Jemand pochte an die Haustür. Rupert schaute von seiner Staffelei hoch.
Es klopfte ein weiteres Mal, diesmal etwas lauter. Wer war das? Er erwartete niemanden und wollte auch nicht gestört werden.
Mit einem genervten Seufzer erhob er sich vom Hocker, schlurfte zur Wohnungstür und zog sie auf. Blickte ins Leere. Um sich zu vergewissern, streckte er den Kopf in den Hausflur, schaute nach links und rechts. Niemand zu sehen.
Er lauschte, aber außer seinem eigenen Atem hörte er kein Geräusch. Weder vernahm er Schritte im Treppenhaus, noch das Klappen einer Tür.
Argwöhnisch runzelte er die Stirn. So lange hatte er jetzt auch nicht gebraucht, um zu öffnen. Möglicherweise hatte ein Nachbar geklopft und es sich dann doch anders überlegt. Waren ja fast alles Leute, die noch älter waren als er. Die wurden wohl langsam senil ...
Rupert schloss die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dies war ein rechteckiger Raum mit einem großen Erkerfenster, hier bot sich immer perfektes Licht zum Malen. Deshalb stand dort seine Staffelei mit dem weichgepolsterten Schemel davor. Daneben ein Servierwagen, auf dem die Farben, Pinsel, Lappen und die Mischpalette bereitlagen.
Wenn er vor seiner Leinwand saß und durch das Fenster hinausschaute, konnte er den Wald sehen und am Horizont die Berge, deren weiße Gipfel hoch in den Himmel ragten. Eine erhabene, inspirierende Szenerie, die er täglich genoss.
Seine Wohnung in dem Jugendstilhaus hatte er vor Jahren von seinen Eltern geerbt. Das schöne Gebäude lag an einer kleinen Kreuzung. Wenn er diese überquerte und die Gasse an den Einfamilienhäusern entlang spazierte, gelangte er in kürzester Zeit zum Waldrand.
Die Straßen wurden wenig befahren, das Wohnviertel war äußerst ruhig. Für Rupert neben der frischen Luft einer der Vorteile, in dieser kleinen Ortschaft zu leben.
Als rüstiger 70-Jähriger verspürte er Zufriedenheit. Endlich, nach den vielen anstrengenden Jahren als Lehrer an einer Realschule, genoss er die Ruhe, die Abwesenheit von Lärm und lautem Geschrei. Er war kinderlos und geschieden, seine Frau hatte vor einem Jahrzehnt ein neues Leben mit einem anderen Mann begonnen.
Jetzt saß Rupert wieder auf dem Hocker und versank im Anblick der Berge und in seinen Gedanken. Da er gerade an Gisela gedacht hatte, versuchte er sich vorzustellen, wie es wäre, den Ruhestand doch gemeinsam mit seiner ehemaligen Frau zu verbringen. Ob sie überhaupt noch lebte …?
Ein neuerliches Klopfen riss ihn aus den Grübeleien, irritierte ihn. Gerade, als er sich fragte, ob er öffnen sollte, pochte es abermals.
Erlaubte sich da ein Spaßvogel einen Scherz mit ihm? Es wohnten doch gar keine Kinder im Haus ... Rupert spürte Wut in sich aufsteigen, erhob sich und diesmal hastete er zur Tür. Doch als er sie aufriss, lag der Flur verwaist und still wie zuvor.
„Hallo?“, erhob er die Stimme. Keine Antwort. Bebend vor Zorn wollte er die Tür zuknallen, da vernahm er doch etwas.
„Herr Bellmann?“, fragte eine Männerstimme unten im Treppenhaus.
„Ja, was möchten Sie denn?“, gab Rupert etwas ungehalten zurück. Er spähte über das Treppengeländer hinunter und sah den jungen Postboten im Eingangsbereich stehen.
„Gut, dass Sie da sind. Ich habe ein sehr großes und schweres Paket für Frau Müller, die scheint aber nicht zu Hause zu sein. Könnten Sie das annehmen?“
Frau Müller war die alte, gebrechliche Dame, die im Erdgeschoss wohnte. Rupert begegnete ihr gelegentlich im Treppenhaus, man grüßte sich. Er wünschte zu keinem der Nachbarn engere Bekanntschaft, aber er legte Wert auf sein Ansehen bei ihnen, daher antwortete er:
„Stellen Sie das Paket vor ihre Tür. Muss ich dafür unterschreiben?“
„Ja, wenn Sie die Güte hätten, herunterzukommen?“
Ärgerlich verzog Rupert das Gesicht und stieß einen leisen Fluch aus. Die jungen Leute von heute waren wirklich unmöglich! Erst klopfte dieser Knabe mehrmals, um sofort wieder zu verschwinden, und jetzt wurde er, der Ältere, auch noch aufgefordert, die Treppe hinunter zu kraxeln ...
