern steigen aus. Sie halten sich an den Händen und stehen lächelnd vor dem Haus ihrer Träume.

Mein Vater ist schon älter, bis letztes Jahr war er ein erfolgreicher Chirurg und will hier jetzt medizinische Fachbücher verfassen. Meine Mutter hat in Köln als Journalistin für eine kleine Zeitung gearbeitet. Aber sie möchte lieber Papa beim Schreiben helfen und sonst endlich ganz Hausfrau sein. Bedeutet wohl, dass sie Lucy und mich von nun an ständig bemuttern und sich mehr in unsere Leben einmischen wird. Was ich ebenfalls ziemlich uncool finde.

Lucy springt aus dem Auto und läuft sofort hinter das Haus. Unsere Eltern haben erzählt, dass es zweihundert Jahre alt ist, aber komplett saniert. Und dass dahinter ein kleiner Garten liegt, an den sich ein Wald anschließt. Ich steige auch endlich aus und schaue mir mein neues Zuhause an. Ein ehemaliges Bauernhaus, aber ziemlich klein.

Meine Eltern gehen hinein und ich folge ihnen. Im Erdgeschoss gibt es eine große Küche, ein Wohnzimmer mit Kamin sowie ein Gäste-WC. Im Obergeschoss befinden sich ein Bad und die Schlafzimmer, vier an der Zahl. Mein Raum ist relativ groß, mit Blick auf Garten und Wald. Die neuen Möbel, die ich mir aussuchen durfte, sind echt toll. Trotzdem kann ich mich nicht wirklich darüber freuen, stattdessen spüre ich einen dicken Kloß im Hals.

Ich öffne das Fenster,  lehne mich hinaus und halte Ausschau nach Lucy. Sie schaukelt und unterhält sich mit jemandem, den ich von hier aus jedoch nicht sehen kann.

Demnach hat sie wohl schon einen Spielpartner gefunden. Ich frage mich nur, wen, denn die nächsten Nachbarn wohnen ganz am Ende der Straße. Vielleicht wird sie gerade von einem neugierigen Spaziergänger ausgequetscht.

Was soll's ... Eigentlich bin ich mit dem neuen Zimmer zufrieden. Hier kann ich auch mal die Musik lauter aufdrehen, ohne Kopfhörer, weil wir keine direkten Nachbarn haben.

„Nick", höre ich meine Mutter unten rufen. „komm runter!" Ich verdrehe die Augen. Sie ruft noch einmal. Also gebe ich nach und folge ihrer Anweisung.

Sie zeigt auf einige Kartons neben der Treppe. „Das sind deine, trage sie hoch und pack aus."

„Mach ich später", sage ich. „Ich guck mal nach Lucy", füge ich schnell hinzu und begebe mich in den Garten.

Meine Schwester sitzt immer noch auf der recht morsch wirkenden Schaukel und unterhält sich. Während ich auf sie zugehe, frage ich mich wieder, mit wem. Da ist niemand.

„Hey, mit wem quatschst du da eigentlich?"

Meine Schwester lächelt mich an, ihre grünen Augen blitzen.

„Das ist meine neue Freundin. Sie heißt Mariella und wohnt in einem kleinen Häuschen, dort."

Sie zeigt mit dem Zeigefinger hinter sich zum Wald.

„Und wo ist Mariella gerade?"

„Du Dummerchen, bist du blind? Sie steht doch neben mir. Und da ist ihr Hund, neben dem dicken Baum. Der heißt Zimti, weil er so braun wie Zimt ist."

Lucy lacht etwas albern. Entweder habe ich oder sie Halluzinationen. Denn da ist weder ein Mädchen, noch ein Hund. Mir fällt nur auf, dass die Sonne in diesem Teil des Gartens nicht scheint und es dadurch ziemlich düster und kalt ist.

„Ich schau mich mal um", sage ich und steuere auf den Wald zu. Dort ist es noch kühler und dunkler. Der Wald scheint alt zu sein, große, knorrige Laubbäume, die dicht beieinander stehen. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke nach oben. Die Zweige bilden ein grünes Dach, das die Sonne kaum durchlässt.

Auf einer kleinen Lichtung setze ich mich auf einen Baumstumpf. Hier plätschert ein Bach und einige Meter weiter steht eine alte Holzhütte. Das muss das Häuschen sein, von dem Lucy geredet hat, denke ich. 

