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Es war Ostersonntag, doch das Wetter erinnerte eher an die Weihnachtszeit. Gut, dass meine Familie schon am Gründonnerstag bei besseren Straßenverhältnissen angereist war. Denn am Karfreitag hatte es einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch gegeben, der Winter war zurück. Draußen fuhr ein eisiger Wind über die Straßen und heute morgen hatten die Kinder, dick eingemummelt, die Ostereier im verschneiten Garten gesucht.

Mein Haus war ein altes Gemäuer aus dem 18. Jahrhundert. Die Leute im Dorf nannten es das Hexenhaus, wegen des schiefen Schornsteins und der kleinen, krummen Fenster. Im Wohnzimmer gab es einen offenen Kamin, vor dem ein großer rustikaler Tisch aus Eichenholz stand.

 Jetzt betrachtete ich die darum Versammelten: Meinen Sohn Bennet, den umtriebigen Ingenieur, der in Berlin lebte. Er war wieder einmal Single und deshalb allein angereist. Meine stillere Tochter Isa, die mit ihrer Familie im Nachbarort wohnte und einiges an Gewicht verloren hatte, was mich besorgte.

Neben ihr saß mein Schwiegersohn Thomas, den ich sehr schätzte wegen seiner ruhigen, angenehmen Art und seiner Liebe und Fürsorge für Isa und die Kinder.

Beim Anblick von Joshua, meinem achtjährigen Enkel, zog sich mein Herz zusammen. Der Junge war blass und hatte dunkle Schatten unter seinen Augen. Joshua war sehr krank gewesen. Die Diagnose Leukämie vor zwei Jahren schockierte die ganze Familie. Die gute Nachricht war, dass der Blutkrebs dank moderner Therapiekonzepte geheilt werden konnte, Joshua schien endlich über den Berg, aber noch ziemlich schwach.

Als mein Blick zur kleinen Merle mit den blonden Rattenschwänzchen weiterwanderte, hellte sich meine Stimmung wieder auf.

„Oma, du musst noch einen Teller und Besteck hinlegen", sagte sie, als unsere Blicke sich trafen und ich sie anlächelte.

„Weshalb, mein Schatz? Wir sind doch nur zu sechst", fragte ich.

„Es kommt noch jemand", gab meine Enkelin mit geheimnisvoller Miene zurück. „Vielleicht ist es Opa."

Ich presste die Lippen zusammen, um nicht scharf einzuatmen. Schaffte es auch, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Letztes Jahr war Erik, mein geliebter Mann, gestorben und ich vermisste ihn sehr. Dass die Kleine sich anscheinend auch so nach ihm sehnte, das hatte ich nicht gewusst.

„Mäuschen, Opa kann uns nicht besuchen", sagte ich leise.

„Bitte, Oma, ich weiß, dass er noch kommen wird", beharrte sie. Wir Erwachsenen am Tisch wechselten fragende Blicke, wie wir mit Merles Bitte umgehen sollten. Da der Sechsjährigen das offensichtlich zu lange dauerte, stand sie selbst auf und holte einen weiteren Teller, ein Glas und Besteck.

Auf dem Tisch lagen nun sieben Gedecke - eines davon für den Gast, den niemand außer meiner Enkelin erwartete.

Die Standuhr schlug sieben Uhr, als wir zu essen begannen. Zuerst tischte ich die Festtagssuppe auf. Danach den Lammbraten mit Beilagen, zum Schluss würde es die Ostertorte und das Eis für die Kinder geben. Ein angenehmer Duft durchzog das ganze Haus, während wir aßen, schwatzten und lachten.

Es störte uns nicht mehr, dass die Witterung draußen viel zu kalt war. Das Feuer im Kamin knisterte und auch das Licht der Kerzen verbreitete eine heimelige Stimmung.

Ich schnitt gerade die Torte an, als plötzlich ein dumpfer Schlag an der Tür ertönte. Ich hielt in der Bewegung inne und richtete mich auf. Noch einmal pochte es.

Verblüfft über das unerwartete Klopfen wandten wir alle die Köpfe und ich erhob mich, um nachzusehen, wer da etwas von mir wollte. Als ich die Haustür aufzog, wehte ein eiskalter Windstoß an mir vorbei in Richtung meiner Familie und löschte einige der Kerzenflammen aus.

Was meine Augen dann wahrnahmen, raubte mir den Atem. Auf der untersten Stufe der Treppe stand ein ausgemergelter alter Mann in einem schwarzen Mantel. Erst, als er die Kapuze vom kahlen Kopf zog, sah ich, dass es nicht Erik war, sondern ein Fremder. Er erwiderte meinen Gruß nicht, als ich ihm einen guten Abend wünschte.

„Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte ich. Vielleicht ging es um eine Autopanne oder gar einen Unfall. Aber wieder erhielt ich keine Antwort und fröstelte in der eisigen Luft. In seiner linken Hand hielt der Alte ein Stück Papier.

„Ich habe einen Auftrag zu erfüllen, der keinen Aufschub duldet", sagte er endlich.

„Was für einen Auftrag wollen Sie am Ostersonntag erledigen?", wollte ich etwas gereizt wissen, auch, weil er ein unfreundlicher Geselle zu sein schien. „Hat das nicht bis nach den Feiertagen Zeit?"

Kaum hatte ich das ausgesprochen, drängte er sich ohne Worte an mir vorbei ins Haus. So rasch, dass ich ihn nicht aufhalten konnte. Er brachte die Kälte mit hinein, sie durchströmte nicht nur mich, sondern das ganze Kaminzimmer, dessen Feuer kaum die Kraft hatte, dagegen anzuwärmen.

Es war so still, dass man allein das Knacken der Holzscheite hörte. Alle starrten ihn an.

„Das ist nicht Opa", flüsterte Merle mit großen Augen und Isa legte den Arm um sie. Thomas rückte instinktiv näher an Joshua heran, dessen Lippen zitterten.

Der alte Mann war unheimlich, er sollte gehen, denn etwas Düsteres ging von ihm aus, das mich weiter frieren ließ, obwohl ich die Haustür geschlossen hatte.

„Sagen Sie uns jetzt bitte, was so dringend ist, dass es keinen Aufschub duldet", forderte ich ihn mit schärferer Stimme auf, in der jedoch meine Furcht mitschwang.

Jetzt wandte er den Kopf, blickte mich an und ich versteinerte, denn seine Augen schimmerten blassgrau, leer und kalt. Wie Flusskiesel.

„Ich bin hier, um jemanden zu holen, dessen Name auf meiner Liste steht."

Isa entfuhr ein Keuchen. Bennet schob seinen Stuhl zurück und sprang auf. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.

„Das soll wohl ein schlechter Scherz sein, was?", knurrte mein Sohn. „Oder sind Sie dement? Nicht ganz bei Trost? Sie gehen jetzt, aber sofort!"

„Sie machen den Kindern Angst", fügte der sanftere Thomas hinzu.

Der unheimliche Besucher ignorierte die beiden Männer, fixierte weiter nur mich und die Kälte prickelte unangenehm durch meine Glieder, wie Stromstöße.

„Wie meinen Sie das?", wisperte ich.

„Ihr wisst, wer ich bin und ich nehme jetzt die Person mit, deren Name ganz oben auf meiner Liste steht."

Ein erschrockenes Raunen entwich den Mündern meiner Familie, während ich zu einer Salzsäule erstarrte, unfähig, die Worte, die meine Ohren gerade wahrgenommen hatten, geistig zu verarbeiten. Zeitgleich keimte eine schmerzhaft nagende Ahnung in mir auf. Joshua. Die Leukämie ... Ich betrachtete meinen Enkel mit Sorge.

Doch der Tod belehrte mich eines Besseren.

„Nein, nicht ihn soll ich holen, sondern dich." Er zeigte mit dem Finger auf mich.

 Am Rande nahm ich wahr, dass sich Isa die Hand vor den Mund presste, Bennet mit wütendem Gesicht auf den Alten zutrat, dass Thomas aufstand und die Kinder mit sich hochzog, wohl, um sie aus dem Zimmer zu bringen.

Der Tod hob eine bleiche Hand und die Zeit fror ein. Die Bewegungen meiner Familie, ihre Gesichtausdrücke, das Feuer im Kamin - alles erstarrte. Was blieb, war eine Szenerie wie auf einem Foto. Nur der Alte und ich waren noch zu Handlungen und Worten fähig.

Ich hörte meinen eigenen Herzschlag dröhnen, meinen keuchenden Atem. Meine Gedanken überschlugen sich. Das konnte doch nicht wahr sein!

Hatte ich nur einen schlimmen Traum und würde gleich erwachen? Ich musste einen Ausweg finden ... Der Tod streckte die Finger nach mir aus, doch bevor er mich berührte, traf ich eine Entscheidung und sagte:

„Bitte, gesellen Sie sich zu uns und kosten von unseren bescheidenen Speisen. Sehen Sie, wir haben bereits für Sie gedeckt. Gewiss muss ich nicht sofort sterben. Seien Sie so freundlich, mir dieses letzte Mahl im Kreise meiner Familie zu gewähren und es heute Abend mit uns zu genießen."