Doch er zügelte sich. Er wollte es sich auch nicht mit dem jungen Mann verscherzen, der ihm seine größeren Internetbestellungen immer in die Wohnung hinauf trug, ihm auch schon einmal die Klospülung und eine Lampe repariert hatte. Also schritt er die Stufen hinab, ergriff den Stift und unterschrieb auf dem elektronischen Gerät.
„Danke, Herr Bellmann, dann muss ich das Riesenpaket nicht wieder ins Auto schleppen. Ach, hier ist Ihre Post.“ Er reichte Rupert einige Umschläge und eine Werbebroschüre.
„Schönes Wochenende!“ Der Postbote nickte ihm zu und verschwand auf die Straße hinaus, die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
,Na, dann herrscht wohl endlich wieder Ruhe', dachte Rupert und erklomm die zwei Treppen.
Umso erstaunter war er, als er beim Betreten des Wohnzimmers einen älteren Herrn erblickte, der neben seiner Staffelei stand. Wo kam der denn plötzlich her?
„Guten Tag, mein Lieber“, sprach der Fremde, „wie schön, dass ich dich antreffe.“
Rupert ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken, zog jedoch bei der vertraulichen Begrüßung konsterniert die Augenbrauen hoch.
Hatte statt des Postboten dieser Mann mehrfach geklopft, sich versteckt und dann in die Wohnung geschlichen, als er unten gewesen war? Neuerlich spürte Rupert heißen Zorn in sich aufwallen. Wenn der Kerl jetzt keine plausible Erklärung abgab, konnte der was erleben ... Was war das doch für ein seltsamer Tag!
Während ihm das durch den Kopf ging, musterte er den etwa gleichaltrigen Mann, der harmlos wirkte, schlicht aber gepflegt gekleidet war. Auf seinem Kopf saß eine braune Schiebermütze, passend dazu trug er eine braune Windjacke. Eine dunkelgraue Hose und ein cremefarbenes Hemd rundeten das Bild des typischen Rentners ab.
Der mittelgroße Herr von magerer Statur lächelte ihn nach wie vor freundlich an. Auch sein Gesicht wirkte hager, zeigte aber viele Lachfältchen um die strahlendblauen Augen, die ihn aufmerksam betrachteten.
Moment, diese Augen kamen Rupert irgendwie bekannt vor. Er kramte in seinem Gedächtnis.
Der ungeladene Gast schien das zu bemerken. „Sag bloß, du erkennst mich nicht?“
Das Lächeln wurde zu einem verschmitzten Grinsen, das ihm etwas Jungenhaftes verlieh.
„Ich bin’s, Steffen Pfeifer. Wir haben unsere Kindheit zusammen verbracht.“
Ruperts Augen weiteten sich. Jetzt kehrten Erinnerungen zurück. Das Bild eines schmächtigen Jungen mit dünnem, mausbraunem Haar stieg in ihm auf, mit dem er immer gespielt und gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte, bis dessen Familie aus dem Ort weggezogen war.
„Steffen!“, rief er aus, „wie ...“
Er brach ab, da er sich an seine früher erlernten, kaum noch angewandten Manieren erinnerte.
„Setz dich doch!“ Er wies auf den Esstisch. Der Freund aus Kindertagen nahm Platz.
„Möchtest du einen Kaffee oder Tee? Ein Glas Wasser?“, fragte Rupert. Ein ungewohnt warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Das nahm er leicht verwundert zur Kenntnis. Hielt er sich doch für alles andere als sentimental, Gefühlsduseleien lehnte er ab. Aber es war nicht unangenehm, gerade derartig zu empfinden.
So viele Jahre hatte er Steffen nicht gesehen und gesprochen, ja, nicht einmal mehr an ihn gedacht.
Das letzte Mal hatte er vor einigen Jahren vom einstigen Freund gehört. Damals hatte der ihm überraschend einen Brief geschrieben, darin auch um ein Treffen gebeten.
Gesundheitlich war es Steffen zu der Zeit wohl nicht gut gegangen, wie Rupert sich zu erinnern glaubte, und etwas wie ein schlechtes Gewissen stieg in ihm auf – ebenfalls ein ungewohntes Empfinden – da er nicht auf das Schreiben geantwortet hatte.