Die Hütte ist ziemlich abgerockt. Zwei Fenster sind mit Brettern vernagelt und das Dach ist an einigen Stellen kaputt. Trotzdem wohnt scheinbar jemand darin, denn ein alter Mann hockt auf einer Bank davor und raucht eine Zigarette. Ist das der Opa von dieser Mariella?

Ich stehe auf und grüße ihn freundlich, weil er unser Nachbar ist, aber der Alte scheint mich nicht gehört zu haben. Er glotzt durch mich hindurch, als ob ich ein Geist wäre. Ist wohl etwas schwerhörig, darum hebe ich die Stimme: „Guten Tag! Ich heiße Nick. Wir sind in das Haus nebenan eingezogen."

Da schaut er ärgerlich zu mir hoch und schnauzt mich an: „Was willst du hier? Ich will meine Ruhe haben. Verzieh' dich!"

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und verschwinde. Das ist so bodenlos! Man könnte meinen, ich hätte an seine Haustür gepinkelt oder sonst was Mieses getan. Wollte nur höflich sein.

Was, wenn die alle hier so drauf sind ... Ein Albtraum. Am liebsten würde ich sofort wieder nach Köln zurück fahren. Warum haben mich meine Eltern hierher geschleift?

 

Tag 3

Vogelgezwitscher und Sonnenschein wecken mich auf. Ich schaue auf die Uhr. Heftig, ich habe lang geschlafen. Es ist schon fast Mittag.

Ich checke die Nachrichten meiner Freunde, gehe dann ins Bad und ziehe mich an. Auf der Treppe schnuppere ich den Duft von Kaffee, Gebackenem und Eiern mit Speck.

In der Küche sitzt Papa am Tisch, er liest Zeitung und Mama brutzelt was am Herd.

„Guten Morgen, mein Schatz“, sagt sie, ohne sich umzudrehen. „Setz dich. Die Pfannkuchen sind gleich fertig!“

„Du weißt genau, dass ich Pfannkuchen nicht mag“, nörgele ich und nehme mir Toast und etwas Rührei mit Speck. „Wo ist eigentlich Lucy?“

Ohne von der Zeitung aufzuschauen klärt mein Vater mich auf. „Deine Schwester ist draußen im Garten, mit ihrer neuen Freundin. Lucy redet nur von ihr – Mariella hier, Mariella dort. Scheint ein nettes Mädchen zu sein." Er trinkt einen Schluck Kaffee. „Hast du die eigentlich schon kennengelernt? Wir sollten die Eltern mal besuchen und uns vorstellen."

„Gesehen hab ich die noch nicht, aber vielleicht ihren Großvater. Sonderlich nice ist der Mann nicht ...", murmle ich und schenke mir Saft ein.

„Aha. Schauen wir mal." Eine typische Antwort meines Vaters. „Ich hoffe, dass du auch bald Freunde findest. Noch denkst du, es ist hier nicht so toll. Aber du wirst bald merken, dass es das Beste ist, was uns passieren konnte."

„Genau," stimmt Mama lächelnd zu. „Dein Vater und ich sind jedenfalls sehr glücklich. Weg von dem Trubel der Stadt, Entschleunigung, die schöne Natur.“

Ich verschlucke mich fast am Saft. Bin ich in einer kitschigen Family-Soap?

„Na ja“, meine ich nur. „Ihr findet das vielleicht geil, aber ich bin noch zu jung dafür. Das einzige, was ich hier erleben kann, sind wahrscheinlich Scheunendiscos mit der saufenden Landjugend oder der Freiwilligen Feuerwehr, Kirchentreffen oder wie sich Hase und Fuchs Gute Nacht sagen.“  

„Na, na, ich bin mir ziemlich sicher, das du noch mehr entdecken wirst, was dir gefällt", entgegnet mein Vater und legt endlich die Zeitung weg. „Husum ist nicht weit von hier. Dort gibt es ein Kino, einen Indoor Freizeitpark, ein Einkaufszentrum und noch mehr. Es ist vielleicht nicht Köln, aber es ist auch nicht das Ende der Welt."

Er mustert meine Reaktion und als ich nicht antworte, steht er auf und fügt hinzu: „Ich mach dir einen Vorschlag – heute Nachmittag fahren wir zusammen in die Stadt. So, und nun werde ich mich an mein Buch machen.“

Und mit diesen Worten geht er aus dem Zimmer.

