Es pochte an der Tür von Raum 04, dann trat ein junger Mann ein.
Der grauhaarige Polizist am Schreibtisch wandte die Augen vom PC-Bildschirm und musterte ihn.
»N'Abend, ich hab' Ihren Kollegen schon alles zum Vorfall im Park erzählt. Aber ich soll bei Ihnen noch einmal eine Aussage machen«, sagte der junge Mann.
»Ah, Sie sind das. Ja, zur Klärung des Sachverhalts und fürs Protokoll gibt es noch einige Fragen. Setzen Sie sich.«
Der Angesprochene kam der Aufforderung nach, stellte seinen Rucksack ab und fuhr sich durch den dunklen, dichten Haarschopf.
»Wie lautet Ihr vollständiger Name?«
»Andre Staskewicz«
»Andre mit oder ohne Strich über'm e?«
»Ohne accent aigu.«
Der Beamte presste bei der Belehrung kurz die Lippen zusammen, während er auf der Tastatur tippte.
»Buchstabieren Sie Ihren Nachnamen.«
»S-T-A-S-K-E-W-I-C-Z«
»Geboren wann und wo?«
»12.01.1989 in Krefeld.«
»Wohnhaft in?«
»Stuttgart-Wangen, Keplergasse 37.«
»Beruf?«
»Student. Biotechnologie und Geologie.«
»Konfession?«
»Keine.«
»Hm, verheiratet? Kinder?«
»Nein, weder noch.«
Der Polizist strich sich mit der Hand über seinen grauen Bart.
»Gut, und nun erzählen Sie, was Sie heute am frühen Abend beobachtet haben wollen.«
»Nicht ,beobachtet haben wollen', sondern was ich definitiv sah«, korrigierte der Student betont ruhig. Dabei musterte er das Namensschild auf der Uniform des Beamten.
»Also, Herr Schröder ... «
»Kommissar Schröder«, verbesserte der Beamte.
»Also, ich ging durch den Stadtpark. Normalerweise nehme ich nicht diesen Weg, aber wegen der Kirmes, und dann war heute auch noch ein Fußball-Heimspiel - das mag ich ja nicht, den Lärm, das Gedränge und wenn die vielen Betrunkenen auf den Straßen herumpöbeln, da erschien es mir angenehmer, durch den Stadtpa ...« –
»Bleiben Sie bei der Sache!«, unterbrach ihn der Beamte. »Um wie viel Uhr betraten Sie den Park?«
»Das war etwa um sechs Uhr herum. Ich ging Richtung Nordtor. Plötzlich verspürte ich eine merkwürdige Kälte, die zunahm, je weiter ich mich auf das Zentrum des Parks zubewegte. Ich habe irgendwann richtig gefroren, trotz meiner Daunenjacke! Sicher, wir haben schon Ende November, aber bisher ist es ja noch recht mild und diese Kälte war doch auffallend, wirklich extrem. Temperaturen um oder unter dem Gefrierpunkt, schätze ich. Ich versuchte, den Ausgangspunkt dieser Kälte zu orten und als ich durch eine Baumgruppe trat, sah ich mitten auf dem Rasen dahinter diesen riesigen Karton liegen ...«
»War zu der Zeit außer Ihnen noch jemand in der Nähe?«, fragte der Polizist dazwischen.
»Nicht, dass ich wüsste, hab' zumindest niemanden gesehen ... Warum liegt da ein herrenloses, riesiges Paket?, hab' ich mich gefragt. Ein großer, länglicher Karton ...«
»Die Maße in etwa?«
»Rechteckig, wohl so zwei Meter mal eins fünfzig. Da hätte eine große Kommode reingepasst oder eine von diesen Fitnessbänken ... oder ...«
»Ja, ja, schon gut«, unterbrach ihn der Kommissar erneut. »Ich kann's mir vorstellen. Und was taten Sie dann?"
»Ich war neugierig und bin hingegangen. Als ich direkt vor dem Paket stand, stellte ich fest, dass es wirklich die Quelle der Kälte war! Mein Atem bildete Wölkchen, das habe ich trotz der Dunkelheit wahrgenommen. Unheimlich. Vorsichtig zog ich den Karton oben an einer Lasche auf und schaute rein. Und bin erst mal zurückgezuckt ... Da leuchtete etwas darin! Kein hektisches Blinken, oder so, nein, ein bläuliches Leuchten, das stärker wurde - wieder weniger - stärker - irgendwie ... pulsierend, wie ein Herzschlag. Aber absolut geräuschlos. Kein elektronisches Summen oder Piepen.«
Der Beamte musterte ihn ausdruckslos, der junge Mann fuhr fort.
