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Mit schweren Beinen schleppte ich mich den Pfad zwischen den Bäumen entlang. Auf dem Rücken trug ich einen Korb, beladen mit meinen Habseligkeiten. Vor allem das Werkzeug, mein wertvollster Besitz, besaß Gewicht.

Der Wald um mich herum lag in Dunkelheit. Sogar der Mond hatte sich hinter den Wolken versteckt. Die einzige Lichtquelle bildete meine Laterne. Den Blick richtete ich auf den Waldboden, damit ich nicht über eine Baumwurzel oder etwas anderes stolperte. Oder auf eine Schlange trat ...

Ich war so müde, schnaufte wie ein vor den Karren gespannter Ochse. Am liebsten hätte ich den Korb abgestellt, mich im Moos ausgestreckt und geschlafen.

Aber das wäre keine gute Idee. Ich wusste nicht, welche Gefahren hier im Wald lauerten, ob mich Augen aus dem Unterholz beobachteten.

Wenn ich jetzt Schwäche zeigte, könnte das meinen Tod bedeuten.

Außerdem hatte ich den Großteil meiner Reise bereits hinter mir. Seit zwei Tagen war ich unterwegs. Ich hatte nur gerastet, um zu schlafen und zu essen. Die Sommerhitze hielt das Land fest im Griff, daher hatte ich zur Mittagszeit im Schatten geruht. Nachts zu wandern erschien mir erträglicher.

Doch jetzt, allein in dieser finsteren Wildnis, in der sich sicherlich Raubtiere herumtrieben, keimte Furcht in meinen Eingeweiden auf. Ließ mir einen Schauder den Rücken herabrieseln. Hier war noch etwas Unbekanntes, Heimtückisches und Böses, das auf der Lauer lag. Das spürte ich.

„Hör auf, dir was einzubilden!“, schalt ich mich in Gedanken. „Geh festen Schrittes weiter. Nur Mut!“

Wenn ich diesen verdammten Wald endlich hinter mir gelassen hatte, war es nicht mehr weit bis zum Dorf Shizuka-Mura. Dort lebte meine ältere Schwester Misaki mit ihrem Gatten, dem Viehbauern Ichiro. In unserem Heimatdorf Tsumago hatte ich vor Kurzem die Lehre zum Schmied beendet, indes konnte ich dort nicht arbeiten und folglich nicht bleiben.

Mein Meister duldete keinen Konkurrenten, das hatte er mir mehr als einmal um die Ohren gehauen. Und schon einen neuen Lehrling aufgenommen, der ihm zur Hand ging. In Shizuka-Mura hingegen gab es keine Schmiede. Meine Schwester würde mir helfen, dort Fuß zu fassen.

„Mein lieber Junge, dort brauchen sie einen starken Schmied wie dich. Nicht nur Misaki, sondern alle werden dich mit offenen Armen empfangen“, hatte meine Mutter unter Tränen beim Abschied gesagt. Doch erst einmal musste ich Ichiros Hof erreichen ...

Mir blieb nichts anderes übrig, als den Schmerz in den Gliedern und meine Erschöpfung auszublenden. Tief atmete ich die milde Nachtluft ein, setzte weiter einen Fuß vor den anderen.

Der Ruf einer Eule ließ mich zusammenfahren. Erneut lief mir ein Schauer über den Rücken wie zarte Spinnenbeine. Meine Haut fing an zu kribbeln, eine unmissverständliche Warnung.

Um mich herum waberten die Schatten, während die Laterne in meiner Hand zitterte.

Obgleich ich wusste, dass es meine eigenen verzerrten Schemen waren, die über die Baumstämme tanzten, glaubte ich, dass sich im Unterholz noch etwas anderes bewegte.

Ich lauschte angestrengt. Da war nichts, nur die Trugbilder meine Furcht. Dennoch wurde ich die Ahnung nicht los, dass etwas Übles bevorstand.

Wenigstens blieb ich so aufmerksam.

Knack, ertönte es leise hinter mir. Ich fuhr herum.

Mein Herz machte einen unangenehmen Satz und schlug rascher.

Was war da? Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich in die Dunkelheit.

Meine freie Hand griff instinktiv nach dem Kurzschwert am Gürtel.

Zwei gelbe Punkte leuchteten mir entgegen! In einiger Entfernung, auf dem Pfad, den ich gekommen war.

Ich sog scharf die Luft ein. Es war ein Augenpaar, das mich anstarrte.

Eine kalte Faust ballte sich in meinem Magen, meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich hob die Lampe, um besser zu sehen.

Das Licht reichte nicht weit, aber es genügte, um das struppige Fell, die hohen Beine, die jeden Moment auf mich loshetzen konnten und den Kopf mit den spitzen Ohren zu erkennen – ein Wolf! Von beeindruckender Größe!