„Wird schon, Nicki", sagt meine Mutter und wuschelt mir durchs Haar. 

Seufzend schiebe ich meinen Stuhl zurück, stelle meinen Teller in die Spülmaschine und verschwinde in den Garten. Dort sitzt Lucy in der Hocke und guckt auf einen Busch. Oder auf eine Stelle davor. Bewegt sich da etwas? Als ich zu ihr schlendere, steht sie auf.

„Jetzt hast du ihn verscheucht", mault sie.

„Wen?“, will ich wissen.

„Da war eben Zimti, er ist so süß!"

„Wer ist Zimti?"

„Hab ich dir doch schon erzählt, Mariellas kleiner, brauner Hund. Sie sagt, ich soll auf ihn aufpassen. Sie wohnt bei einem alten Mann und hat Angst, dass der den Hund haut. Der hat Zimti schon mal wehgetan.“

Sofort denke ich an den grantigen Kerl, der mich bei der Hütte so angemacht hatte.

„Warum sollte der das tun?“, frage ich, obwohl ich ihm das durchaus zutraue. 

„Ich weiß nicht. Mariella sagt, dass er böse und gemein ist. Sie hat Angst vor ihm.“

Lucy fängt an zu weinen. Betroffen überlege ich, was ich sagen soll. Meine Schwester hat sehr viel Fantasie, übertreibt manchmal, ist ziemlich emotional. 

„Wohnt sie da mit ihm? Ist das ihr Opa?", frage ich und will sie umarmen, aber Lucy macht sich los.

„Weiß ich nicht. Aber sie sagt, ich bin ihre einzige Freundin. Sie hat sonst niemanden. Wir haben Mama und Papa. Aber ihre Eltern leben nicht mehr.“

Lucy läuft heulend ins Haus. Wenn sie so drauf ist, kann nur Mama sie trösten.

Ich frage mich, ob das alles überhaupt stimmt und blicke mich nach dem Hund um. Doch der ist verschwunden.

 

Tag 5

Also, so kacke wie befürchtet ist es hier doch nicht. Okay, der Trip nach Husum war etwas ernüchternd: Das Einkaufszentrum bietet hauptsächlich Rentner-Shops, aber daneben auch ein paar gute Geschäfte. Der Indoor-Freizeitpark ist eher was für Lucys Alter. Aber es gibt ein Schwimmbad, auch ein Kino, das ist ziemlich neu und hat acht Säle.

Meine Eltern sind gerade mit meiner Schwester zum Einkaufen gefahren. Ich will lieber weiter den Ort erkunden.

Momentan sitze ich im Witzworter Dorf-Café, wie ich es nenne, und trinke einen Milkshake. Dabei beobachte ich die Leute um mich herum. Dörfler halt. Kennen sich alle, grüßen sich mit Namen. Uncoole Klamotten. Viele Karohemden und Gummistiefel. Dabei regnet es heute gar nicht. Manche mustern mich, ansprechen tut mich aber keiner.

Dann kommt ein Mädchen rein und setzt sich an den Nachbartisch. Schätze, sie ist so alt wie ich, tolle Figur, sie hat lange rote Locken und eine Stupsnase. Da sie meine Blicke bemerkt, dreht sie sich zu mir um.

Grosse blaue Augen mit langen Wimpern schauen mich fragend an. Mir wird plötzlich ganz warm.

„Habe ich irgendetwas an mir oder warum starrst du mich so an?“, fragt sie.

Ich spüre, dass ich knallrot im Gesicht werde und stottere eine Entschuldigung. Das besänftigt sie.

„Du bist neu hier, nicht? Sorry, ich sollte mich vielleicht erst einmal vorstellen. Ich bin Josie. Wie heißt du?"

Mit diesen Worten setzt sie sich an meinen Tisch.

„Nick. Ich musste mit meiner Familie vor ein paar Tagen herziehen. Aus Köln. Wir wohnen in dem kleinen Haus am Wald. Im Finkenweg.“

„Das Würther Haus?“, fragt sie mich entgeistert.

„Keine Ahnung, ob das so heißt. Aber, was ist denn so schlimm an dem Haus?“

„Nicht direkt an eurem Haus, aber das Drumherum. Ich mein', was die Leute sich darüber so erzählen ...  Irgendwas wie ein Familiendrama ist da passiert. Genaueres weiß ich auch nicht.“

Ich muss an den Alten denken. Das kleine Mädchen, das Angst vor ihm hat. Das Familiendrama ist wohl noch nicht zuende ...