»Ich hab' dann meine Handy-Taschenlampe angeschaltet und in den Karton geleuchtet. Oha, hab' ich gedacht ...«
»Beschreiben Sie exakt, was Sie in dem Paket zu sehen glaubten.«
»Nun, das Ding war aus Metall, rundlich und glatt, vorne etwas bauchig und nach hinten schmaler werdend. Knapp zwei Meter mal einen Meter. Passte so gerade in den Karton. An einem Ende hatte es drei symmetrische, sagen wir – sternförmig nach außen strebende Ausbuchtungen. Die waren die Leuchtquelle. Das Material könnte Stahl gewesen sein. Aber genau kann ich das nicht sagen.«
Die Finger des Polizisten flogen über die Tastatur.
»Haben Sie das nicht fotografiert?«
Der Student zögerte kurz. Als sei ihm die Antwort unangenehm.
»Ja ... ich habe sogar mehrere Bilder von der Maschine im Karton gemacht. Aus verschiedenen Winkeln. Aber ... das ist ebenfalls äußerst mysteriös. Die Aufnahmen existieren nicht mehr.«
»Aha ...«, gab der Beamte mit seltsamen Unterton zurück. »Und wann stieß der andere Zeuge hinzu?«
»Der tauchte auf, als ich gerade mit meinem Handy in den Karton leuchtete. Stand plötzlich neben mir und fragte, was das ist. Er hat auch reingeguckt und dann haben wir bei der Polizei angerufen ...«
»Wer von Ihnen beiden hat den Anruf getätigt?«
»Der ältere Herr. Er nahm an, dass es sich um eine Bombe handelt!«
Kommissar Schröder wandte den Kopf vom Bildschirm, ihm zu.
»Und was dachten Sie, was das ist?«
Der Student zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich hielt es nicht für eine Bombe. Keine Drähte, kein sichtbarer Sprengstoff. Keine Zeitschaltuhr oder so was. Das Ding wirkte eher ... wie ein teures Star-Wars-Spielzeug oder so. Ist ja bald Weihnachten. Professionell gearbeitet, futuristisch, glatt und kompakt, wie aus einem SciFi-Film, wenn Sie wissen, was ich meine. Abgefahren.«
»Warum war der andere Zeuge nicht mehr vor Ort, als die Kollegen eintrafen?«
Der Polizist schaute ihn bei dieser Frage wieder scharf an.
»Weiß ich nicht. Er schien noch mehr Angst zu haben als ich, ist nach seinem Anruf wohl einfach abgehauen. Wann er verschwunden ist, hab' ich gar nicht gemerkt. Ich stand ja bei der Baumgruppe und behielt den Karton im Auge.«
»Laut der Beamtin in der Notrufzentrale hat der Mann, der um 18 Uhr 15 anrief, nichts von einem Karton, einem Gerät oder bläulichem Leuchten gesagt. Er meldete nur unter Angabe seines Namens, dass er sich im Zentrum des Stadtparks befände, große Gefahr bestünde, dass er Angst um sein Leben habe und sofort eine Streife kommen solle. Wie erklären Sie das?«
»Woher soll ich das wissen? Der Mann wirkte total panisch ... vielleicht ... vielleicht dachte er, wenn er die wahren Umstände schildert, würde man ihn für einen Spinner halten und keinen Wagen losschicken. Und dann war er plötzlich weg. Also wartete ich allein. Einer musste ja vor Ort sein, wenn die Polizei eintrifft, nicht?«
Der Kommissar schwieg und verzog keine Miene, tippte stoisch weiter.
»Und dann?«
»Also, das wurde immer seltsamer. Das Leuchten in dem Paket nahm zu. Oben, wo ich die eine Lasche ein wenig geöffnet hatte, drang mit einem Mal ein blaues Strahlen heraus, wie starke Laser ... Ich habe es nur aus der Entfernung betrachtet. Weil die Kälte, die von dem Karton ausging, unerträglich war, und außerdem hatte ich inzwischen eine Scheiß-Angst. Hätten Sie auch gehabt, oder?«
Der Polizist zeigte wieder keine Reaktion.