Panik erfasste mich. Was sollte ich jetzt tun? Wenn das Tier bei vollen Kräften war, würde ich selbst mit dem Schwert nicht viel ausrichten können. Meine Muskeln waren geschwächt. Und Wölfe jagten für gewöhnlich im Rudel ... Bildete dieser nur die Vorhut?

Da ertönte eine Stimme hinter mir: „Hab keine Angst.“

Ich wirbelte herum, hätte fast mein Schwert gezogen. Doch es war nur ein alter Mann, der mich im Laternenschein anlächelte. Er trug sein graues Haar im Zopf und einen dunkelblauen Kimono.

„Wenn du jetzt langsam weitergehst, lässt er dich in Ruhe.“

Woher wollte der Alte wissen, dass der Wolf mir nichts tat? War es etwa gar kein Wolf, sondern ein Hund?

„Gehört er zu dir?“, fragte ich misstrauisch und bemühte mich, sowohl ihn als auch das Tier nicht aus den Augen zu lassen. Der Greis wirkte zwar nicht gefährlich, aber das konnte täuschen.

Er antwortete mit einem Lachen, das an das Meckern einer Ziege erinnerte.

„Nein. Er gehört zu niemandem. Er ist sein eigener Herr. Aber bitte, wir sollten jetzt weitergehen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um und schritt los. Ich zögerte. Erst nach einem weiteren Blick zu dem Tier – was immer es war – entschied ich, dem Mann zu folgen. Wenn wir zusammenblieben, überlegte es sich diese Bestie vielleicht zweimal, ob sie uns angriff.

„Bist du auch auf dem Weg nach Shizuka-Mura?“, wollte der Alte wissen, als ich aufgeholt hatte. Ich bejahte.

„Mein Name ist Takahashi Itarō“, stellte er sich vor. „Was führt dich in dieses Dorf?“

Bevor ich antwortete, schaute ich wieder hinter mich. Das Tier verfolgte uns, blieb aber noch auf Abstand.

„Ich heiße Akio Seijiro“, gab ich dann zurück. „Ich ziehe zu meiner Schwester Misaki und ihrem Mann Ichiro Akii. “

„Misaki Akii ist deine Schwester? Eine freundliche junge Frau“, erwiderte Takahashi. „Und Ichiro ist ein hart arbeitender, ehrbarer Mann. Wirst du ihnen auf dem Hof helfen?“

„Ich will mich als Schmied verdingen. Aber bis es so weit ist, werde ich Misaki und meinem Schwager zur Hand gehen.“

Der Alte gab einen anerkennenden Laut von sich, wackelte mit dem Kopf.

Dann verfielen wir in Schweigen. Es war nicht so, dass ich nicht reden wollte. Es gab sogar viele Dinge, die ich hätte fragen können. Doch das Sprechen war mir zu anstrengend.

Wir kamen nur langsam voran. Ich wegen meiner Erschöpfung und des drückenden Gewichts auf dem Rücken, Takahashi aufgrund seines Alters. Er stützte sich bei jedem Schritt auf einem Gehstock ab.

Außerdem linste ich immer wieder über die Schulter, um sicherzugehen, dass die Bestie sich nicht näherte.

Ein belustigtes Schnauben ließ mich Takahashi zuwenden.

„Mach dir keine Sorgen. Er tut dir nichts. Zumindest, solange du nicht stolperst. Achte also lieber weiter auf deine Füße.“

Er hatte mit freundlicher Strenge gesprochen. Trotzdem wurde ich aus seinen Worten nicht klug.

„Wie meinst du das?“, fragte ich.

Mein Weggefährte musterte mich einen Moment, als versuchte er mich einzuschätzen. Dann sagte er: „Weißt du, was ein Okuri Inu ist?“

Ein Okuri Inu? Ein sendender Hund?

„Nein.“

„Dies“, er wies mit der Hand hinter sich, „ist kein großer Hund oder Wolf, wenngleich er wie einer aussieht. Es ist ein Yōkai. Ein Okuri Inu.“

Das überraschte mich. Wie alle im Reich kannte ich Legenden über die mystischen Wesen. Einige von ihnen waren gut, andere böse. Fast alle besaßen sie mächtige magische Fähigkeiten. Aber glaubte ich an Magie?

Andererseits war die Größe des Tieres und sein Verhalten, uns lautlos hinterherzuschleichen, äußerst ungewöhnlich.

„Was sind das für Yōkai, diese Okuri Inu?“, hakte ich nach.

„Diese Wesen können ein Segen, aber ebenso ein Fluch sein“, erklärte er. „Sie verfolgen des Nachts Wanderer und Reisende, in der Hoffnung, dass sie stürzen. Dann schlagen sie zu. Aber wenn du auf deine Schritte achtest und nicht zu lange an einer Stelle verharrst, sind sie Wächter. Sie halten wilde Tiere und andere Yōkai fern, verstehst du?“

Ich zog die Brauen zusammen, war unschlüssig, ob ich ihm glauben sollte. Was, wenn er bloß der alte Dorfspinner war, der bei jeder Gelegenheit über die Yōkai plapperte?