„Kannst du mir helfen, was darüber herauszufinden?“, frage ich. Nicht nur aus Neugier, sondern weil Josie bisher der erste Mensch ist, der mir in dem Kaff gefällt.

„Okay. Mein Vater kann uns vielleicht Infos besorgen. Er ist ... der Dorf-Cop." Sie zieht ironisch eine Augenbraue hoch und ich ärgere mich, dass ich wohl nicht nur durch mein Styling zu offensichtlich den "Großstädter" raushängen lasse.

„Wenn Paps nichts rauskriegt, könnten wir zum Rathaus gehen und nachfragen. Wir sagen, für einen Schulaufsatz oder so.“ Sie zwinkert mir zu und grinst. Wow, sie hat bezaubernde Grübchen, wenn sie lächelt. Ja, sie ist definitiv cool. Und hübsch dazu.

„Klingt nach einem Plan. Danke, dass du mir helfen willst", sage ich.

„Schon okay. Aber jetzt erzähl was von dir, von Köln. Und danach bin ich dran."

Sie stützt ihr Kinn auf die Hand und ich plappere los. Bei einer Story, die ich ihr von meinen Freunden und mir erzähle, muss sie lachen.

Ich mag Josie, die eigentlich Josefine heißt. Sie ist auch sechzehn, besucht das Gymnasium, dem ich zugeteilt bin. Kommt wie ich in die Zehnte. Wir werden zusammen Bus fahren. Und wenn ich Glück hab', stecken sie mich in Josies Klasse.

 

Tag 6

Josie und ich treffen uns nach dem Frühstück vor dem Café. Ihr Vater konnte leider keine näheren Informationen zum Drama um das Würther Haus beisteuern. Also begeben wir uns zum Rathaus. Eine Dame dort verweist uns an die Bibliothek in Husum, dort gibt es neue und alte Zeitungsartikel. Wir fahren mit dem Bus dorthin.

Während wir das Online-Archiv - jeder an einem PC sitzend - durchforsten, quatschen wir über alles Mögliche. Mir kommt es vor, als ob ich Josie schon länger kenne, obwohl wir uns gestern das erste Mal getroffen haben. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie immer wieder mustere. Ihr hübsches Profil, die langen schlanken Finger, die geübt die Maus bedienen.

„Da, ich hab was!", sagt sie plötzlich. Ich stelle mich neben sie und gucke auf den Bildschirm. Als ich lese, was im Jahr 1949 im Finkenweg passiert ist, muss ich erst mal schlucken.

Nach dem Krieg war die Witwe Martha Herweger mit ihren beiden Kindern Mariella und Mirko aus Schlesien nach Schleswig Holstein geflüchtet und mit den achtjährigen Zwillingen bei dem älteren Bauern Josef Würth untergekommen. Die schlesische Familie arbeitete auf seinem Hof und den Feldern und durfte dafür in der kleinen Hütte auf dem Grundstück wohnen. Bis zu dem Tag, an dem sich das Drama ereignete.

Der alleinstehende Bauer Josef Würth war laut dem Zeitungsartikel ein aufbrausender Geselle gewesen, der trank und häufiger in Streitigkeiten mit den Dorfbewohnern verwickelt war. Er soll Frau Herweger und deren Kinder nicht sonderlich gut behandelt haben. Die Situation eskalierte am 4.5.49. Als die Mutter abends von der Feldarbeit zurückkehrte, fand sie ihre Tochter und den Hund tot vor. Dem Hund war das Genick gebrochen worden, ihre Tochter mit dem Kopf auf einem steinernen Futtertrog aufgeschlagen.

Obwohl der Bauer die Taten abstritt, wurde er verhaftet. Aber da niemand, auch nicht der Zwillingsbruder, etwas beobachtet hatte, wurde Josef Würth später wegen Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Die gramgebeugte Mutter kam mit ihrem Sohn in einer der Flüchtlingsbaracken unter.

 

Ich starre entgeistert auf den Zeitungsartikel. Mir wird gewahr, wie lang das her ist, was damals Schreckliches auf unserem Grundstück geschah, und mir wird kalt und die Kehle eng.

