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„Komm jetzt raus!", rief Pedro zum zweiten Mal.

„Es ist so schön hier drin!“, antwortete der Junge und tauchte unter Wasser. Aber dann folgte er endlich der Anweisung und schwamm ans Ufer, kletterte aus dem Fluss und lief auf den alten Fischer zu.

Pedro betrachtete ihn, seine geschmeidigen Bewegungen. Wie groß er geworden war! Und er erinnerte sich wieder an diesen Abend vor zehn Jahren, als er den Jungen am Fluss gefunden hatte. In der Dämmerung hatten dichte Nebelschwaden über dem Wasser und dem Strand gehangen. Pedro hatte vor seinem Haus eine Pfeife geraucht, als er das Kind am Ufer ausmachte. Nackt und mutterseelenallein. Der Kleine hatte gezittert, konnte Pedros Fragen nicht beantworten, hatte ihn nur stumm mit großen, braunen Augen angeschaut.

Der alte Fischer, den man im Dorf für einen wortkargen Griesgram hielt, lebte allein und er hatte nicht vorgehabt, den Jungen bei sich aufzunehmen.

Deshalb brachte er ihn zum Haus seines Nachbarn, dem Fischer Luis. Dessen Frau musste eine große Familie versorgen, doch als sie das verlassene Kleinkind sah und von Pedro hörte, wie er es aufgefunden hatte, floss ihr das Herz über vor Mitleid.

„Ach, du armes Würmchen, für dich haben wir auch noch Platz", hatte sie gesagt und die Hand nach dem Kind ausgestreckt. Der Findeljunge aber hatte sich an Pedro gedrückt, dessen Bein fest umklammert und er war durch nichts von dem alten Mann wegzubringen gewesen.

Obwohl Pedro sich erst sträubte, war das Kind bei ihm geblieben und er hatte es Milo genannt.

Jetzt hatte der Junge ihn erreicht, etwas außer Atem, weil er so schnell gerannt war.

„Ich weiß, dass du das Wasser liebst", sagte Pedro und legte ihm das Handtuch um die Schultern. „Aber es macht mir Sorgen, dass du ständig im Fluss bist.“

Milo hatte wieder mehrere Stunden in den Fluten des Calanmiel verbracht. Der Fluss ergoss sich unweit in das Delta do Parnaíba, um Meilen weiter mit seinen Nebenläufen ins Meer zu fließen.

Das Land hier war fruchtbar und flach, die Flussbänke weitläufig. Sie bestanden meist aus feinem weißen Quarzsand. Das klare Wasser mischte sich mit dem Salzwasser des Meeres zu einer blaugrünen Melange.

„Wie oft muss ich dir noch sagen: Weiter draußen ist es gefährlich!“, mahnte Pedro den Jungen. „Wenn man sich zu weit wagt, verschlingt der Fluss einen. Nixen und Wassermänner holen dich dann ins Meer und es gibt keine Wiederkehr.“

„Aber Onkel Pedro“, widersprach Milo. „Ich habe keine Angst vor diesen Märchen.“

„Und vor den Wasserschlangen?“

„Auch vor denen nicht. Außerdem habe ich noch nie welche gesehen.“ Der Junge zog eigensinnig die Brauen zusammen, aber nur kurz, dann lächelte er, fasste nach Pedros Hand und zog ihn in Richtung ihrer Fischerhütte.

 

Von Geburt an lebte Pedro in diesem Dorf. Wie vor ihm sein Vater und der Großvater, beide Fischer wie er.

Noch gab der Calanmiel den Menschen hier Sandmuscheln, Pfeilfische und Algen. Doch die Fänge wurden immer dürftiger, seit man damit begonnen hatte, Kanäle zu bauen und Land trocken zu legen für die Bauern. Aus Tradition wollten die Fischerfamilien an diesem Ort bleiben, dennoch waren schon einige weggezogen, um an ergiebigeren Fanggründen zu leben.

Für einen Neuanfang fühlte sich Pedro zu alt. Er wollte hier sterben, wenn ihn die zunehmende Not nicht zwang, seine Heimat zu verlassen.

Er dachte auch an Milo, für den dieser Fluss magisch war. Der Bezug zum Wasser war bei ihm stärker als bei allen anderen Bewohnern des Dorfes. Schon als kleines Kind hielt er sich gerne in dem Gewässer auf, dort, wo es um die weiten Sandbänke flach war. Oft fuhr er auch mit Pedro in dessen Boot über den Fluss, manchmal bis aufs offene Meer hinaus.

Fasziniert beobachtete Milo die Fische und Krebse, planschte fröhlich in den seichten Strömungen der Ufer oder blickte vom Boot mit einem Glas in die Tiefe des Flusses weiter draußen.