Einen Moment, der mir in der absoluten Stille wie eine Ewigkeit erschien, schaute er mich nur emotionslos an. „Es muss heute geschehen, Verzögerungen dulde ich nicht."

Mein Magen sackte herab, ich spürte einen Stich im Herzen, Verzweiflung, und suchte nach Argumenten, die ich vorbringen konnte.

„Aber -", kam er mir zuvor,  „ich kann mich für kurze Zeit der Runde anschließen."

Gesagt, getan. Kaum hatte er Platz genommen, hob er die Hand und die Zeit lief weiter, die zuvor eingefrorene Szenerie erwachte wieder zum Leben.

Ehe Bennet noch handgreiflich werden konnte, klärte ich meine Familie über die Begebenheit auf, dass der Herr jetzt unser Gast war und zum Essen bleibe und wir diesen gemeinsamen Moment genießen sollten.

„Danach werde ich ihn dann ... hinausbegleiten, das ist unabwendbar", sagte ich mit bedeutungsvoller Miene zu den Erwachsenen. Die Worte Tod und sterben mochte ich vor den Kindern nicht ausprechen. Aber Bennet, Isa und Thomas verstanden mich auch so. Das war alles so surreal.

Unglaube. Entsetzen. Mitleid. Trauer. Kampfeswille. So viele Gefühle las ich aus ihren Gesichtern und Gesten.

Mit zitternden Händen machte ich mich daran, die Sahnetorte zu verteilen und für Gevatter Tod etwas Lamm und Gemüse auf dem Teller zu drapieren.

Danach griff ich nach der Flasche auf dem Tisch, einem kräftigen, blutroten Wein aus Bordeaux, und nahm ihn mit in die Küche, wo der Korkenzieher lag.

Allein der unheimliche Alte begann das Mahl zu kosten, wie mir ein Blick ins Kaminzimmer zeigte. Meine übrigen Gäste saßen wie Schaufensterpuppen am Tisch und waren kaum in der Lage, miteinander Worte zu wechseln. Ihre Blicke huschten wie kleine, ängstliche Tiere vom einen zum anderen.

In der Küche suchte ich hastig nach der Flasche Narcotan, einem äußerst wirksamen, geschmacksneutralen Schlafmittel, das mir in der Zeit nach Eriks Verlust verschrieben worden war.

Als ich ins Kaminzimmer zurückkehrte, stieß ich auf das Leben an und alle erhoben trotz ihrer Anspannung die Gläser, um es zu entgegnen. Sogar der Tod. Er hielt sein Glas am höchsten.

In einem Moment vermeintlicher Unachtsamkeit stieß ich mein Glas um. Der Wein ergoss sich auf seinen schwarzen Mantel und der Tod begann mit einer Serviette darauf herum zu tupfen. Rasch leerte ich, während er abgelenkt war, den gesamten Inhalt des Fläschchens in sein halbvolles Glas. Meine Kinder beobachteten mein Tun, Isa mit geweiteten Augen, und ich forderte sie auf, endlich die Torte zu kosten.

„Thomas, bringst du bitte die Kinder zu Bett? Es ist schon spät", sagte ich zu meinem Schwiegersohn. Die Kleinen hatten schon genug mitbekommen. Niemand wusste, was noch Beängstigendes passieren würde ... Davor mussten wir sie schützen. Thomas folgte meiner Bitte und der Tod hatte keine Einwände. Kurz darauf kehrte mein Schwiegersohn mit bleicher Miene an die Tafel zurück.

Im Folgenden bat ich immer wieder um einen Toast, dem alle nachkamen. Am Tisch herrschte eine Stimmung, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Jede Beerdigung hatte mehr Atmosphäre als dieser abendliche Ostersonntag.

Allmählich leerten sich unsere Gläser, auch das des Todes. Ich betete, dass das Schlafmittel wirken möge. Vielleicht war jemand wie er immun dagegen ... Nein, es würde ein Wunder geschehen, redete ich mir gut zu. Meine Angst ließ das Unwahrscheinliche, ja, das Unmögliche, plausibel erscheinen!

Nach einer Weile blinzelte der Alte, dann geriet sein Oberkörper ins Schwanken, eine Sekunde später klappte er vornüber und sein kahler Kopf ruhte auf dem Tisch.  Er war wahrhaftig im Reich der Träume, das Reich des Todes war ja höchstwahrscheinlich ausgeschlossen.

Ich betrachtete dies als meine Chance, wenn es überhaupt eine für mich gab.