„He, alles okay mit dir?", fragt Josie besorgt.

„Das ist total cringe", antworte ich. „Dieses Mädchen, diese Mariella: Meine kleine Schwester unterhält sich dauernd mit der im Garten. Sie sieht auch den Hund, obwohl da niemand ist! Und ich hab' vor der Hütte im Wald, wo die gelebt haben sollen, einen alten Kerl getroffen, vielleicht ist das dieser Bauer Würth. Ein aggressiver Widerling, der mich ohne Grund anschnauzte. Vielleicht ...  kann meine kleine Schwester Geister sehen. Und ich auch."

„Oh", sagt Josie nur und schaut mich mit großen Augen an. Ich fürchte, dass sie mich jetzt für einen Spinner hält und bereue schon, es ihr anvertraut zu haben.

„Ich weiß, das klingt echt komisch, aber es ist wahr", stammele ich. Ich schaudere, fühle Scham aufsteigen. Josie legt ihre Hand auf meine.

„Vieles ist möglich. Auch Unglaubliches. Was machen wir jetzt?", fragt sie und ich bin erleichtert, dass sie mich nicht für einen verrückten Freak hält, sondern mir zu glauben scheint. Das gibt mir Kraft.

„Ich fahre jetzt nach Hause und geh' mit meiner Schwester in den Garten. Vielleicht trifft sie wieder Mariella und den Hund. Und wir statten auch der Hütte im Wald einen Besuch ab."

„Und ich komme mit dir", sagt Josie entschlossen und steht auf. Ich bin froh, dass sie mich begleitet. 

 

 

.

Während der Busfahrt zurück sagt Josie, dass sie mich ihren Freunden vorstellen will. Ich hoffe, die sind auch so cool und witzig wie sie.

Ich bin echt gerne mit ihr zusammen, sie gefällt mir immer besser.

Wegen ihr finde ich es nicht mehr ganz so schlimm, jetzt in Witzwort zu leben. Aber da ist noch die Tatsache, das wir unseren Garten mit Geistern teilen, die ruhelos oder auf der Suche nach etwas sind. Scheinbar sind Mariella, Zimti und ihr Mörder an diese Hütte und das Grundstück gebunden.

Wie können wir dem Mädchen und dem Hund zu Frieden verhelfen und auch den Geist des alten Würth loswerden?  

Josie und ich betreten das Haus. Meine Mutter ist nicht da. Papa hockt in seinem Schlafzimmer am Laptop und tippt eifrig, wie ich bei einem kurzen Blick durch die angelehnte Tür erkenne. Er hat die Welt um sich herum ausgeblendet. Bestens.

Wir finden Lucy in ihrem Zimmer. Sie malt gerade ein Bild. Ich stelle Josie vor und bitte meine Schwester dann, mit uns in den Garten zu kommen. Ich will ihr auf keinen Fall Angst machen, muss vorsichtig vorgehen. Aber ohne Lucys mediale Fähigkeiten können wir nichts erreichen, das ist klar.

Die Sonne scheint, es ist ein recht warmer Tag. Wir schlendern über den Rasen, auf die morsche Schaukel zu.

Gerade will ich Lucy fragen, ob sie Mariella rufen kann, da höre ich sie sprechen: „Hallo! Das ist mein Bruder Nick. Und das ist Josie."

Josie wirkt erstaunt, wir wechseln einen Blick, dann schauen wir wieder zu Lucy, die uns den Rücken zuwendet und mit der Luft redet. 

Während ich noch überlege, was wir jetzt tun sollen, stellt sich Josie neben meine Schwester. „Ist der kleine Hund auch da?"

Lucy lächelt und nickt und zeigt vor ihnen auf den Boden.

„Hallo Mariella, magst du uns Dreien zeigen, wo du wohnst?", fragt Josie.

Dann wendet sie sich an Lucy. „Ich kann deine Freundin leider nicht sehen oder hören, obwohl sie da ist. Hat sie was geantwortet?"

Mir kommt das alles so irrational und spooky vor, aber meine Schwester läuft plötzlich mit einem „Ja, kommt mit!" in Richtung Wald. Wir folgen ihr.

Mit jedem Schritt wird es etwas kälter, ich fröstele. Aber das kann auch nur an den dichten Schatten liegen, durch die wir uns bewegen.