Schwimmen konnte der Junge bereits, als Pedro ihn gefunden hatte. Niemand wusste, wo Milo herkam und warum er weinend und orientierungslos am Ufer entlanggelaufen war. Damals konnte er noch nicht sprechen und Pedro und die Nachbarn hatten weder seine Eltern noch andere Verwandte ausfindig machen können.

Also sorgte der Alte für das Kind, so gut er es vermochte, und anfangs folgte es ihm überall hin wie ein Hundewelpe. Irgendwann war es für Pedro nicht mehr nur Pflicht gewesen, sich um Milo zu kümmern. Im Gegenteil, er begann, dessen Anwesenheit zu schätzen, denn er war ein aufgeweckter und freundlicher Junge, der ihm auch bei der Arbeit half. Er lernte sprechen und schreiben, entwickelte sich wie die anderen Kinder, abgesehen von seiner tiefen Hingabe zum Wasser.

Auffällig war auch die lange weiße Narbe, die sich von der rechten Augenbraue über Milos Stirn zog. Die hatte er schon besessen, als Pedro ihn fand. Woher die stammte, wusste der Junge nicht. Und an seinem Nacken befand sich ein kreisrundes Muttermal, genau in der Mitte unter dem Haaransatz.

Es waren Zeichen aus seiner Vergangenheit, über die nichts bekannt war.

Die Leute im Dorf nannten Milo das Nebelkind oder den Flussjungen, weil er so viel Zeit im Wasser und an den Ufern verbrachte wie kein anderer, keinerlei Angst vor dem Wasser oder vor der Tiefe zeigte. Die Dorfbewohner akzeptierten ihn, aber sie verstanden ihn nicht. Und sogar für Pedro war der Junge noch immer ein Rätsel.

Wie konnte er es dermaßen lange im Wasser aushalten? Doch auch Milo selbst konnte seine Liebe zum Fluss nicht erklären. Er hatte keine Erinnerung an seine Eltern oder die Zeit, bevor er von dem alten Fischer am Ufer aufgegriffen wurde.

Allerdings fragte er sich oft, wo er herkam, und es stimmte ihn traurig, dieses Gefühl der Heimatlosigkeit. Nur in den Bänken des Flusses fand er Trost.

Eines Nachmittags schwamm er wieder im Wasser des Calanmiel. Er tauchte ein in die Fluten, ließ sich durch die kleineren und schnelleren Nebenflussarme treiben, um das Wassergetier zu beobachten. Er konnte gut und lange tauchen, ohne Schmerzen oder Atemnot zu empfinden. Rücklings trieb er am feinsandigen Grund nahe des Ufers und blickte nach oben auf das Spiel des Sonnenlichtes auf der Wasseroberfläche einige Meter über ihm.

Auf den Sand unter ihm zauberte das Licht tanzende blaugrüne Muster. Ein riesiger Wels glitt träge an ihm vorbei, was Milo nicht erschreckte. Er erinnerte sich jäh an einen Traum, in dem er in einem Schwarm großer, heller Fische mitgeschwommen war. Es war nur eine flüchtige Erinnerung, jedoch so intensiv, als habe er es wirklich erlebt. Ab und zu hatte er eigenartige Träume, an die er sich nach dem Erwachen kaum noch entsann.

Fast immer jedoch hatten sie mit dem Wasser zu tun. Mit dem offenen Gewässer, nicht mit dem Fluss. Milo kannte das Meer nur von den Ausflügen mit Pedros Boot, aber diese Träume hatte er seit jeher gehabt. Es schien, als sagten sie ihm etwas. Waren es Erlebnisse von früher? Vielleicht auch nur Wunschgedanken.

Milo wuchs heran und sein Abenteuertrieb nahm zu. Etwas zog an ihm, tief in seinem Inneren, und so wagte er sich mit den Jahren immer weiter hinaus, um das Flussdelta zu erkunden. Bei seinen Ausflügen näherte er sich der Bucht, dort, wo Fluss und Meer sich vereinten. Etwas wartete dort auf ihn, das spürte er, ihm war, als riefe ihn das Meer.

Er hatte keine Angst. Die Geschichten über Wassermänner und die Nixen, die unachtsame Fischer bezauberten und ins Meer trieben, glaubte er nicht. Wie konnte so etwas Schönes wie dieses grünblaue Gewässer gefährlich sein? Für Milo war es der Ort der Geborgenheit.

Schließlich kam der Tag, an dem er sich noch weiter vorwagen wollte. Er stieg in das kleine Boot, das Pedro ihm geschenkt hatte, und paddelte in Richtung Bucht. Vor Aufregung und Neugierde bebend.