»Fahren Sie fort.«
»Während ich wartete, beobachtete ich das pulsierende Strahlen. Und dann wurde mir richtig mulmig zumute. Als der Karton sich plötzlich bewegte, dann hin und herwackelte. Erst konnte ich nicht erkennen, was zu dem Ruckeln führte, aber dann merkte ich, wie daraus kleine abgerundete Stangen hervorquollen. Die sahen alle gleich aus, um die zwanzig Zentimeter lang ...«
»So so, kleine Stangen also ...« Der Beamte zog die Augenbrauen hoch, er versuchte gar nicht mehr, seine Skepsis zu verbergen.
Der Student ignorierte das und fuhr unbeirrt fort: »Genau! Ich stand wie gelähmt und schaute zu, wie diese Stangen zu leben schienen, denn sie rollten ohne sichtbaren Antrieb eine kurze Strecke vom Karton weg. Einige bogen sich, damit sie in eine andere Richtung weiterrollen konnten und irgendwann stellten sie sich aufrecht hin und bohrten sich senkrecht der Länge nach in den Boden. Nach ein paar Sekunden tauchten sie wieder aus dem Rasen auf, aber sie schienen plötzlich sehr heiß zu sein. Jedenfalls leuchteten sie jetzt alle glühend rot ...«
»Glühend rot, aha.« Der Beamte verzog die Mundwinkel. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er kein Wort glaubte.
»Hören Sie, ich weiß, das klingt total absurd. Aber ich habe das wirklich beobachtet! Ich hatte inzwischen solche Panik, dass ich eigentlich weglaufen wollte, aber ich blieb stehen. Ich war ja der einzige Zeuge ...«
»Haben Sie vielleicht unter Angabe eines falschen Namens und mit verstellter Stimme den vermeintlichen Notruf abgesetzt?«
»Nein! Was soll diese Beschuldigung? Der ältere Mann hat angerufen. Und ich beschreibe Ihnen hier gerade so exakt wie möglich, was geschehen ist.«
»Gut. Dann fahren Sie fort.«
»Wo war ich stehengeblieben? ... Ach ja, bei den glühenden Stangen. Ich überlegte, was da wohl gerade abläuft und - auch wenn das für Sie jetzt wieder komplett verrückt klingt - ich kam zu dem Schluss, es müsse sich um eine Art außerirdische ferngesteuerte Wärmeenergie-Sammelstation handeln. Wieso aber dann die Kälte? Da rätselte ich. Doch auch dafür fand ich eine Erklärung. Ich stelle mir vor, dass die Kälte der Energiekompression dient und somit eine höhere Ladekapazität bewirkt. Natürlich kann meine Theorie auch falsch sein, aber eine plausiblere Erklärung habe ich nicht.«
Der Kommissar lehnte sich zurück und schwieg kurz, dann sagte er kühl:
»Sie wissen, dass da weder ein Paket, noch die von Ihnen beschriebene Maschine war, als die Beamten bei Ihnen im Park eintrafen? Erklären Sie das.«
»Ja, das war auch absolut schräg! Der Karton ging mit einem Mal in Flammen auf, bläuliche Flammen. Innerhalb von Sekunden ist er verbrannt. Und das Ding, dieses Gerät darin, war nicht mehr da! Ich bin - nachdem sich der Rauch verzogen hatte - vorsichtig ein paar Schritte auf die Stelle zugegangen. Hab' wieder mein Handylicht angeschaltet. Da waren nur Löcher im Boden, sonst nichts mehr! Nicht mal Asche. Aber ich habe den Streifenbeamten die Löcher gezeigt! Die sind doch auch ein Beweis ...«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Polizist tauchte im Türrahmen auf. Er zeigte Schröder mit einer Geste an, zu ihm auf den Flur zu kommen.
Der Kommissar erhob sich und schritt um den Schreibtisch herum zu seinem Kollegen. Sie steckten die Köpfe zusammen, der andere Polizist redete leise.
Dann drehte sich Kommissar Schröder um, straffte die Schultern und blickte den Studenten mit kalter Miene an.
»Herr Staskewicz, es gibt da eine neue Entwicklung. Die Ehefrau des alten Herrn, des vermeintlichen zweiten Zeugen, hat ihn als vermisst gemeldet. Sein Handy ist abgestellt und er ist nicht zu Hause eingetroffen. Laut seiner Frau ist er stets zuverlässig und nie zu spät daheim, denn er benötigt dringend und zu festen Zeiten Medikamente. Nimmt er die nicht ein, besteht Lebensgefahr. Da der Aufenthaltsort des Herrn nicht geklärt ist und er zuvor einen Notruf absetzte, dass er in großer Gefahr sei, nehme ich Sie in Untersuchungshaft, denn es besteht dringender Tatverdacht gegen Sie. Wir führen das Verhör morgen weiter, dann erhalten Sie auch Gelegenheit, einen Anwalt zu kontaktieren.«
Andre Staskewicz war bei diesen Worten erbleicht. Jetzt wurde seine Stimme lauter, hektischer.