Um meiner Familie den Anblick des unheimlichen Gastes etwas zu ersparen, zog ich ihm die Kapuze über den Schädel.

Jetzt hieß es handeln, um mein Leben zu retten. Ich entwand ihm die Liste aus den kalten, knochigen Fingern, auf der zahlreiche Namen standen. Zwei waren mir sogar bekannt, denn diese Leute wohnten in meinem Dorf. Der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben, doch ich hatte keine Zeit zu verlieren. Gevatter Tod konnte bald wieder das Bewusstsein erlangen. Isa schluchzte leise. 

„Weshalb will der dich holen, Mama? Bist du krank?", presste sie unter Tränen hervor.

„Ich weiß es nicht, Liebes, aber ich fühle mich überhaupt nicht krank. Vielleicht ist es ein Irrtum ... der Tod reißt ja auch vollkommen Gesunde aus dem Leben", murmelte ich.

„Was hast du vor?", brach auch Bennet sein Schweigen.

Statt zu antworten, konzentrierte ich mich und löschte meinen Namen auf dem Papier, indem ich es so lange über die Kerze hielt, bis die Buchstaben unleserlich wurden. Ich hörte rechtzeitig auf, bevor die Flamme das Blatt durchbrechen konnte. Auf die gleiche Weise schwärzte ich die Namen der beiden Menschen, die mir lieb waren, denn auch sie hätten zukünftig die Bekanntschaft mit diesem Lebensräuber gemacht.

Allmählich begannen auch meine Kinder Hoffnung zu schöpfen, so wie ich. Das merkte ich ihnen an.

Da es mir unmöglich schien, dem Tod im Allgemeinen zu entkommen, setzte ich meinen Namen schließlich an das Ende der langen Liste. Eine klägliche Chance - aber immerhin eine. Wie viel Zeit würde mir das vielleicht verschaffen?

„Meine Lieben, ab jetzt muss ich allein weitermachen", flüsterte ich. „Ihr geht jetzt auf eure Zimmer. Alle ..." Bennet setzte zu einem Protest an, doch ich fiel ihm leise ins Wort. 

„Keine Widerrede. Ich schaff' das schon. Gute Nacht und - bis morgen."

Im Stillen wünschte ich mir inbrünstig, dass dies auch stimmte und umarmte meine Kinder, unterband ihre gewisperten Einwände mit Nachdruck. Nachdem wir uns unter verstohlenen Tränen und zärtlichen Worten verabschiedet hatten, blieb nur ich im Zimmer zurück. Mit dem schlafenden Tod.

Die Standuhr tickte, das Feuer im Kamin flackerte seinem Ende entgegen und ich betete für ein Wunder. Verspürte Angst, denn wenn der Tod wirklich allwissend war, dann würde er auch meine List durchschauen. Was mich dann erwartete, wollte ich mir nicht ausmalen ...

Nach einiger Zeit kehrte der Dunkle aus Morpheus' Armen zurück und fragte mich, wo denn meine Gäste geblieben seien, was passiert sei.

„Ich fürchte, Sie haben den Wein nicht vertragen und deswegen ein wenig geschlafen. Meine Gäste haben sich in der Zwischenzeit zurückgezogen und ich habe auf Ihr Erwachen gewartet."

Ihm war der ganze Vorfall offensichtlich peinlich und er versuchte, die Fassung zu bewahren. Er unterstrich, dass er schon lange nicht mehr so gastfreundlich empfangen worden sei,  er wäre ganz andere Begegnungen und Behandlungen gewohnt.

„Und ich habe selten so gut getrunken und gegessen", beteuerte er, was mich Hoffnung auf einen guten Ausgang schöpfen ließ.

Er bedankte sich überschwänglich bei mir.

Dann sagte er: „Ich möchte dir meine Wertschätzung dafür zeigen - denn so viel Freundlichkeit wurde mir nie zuvor zuteil."

Ich schaffte es, ihn anzulächeln, meine Zuversicht stieg, und er nickte mir zu.

„Zum Dank für deine Gastfreundschaft werde ich zuerst die Person mitnehmen, die ganz unten auf der Liste steht."

Mein Lächeln erstarb, als er seine Hand auf meine legte. Die Berührung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und schickte knisternde Eispartikel durch meine, hinein in meine Brust, umfasste kalt mein Herz.

Ich rang nach Atem.

Mit einem Schlag erlosch das Feuer im Kamin wie die letzten Kerzenflammen.

Und alles um mich herum versank in unendlicher Stille und Schwärze.

 

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Tag der Veröffentlichung: 11.04.2023

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