Es war ein windiger Nachmittag, Schleierwolken bedeckten den Himmel, die baldigen Regen verkündeten. Kleine Wellen brachen die Oberfläche des Calanmiel, das Boot glitt rasch stromabwärts.

Milo sah die sandigen Ufer vorbeiziehen und dahinter die grünen Auwälder zwischen dem sumpfigen, fruchtbaren Schwemmland. Viele Inseln hatten sich hier gebildet, einige nur sichtbar bei Ebbe. Bald passierte er die letzten Fischerhäuser. Die Ufer entfernten sich und der Strom wurde immer breiter, bis er schließlich überging in die riesige Bucht des unbekannten Meeres.

Auch an dieser Stelle waren die Wasser noch seicht, sodass Milo den sandigen Grund sehen konnte. Aber wenn er weiterfuhr, würden die Sandbänke sich in der Tiefe verlieren. So weit war er noch nie draußen gewesen, sein Herz pochte vor Erregung. Er konnte nicht mehr widerstehen, den Rufen des Meeres zu folgen. Es schien fast, als sagten ihm Stimmen, endlich zu ihnen zu kommen und die Welt des Ozeans kennenzulernen.

Hier ist ein guter Ort, dachte er sich und zog seine Kleider aus. Wie immer band er sich sein kleines Netz um den Bauch, in dem er Schätze sammelte und sprang lachend ins Wasser.

Geschmeidig tauchte er mit der Strömung am sandigen Grund entlang, wo Seetang und faserige blaue Wasserpflanzen wuchsen. Hier und da huschten Schwärme von Fischchen umher, riesige schillernde Muscheln und Schnecken bestückten den Boden.

Milo konnte bestens unter Wasser sehen, seine Augen brannten nicht. Das lag wohl daran, dass er sich mit den Jahren daran gewöhnt hatte.

Eine wunderschöne Aussicht bot sich ihm, und er wusste gar nicht mehr, wie lange er schon unter der Wasseroberfläche tauchte.

Rotgoldene Seepferdchen schaukelten an Wasserpflanzen. Die Algenwälder bewegten sich sanft in der Strömung. Und alles erstrahlte in einem klaren Türkisgrün. Er entdeckte eine Anhäufung der seltenen Pinctada-Muscheln und sammelte sie ein. Instinktiv wusste er, dass Pedro sich über dieses Geschenk freuen würde.

Milo war erfüllt von Glück und Staunen. Doch dann hielt er inne, als er die Schatten weiter vorne erblickte. Dort, wo die Sandbank steil abfiel in die undurchdringliche Tiefe des Meeres, schwebten stromlinienförmige Gestalten im Wasser. Sie schienen ihn zu beobachten. Zu warten.

 

Milo war verschwunden. Die Tage vergingen, und an jedem begab sich Pedro mehrmals zum Ufer und hielt nach dem Jungen Ausschau. Immer wieder fuhr er den Fluss mt seinem Kahn ab.  Das Rufen nach Milo hatte er aufgegeben. Nach einer Woche war der alte Fischer verzweifelt und wischte sich mit seiner rauen Hand die Tränen von der Wange. Die Hoffnung war verloren.

Ihm blieb nicht mehr viel Zeit bis zum Aufbruch. Auch er musste fortziehen aus Calanmiel, wie die meisten noch verbliebenen Fischer, denn seit die Arbeiten für einen weiteren Kanal begonnen hatten, gab es nichts mehr zu holen im Fluss. Es stimmte ihn neben dem Verlust von Milo traurig, er fürchtete sich vor der Veränderung. Nichts würde mehr sein wie früher.

Ein letztes Mal wollte Pedro den Fluss entlangfahren, um nach dem Jungen zu suchen. Erinnerungen zogen ihm durch den Kopf. An gute Zeiten. Erinnerungen an das Kind, das so viel Freude und Wärme in sein karges Leben gebracht hatte. Das der Fluss ihm erst schenkte und dann wieder nahm, denn vermutlich war Milo ertrunken. Obwohl er der beste Schwimmer war, den Pedro kannte. Aber auch der geschickteste Schwimmer konnte in den Fluten umkommen, das wusste er. Vielleicht hatten auch Seeschlangen oder die Wassermänner ihn geholt.

Pedro schluckte an dem Kloß in seinem Hals und tat einen tiefen Seufzer, als er in sein Boot stieg. Er ließ den Motor an und tuckerte langsam über den Fluss, beobachtete aufmerksam die Umgebung.