Am Waldrand angekommen, habe ich mit einem Mal ein seltsames Gefühl. Als ob wir ... von zwei Wesen begleitet werden, anders kann ich es nicht beschreiben.

Spürt Josie es auch? Denn sie wirkt angespannt, irgendwie auf der Hut, das nehme ich wahr.

Nach kurzem Fußmarsch erreichen wir die Hütte. Der alte Mann sitzt wieder auf der Bank davor und starrt düster vor sich hin. Ich bleibe abrupt stehen. Josie ebenfalls, ihr entfährt ein erstickter Laut. Sie kann ihn also auch sehen!

Lucy geht weiter, bis sie vor dem Alten steht. Ich halte den Atem an.

„Geh weg von mir – lass mich in Ruhe!“, keift er.

Doch Lucy lässt sich nicht von ihm einschüchtern.

„Mariella sagt, du sollst nicht so böse mit mir reden."

Eine Veränderung geht mit dem Alten vor. Er reißt die Augen auf, sein Mund steht offen, er hebt eine Hand, sie zittert.

„Mariella ... wo ist sie?", ächzt er dann.

„Hier, neben mir. Und da ist Zimti." Lucy scheint kurz zu lauschen, dann sagt sie: „Sie sagt, dass sie immer hier bei dir sind, wenn du dich da hinsetzt. Aber du kannst sie leider nicht sehen. Und nicht hören." Sie zeigt auf uns. „Die beiden da können das auch nicht."

Dem Alten entfährt ein Schluchzen, das seine gebeugten Schultern schüttelt. „Wie kannst du ... Oh, Mariella, bitte, vergib mir."

Er weint. Und ich staune, über die tiefe Trauer und Reue. Das soll der gemeine Bauer, der Mörder sein?

Einem Impuls folgend frage ich: „Wer sind Sie?"

Er bleibt stumm, gefangen in seinem Leid. Es ist meine Schwester, die antwortet. „Das ist ihr Bruder, Mirko."

Mir bleibt die Spucke weg. Der Zwilling! Der inzwischen zweiundachtzig Jahre alt ist, wie ich errechne. Und demnach kein Geist ... sondern ein Mensch. Weshalb wir alle ihn wahrnehmen können. Wohnt er wirklich in dieser Hütte oder kehrt er nur regelmäßig zum Ort des Grauens zurück?, frage ich mich.

„Mariella sagt, es gibt nichts zu vergeben. Sie ist traurig, weil du so traurig bist", sagt meine Schwester zu dem Mann. „Du sollst ihr helfen. Sie möchte mit Zimti endlich zu eurer Mutter ins Licht."

Ihm entfährt ein unsagbar trauriger Klagelaut. Dann überschlägt sich seine brüchige Stimme fast.

„Wie soll ich ihr denn helfen? Ich bin doch auch Schuld an ihrem Tod! Ich habe mit angesehen, was der Bauer mit Zimti machte. Und als sie ihn anschrie, habe ich beobachtet, was er ihr antat. Er hat sie geschlagen und sie ist rückwärts gefallen, mit dem Kopf auf den Trog. Und ich Feigling habe in meinem Versteck gesessen und ihr nicht geholfen, habe Mutter nichts gesagt. Weil ich Angst hatte. Vor dem Würth und auch vor meiner Mutter, dass sie mich dann hasst, weil ich nicht mal versuchte, einzugreifen. Jeden verdammten Tag lebe ich mit der Schuld. Habe ich nicht genug gebüßt?“

Er presst sich eine Hand vor den Mund und ich mustere meine Schwester, wie sie die schrecklichen Informationen aufnimmt. Zum Glück wirkt sie nicht ängstlich oder schlimm schockiert, eher mitleidig.

Mir fällt ein, wie Mama mich früher mal tröstete, als ich supertraurig war, weil ich dachte, ich wäre Schuld am Tod unseres Kaninchens.

„Sie waren ein kleiner Junge damals", sage ich deshalb. „Sie hätten ihrer Schwester nicht helfen können. Vielleicht hätte dieser Würth Ihnen auch was angetan. Ich glaube, Sie müssen sich selbst verzeihen." Er schaut mich seltsam an. Leer. Josie tritt jetzt auch auf ihn zu. Ihre Stimme klingt sanft.