»Nein! Damit habe ich nichts zu tun! Der Mann war doch einfach weggangen. Vielleicht ist er so durcheinander, dass er jetzt durch die Stadt irrt ... Mensch, ich merke ja, dass Sie mir alle nicht glauben! Aber ich schwöre, ich sage die Wahrheit! Hätte ich da im Park auf die Polizei gewartet, wenn ich dem alten Mann was angetan hätte? Nein, ich bin doch nicht irre!«
»Herr Staskewicz, erheben Sie ...«
»Da geht was vor sich!« Die Stimme des Studenten überschlug sich jetzt. »Was Gefährliches! Vielleicht haben diese Stangen etwas damit zu tun! Sie müssen was unternehmen. Wenn noch mehr von diesen Dingern hier auftauchen ... nicht nur hier in Deutschland, sondern vielleicht überall auf der Welt ... Da zapft irgendein Planet, der vielleicht durch eine Naturkatastrophe zu weit von seiner Sonne entfernt wurde, auf unserer Erde den Wärmeenergiespeicher an, um seine Bewohner vor dem Erfrieren zu bewahren und ...«
»Schluss jetzt, es reicht!«, schnauzte Schröder. »Stehen Sie auf, mein Kollege nimmt Ihnen jetzt Fingerabdrücke ab und danach bleiben Sie in Gewahrsam. Morgen werden Sie verhört.«
Als sich der Student mit zitternden Knien und fassungsloser Miene erhob, beugte sich der Kommissar vor und zischte ihm leise zu: »Ich habe Sie erst nur für einen wichtigtuerischen, aber harmlosen Spinner gehalten. Doch jetzt garantiere ich Ihnen: Wir werden herausfinden, was wirklich geschah. Damit kommen Sie nicht durch!«
Nachdem der junge Mann abgeführt worden war, tippte Kommissar Schröder sein Protokoll zuende. Dann fuhr er den PC herunter und bog mit einem Stöhnen den schmerzenden Rücken durch. Es war 23.30 Uhr.
,Schon wieder Überstunden', dachte er. ,Und morgen beginnt mein Dienst um 8.00 Uhr. Wird Zeit für die Pension, ich bin zu alt für diesen Mist.'
Müde erhob er sich, griff nach seiner Jacke und schaltete das Licht aus, ehe er das Präsidium verließ und auf dem Parkplatz in seinen Wagen stieg.
Am nächsten Morgen erschien Kommissar Schröder nicht zum Dienst. Er hatte sich aber nicht krankgemeldet. Das war bei dem als pflichtbewusst und zuverlässig geltenden Polizisten noch nie vorgekommen.
Zur gleichen Zeit schloss der Vollzugsbeamte Schneider die Zelle von Andre Staskewicz auf, um diesen vor seinem Verhör in den Speisesaal zum Frühstück zu geleiten. Schneider entfuhr ein überraschter Laut, als er feststellte, dass die Zelle leer war. Während er hektisch in sein Funkgerät sprach, bemerkte er, dass nicht nur der Häftling, sondern auch die dünne Matratze, das Kissen und die Decke auf der Pritsche aus Stein fehlten. Das nächste, was ihm auffiel, waren die vielen, wie von übergroßen Zigaretten gebrannten Löcher im Boden. Alle von gleichem Durchmesser.
Am selben Vormittag wurde der Wagen von Kommissar Schröder auf einer Wiese direkt neben der Bundesstraße 14 aufgefunden. Verlassen.
Zuerst nahmen die gerufenen Kollegen an, jemand hätte auf das Auto geschossen, mit einer großkalibrigen Waffe, denn die Karosserie wies an der Fahrerseite mehrere Löcher auf. Doch fanden sie weder Blutspuren noch Projektile, die die Tür durchschlagen hatten. Von Kommissar Schröder fehlte jede Spur.
Wie auch von dem aus der Zelle verschwundenen Andre Staskewicz, der mit Schröder am Abend zuvor gesprochen hatte.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, setzte sich ein Kollege an Schröders PC. Er wollte das Protokoll des letzten Falles aufrufen. Mögliche Hinweise erhalten.
Die Augen des Polizisten weiteten sich, als er feststellte, dass alle Dateien auf der Festplatte gelöscht worden waren ...
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2022
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