Deshalb erstaunte es ihn, dass Steffen jetzt bei ihm aufgetaucht war. Sein Gast lehnte die Getränke freundlich ab.
„Hab nicht viel Zeit“, erklärte er. „Ich war hier in der Gegend, um meine Tochter zu besuchen. Und da dachte ich mir, ich schau auch bei dir vorbei, um zu sehen, ob du noch hier wohnst, wie es dir geht.“
Interessiert guckte er sich im Wohnzimmer um, betrachtete das Landschaftsbild auf der Staffelei, während sich Rupert zu ihm an den Tisch setzte. Die Post, die er in der Hand hielt, legte er auf den kleinen Beistelltisch.
„Du malst, schönes Hobby. Den Ausblick hast du exzellent eingefangen, Kompliment! Aber du warst ja früher schon sehr talentiert“, lobte Steffen.
„Danke. Ja, seit ich Pensionär bin, male ich jeden Tag.“ Rupert räusperte sich. Er hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen.
„Du, es tut mir leid, dass ich mich gar nicht ...“
„Lass gut sein, alter Freund“, fiel ihm Steffen freundlich ins Wort. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Keiner umgibt sich gerne mit kranken Menschen, vor allem nicht, wenn man die ewig nicht gesehen hat, sie nicht zur Familie gehören. Das verstehe ich.“
Auf Ruperts Gesicht breitete sich ein ehrliches, warmes Lächeln aus. Ja, das war der Steffen, wie er ihn von früher kannte. Als Junge hatte er sich schon nie nachtragend gezeigt, weder ihm, dem forscheren und eigennützigeren Rupert, noch sonst irgendwem gegenüber. Stattdessen war er stets darauf bedacht, immer das Gute in allem zu sehen. Das war einer der Gründe gewesen, warum Rupert ihn gern um sich gehabt hatte.
Sie unterhielten sich eine Weile, vor allem über Erlebnisse aus Kindertagen und schwelgten in Erinnerungen. Doch allzu bald erhob sich Steffen, um sich zu verabschieden.
„Es war wirklich schön, dass ich dich getroffen habe.“
„Ich werde dir schreiben, versprochen", beteuerte Rupert. „Diesmal tu ich's, und dann werde ich bald deinen Besuch erwidern.“
Rupert war etwas verwirrt, als Steffen einen Moment zu lange schwieg. Als glaubte er das nicht. Doch dann lächelte er wieder und sagte: „Ich freue mich darauf, wenn wir uns wiedersehen. Wann immer das sein mag.“
Rupert verstand dies als Mahnung, mit dem Besuch nicht zu lange zu warten. Obwohl er sonst die Ruhe und das Alleinsein schätzte, hatte er Steffens Anwesenheit, ihre Unterhaltung, wirklich genossen.
Er geleitete den Freund zur Tür, zog sie für ihn auf und sah ihm nach, bis er die Treppe hinab verschwand.
Neben der Freude war Rupert auch etwas durcheinander. Zurück im Wohnzimmer war ihm nicht mehr nach Malen zumute. Stattdessen setzte er sich in seinen gemütlichen Ohrensessel und dachte über das Gespräch nach, das er mit Steffen geführt hatte.
Endlich streifte er die Verwirrung ab und gestattete sich seit Langem mal wieder eine glückliche Gelöstheit zu verspüren. Er lehnte sich im Sessel zurück und überlegte sich die Worte für den Brief, den er noch heute schreiben würde.
Kein weiteres Mal wollte er unzuverlässig und ignorant Steffen gegenüber sein. Das hatte er nicht verdient. Wo war denn das Briefpapier ... ? Bei diesem Gedanken fiel sein Blick auf den Stapel Briefe auf dem Beistelltischchen.
,Mal schauen, ob was Wichtiges dabei ist‘, dachte er und griff nach der Post, begann, sie durchzusehen.
Bei einem cremefarbenen Umschlag hielt er inne. Der Name der Absenderin war ihm unbekannt. Neugierig riss er das Kuvert auf, zog eine Karte heraus und öffnete sie.
Rupert erstarrte, zeitgleich wurde ihm kalt.
„Unmöglich", ächzte er, während sich in seinem Magen ein Eisklumpen bildete, Gänsehaut seine Arme überzog.
Die Welt um ihn herum schien einzufrieren.
Auf die Trauerkarte war ein Foto gedruckt, darauf lächelte ihn der Mann an, der ihm gerade noch gegenüber gesessen hatte.
Der vor einer Woche nach langer, schwerer Krankheit verstorben war.
Rupert presste sich die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien ...
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2022
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