Er stutzte, als er kurz vor der Meeresbucht Milos verlassenes Boot entdeckte und fuhr heran. Darin lagen seine Kleider und das Netz, das der Junge sich vor seinen Streifzügen durchs Wasser immer um den Leib band. Wo war er? Aufregung erfasste ihn. Das Netz war gefüllt mit zwei Dutzend der begehrten Pinctada-Muscheln, in denen sich oft wertvolle Perlen befanden, die er zu einem guten Preis verkaufen könnte. Dieses Geld würde ihm und Milo erlauben, im Dorf zu bleiben! Pedros Herz pochte, die Hoffnung kehrte zurück.

„Milo!", rief er und schaute sich um. Keine Spur von ihm. Daher band er Milos Boot an seinen Kahn, ließ den Motor wieder an und fuhr weiter auf das Meer zu, rief immer wieder seinen Namen.

Da machte er eine Bewegung aus. Etwas sprang durch die Wellen der Meeresbucht.

Pedro kniff die alten Augen etwas zusammen, um besser sehen zu können. Es waren Delfine, die im Wasser spielten. Eine Gruppe von fünf Tieren. Allesamt besaßen sie eine seltene weiße Färbung sowie eine silbrig glänzende Musterung. Was für prachtvolle Geschöpfe! Solch herrliche Delfine hatte der alte Mann noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Allerdings war er auch selten mit dem Kahn bis zur Bucht gefahren. War der törichte Junge etwa zu den Delfinen geschwommen, um mit ihnen zu spielen? Es war gefährlich hier draußen, das hatte er ihm doch immer wieder eingeschärft!

Die Tiere scheuten das Boot nicht. Im Gegenteil, sie schienen recht neugierig und stießen fröhlich klingende, schnatternde Laute aus, wippten spielerisch im Wasser, blieben aber dennoch in respektvoller Entfernung. Milo konnte er nicht entdecken und das Herz wurde Pedro wieder schwer, als sich einer der Delfine aus der Gruppe löste. Er schwamm graziös auf ihn zu, tauchte kurz vor dem Kahn ab, um auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser zu stoßen und mit dem Kopf zu nicken. Dabei schnatterte er Pedro nahezu aufdringlich an.

„Na, du aufgeweckter Bursche!“, rief er dem zutraulichen Tier zu. „Ich habe leider nichts für dich zu fressen ... Oh, keine Sorge, ich will dich auch nicht fressen. Ich bin heute nicht zum Fischen hier. Ich dachte, ich finde meinen Jungen ..." Er musste schlucken. „Aber was soll’s, du verstehst mich ja doch nicht.“

Damit griff der Fischer nach dem Ruder und wendete, um sich auf den Rückweg zu machen. Der Delfin schwamm indessen an der Seite des Bootes und schnarrte ununterbrochen, es klang wie ein Gurren, als wolle er Pedro etwas Dringendes mitteilen.

„Komm, lass mich jetzt fahren." Pedro seufzte. Plötzlich erstarrte er, als er sie entdeckte: Eine strichförmige Narbe über dem rechten Auge des Tiers, die sich bis über die Stirn zog! Und das Spritzloch hinter seinem Kopf erinnerte ihn an ein gewisses Muttermal.

Ungläubig starrte er den Delfin an, der daraufhin aufgeregt mit seinem glatten Kopf vor und zurück wippte, wie ein Nicken. Ein Lächeln erschien um den Mund des alten Fischers. Er verstand endlich. Dann lachte er lauthals und weinte zugleich Freudentränen.

„Ich alter Narr!“ Wieder lachte er, dann beugte er sich vor und berührte sanft die Nase des jungen Delfins. „Ich war ein wenig voreilig, mein lieber Milo, verzeih mir bitte! Ich hätte es mir denken können, dass du es bist!“

Und ich habe ihn immer vor den Meereswesen gewarnt ... dachte er bei sich und neben der Freude, dass Milo lebte und seinem Erstaunen über dieses Wunder der Verwandlung, erfasste ihn auch wieder die Trauer. Denn er ahnte, das diese Begegnung ein Abschied war. Ein letztes Mal streichelte er dem Delfin über den Kopf, bevor der sich vom Boot zurückzog.

„Leb wohl, mein Kleiner!", rief er ihm nach. „Und danke für die Pinctada-Muscheln!"

„Jetzt bist du endlich zu Hause!“, murmelte er, als er dem schönen Tier nachblickte, wie es wieder zu seiner Gruppe zurückkehrte. Dann verschwanden die Delfine im Meer.

Dorthin, wo Milo einst herkam, bevor er in Menschengestalt seine Kindheit an Land verbrachte. Unwissend und ohne Erinnerung an seine wahre Natur.

Nun konnte er endlich seine Heimreise antreten.

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2022

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