„Nick hat Recht. Sie waren ein verängstigtes Kind. Sprechen Sie zu Ihrer Schwester, sie hat Ihnen niemals etwas vorgeworfen. Vielleicht finden Sie und Mariella und der Hund Frieden. Lassen Sie die beiden endlich los. "

So viel Schmerz zeichnet sich plötzlich im Gesicht des alten Mannes ab, dass sich mein Magen zusammenzieht.

Lucy spürt es auch und traut sich sogar, seine Hand zu berühren.

„Sie hat dich lieb und hat sich da neben dich auf die Bank gesetzt", sagt sie zu ihm. Seine Brust bebt wieder, er wendet sich zu der Seite, auf die meine Schwester gezeigt hat.

 „Komm, Lucy, wir gehen jetzt", meine ich leise. Denn dies ist nicht für unsere Augen und Ohren bestimmt. Der bedauernswerte Mann soll frei reden können. Aber der erwidert:

„Nein, Kleine, bitte bleib. Ich muss wissen, was sie sagt."

„Okay", höre ich Lucy erwidern.

Obwohl der Mann längst nicht mehr aggressiv oder gefährlich wirkt, will ich meine Schwester nicht mit ihm allein lassen. Darum entferne ich mich mit Josie nur außer Hörweite, um ihm etwas Privatsphäre zu geben. Behalte die beiden aber im Auge.

 Wir bekommen nicht mit, was gesprochen wird, aber es scheint sehr emotional zu sein. Der Alte lächelt und weint im Wechsel, dann streckt er sogar eine Hand aus, als wolle er jemanden umarmen. Während meine Schwester ihm ziemlich ruhig mitteilt, was Mariella äußert. Sie wirkt gerade so viel erwachsener als ihre acht Jahre. Total abgefahren.

Irgendwann stößt Mirko Herweger einen Seufzer aus, steht auf und beugt sich zu Lucy hinunter. Er sagt etwas zu ihr und streicht ihr dabei über den Kopf, dann geht er.

Als Lucy zu uns kommt, umarme ich sie und hebe sie hoch.

„Mariella hat mir gedankt und 'Lebt wohl' zu uns gesagt. Heißt das, dass sie jetzt weg ist? Und Zimti auch?"

„Ja, ich denke schon. Sie sind jetzt frei und glücklich", antworte ich, obwohl ich mich total durcheinander fühle. Dann flüstere ich ihr in einem Anflug von Zärtlichkeit ins Ohr: „Meine unglaublich mutige, kleine Schwester! Wie lieb ich dich hab!"

Josie lächelt, denn sie hat es gehört, und Lucy drückt mich ganz fest, bevor ich sie wieder auf dem Waldboden absetze.

Wir tauschen uns über das Erlebte aus, noch gefangen in den Eindrücken.

Dann vereinbaren wir, unseren Eltern nichts davon zu erzählen. Schon gar nicht, dass Lucy mit Geistern reden kann. Sie würden es nicht glauben.

Ich bin froh, dass meine Schwester der gleichen Meinung ist. Josie, sie und ich versprechen uns, dass es ein Geheimnis bleibt und Lucy schwört, dass sie sich nicht verplappern wird.

 

Tag 20

Lucy hat Mariella und Zimti seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Auch der alte Mann ist bisher nicht wieder aufgetaucht.

Meine Schwester hat eine neue Freundin gefunden, diesmal eine Echte, mit der sie sich super versteht. Das freut mich für sie und ich bin mir sicher, wenn sie nach den Ferien erst die Grundschule besucht, wird sie bald ganz viele Freunde haben.

Als Papa sie vor einigen Tagen beim Essen fragte, ob sie sich gar nicht mehr mit Mariella treffe, bin ich zusammengezuckt, aber sie hat nur erwidert: „Die wohnt nicht mehr hier. Sie ist mit Zimti jetzt bei ihrer Mama." Ja, sie ist echt klasse.

Samstag Abend werde ich mit Josie wieder ins Kino gehen, aber diesmal allein mit ihr, ohne die Clique, die mich gut aufgenommen hat. Ich glaube, ich bin ein wenig in Josie verknallt.

Zumindest denke ich viel an sie und habe jedes Mal Herzklopfen, wenn wir uns treffen. Und am liebsten würde ich sie küssen. Ich hoffe, dass sie ... ach, egal.

Auf jeden Fall finde ich es inzwischen ziemlich in Ordnung, dass wir hierher gezogen sind. 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2023

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