Aber in einem hatte er recht: Einerlei, ob Okuri Inu, Hund oder Wolf, vermutlich folgte uns dieses Geschöpf, weil es darauf wartete, dass wir zusammenbrachen oder eine Rast einlegten.

Spürte es meine Erschöpfung und die Schwäche des alten Mannes?

Wir liefen weiter. Mit der rechten Hand umklammerte ich den Griff meines Schwertes, mit der anderen hielt ich die Laterne vor uns, damit wir beide sehen konnten, wo wir hintraten.

Aber mein mulmiges Gefühl ließ mich immer wieder den Kopf wenden. Ich musste mich vergewissern, dass unser Verfolger nicht zu einem Angriff ansetzte.

Doch genau das war mein Fehler. Bei einem Blick nach hinten übersah ich eine Wurzel, die aus dem Boden ragte. Mein Fuß blieb hängen. Ich stolperte.

Das Gewicht meines Gepäcks brachte mich aus dem Gleichgewicht und nur einen Moment später stürzte ich. Knallte auf mein Kinn.

Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Fuß.

„Akio! Was machst du denn?“, fluchte Takahashi. Er beugte sich zu mir hinunter, die Augen vor Schreck geweitet. 

Gleichzeitig hörte ich ein bedrohliches Knurren hinter uns. Ich warf mich herum, sah, wie der Wolf mit gebleckten Zähnen auf mich zu preschte.

Meine Hand fuhr zum Schwertgriff, als Takahashi mich anwies: „Sprich mir nach: Nur kurz ausruhen.“

Starr vor Schreck gelang es mir nicht aufstehen. Das musste ich aber, um mich verteidigen zu können.

Der Alte schrie: „Sitzenbleiben, mit geradem Rücken! Sag es! Nur kurz ausruhen.“

War Takahashi verrückt? Das Untier würde mich umbringen, in Stücke reißen! Und ihn ebenfalls.

Verzweifelt versuchte ich, mein Schwert zu ziehen, aber der alte Narr ließ es nicht zu.

„Sag es endlich!“, herrschte er mich an. „Nur kurz ausruhen.“

Der Wolf war inzwischen so nahe, dass mein Schicksal besiegelt war. Tränen der Verzweiflung rannen mir über die Wangen, ich atmete stoßweise und kniff die Augen zu.

„N-nur kurz ausruhen“, stammelte ich, mit dem Wissen, dass es meine letzten Worte sein würden.

Während sich mein Körper vor Angst verkrampfte, betete ich zu den Göttern. Es bohrten sich weder Klauen noch scharfe Zähne in mein Fleisch. Nichts passierte.

Endlich öffnete ich die Lider. Zuckte zurück. Denn der Wolf ragte direkt vor mir auf. So nah, dass ich die Wärme seines Atems oder seinen Geruch hätte wahrnehmen müssen, was aber nicht der Fall war.

Das Tier saß völlig reglos da und betrachtete mich.

Ich versank in seinen gelben Augen, erkannte darin Weisheit und Macht. Das Alter der Erde und des Himmels.

Gleichzeitig durchfuhr mich Erleuchtung.

„Okuri Inu“, hauchte ich voller Ehrfurcht. Takahashi hatte recht. Dieser Wolf war ein Yōkai!

Der alte Mann nickte, während er mir breit zulächelte und seine wenigen verbliebenen Zähne offenbarte.

„Lass uns jetzt weiterziehen. Du willst seine Geduld nicht unnötig auf die Probe stellen.“

„J-ja“, stotterte ich, noch immer nicht ganz bei mir.

Ich brauchte zwei Anläufe, um auf die Beine zu kommen, verzog vor Schmerz das Gesicht, denn ich hatte mir den Fuß verstaucht.

Bei jedem Schritt fühlte es sich an, als stächen hunderte Nadeln in meinen Knöchel.

Obwohl wir noch langsamer vorankamen als zuvor und ich durch das Humpeln angreifbarer wirkte, ließ der Okuri Inu uns in Ruhe.

Er folgte uns in einigem Abstand, bis wir ohne weitere Vorkommnisse endlich aus dem Wald traten.

Als im gleichen Augenblick der Mond hinter einer Wolke hervorkroch und die Landschaft in fahles Licht tauchte, drehten wir uns um. Der Yōkai war am Waldrand stehengeblieben. Mit stolz erhobenem Kopf, sein Fell leuchtete wie mit Silber übergossen.

„Du musst dich bei ihm bedanken, dass er dich begleitet hat“, raunte der Alte.

Ich zögerte keine Sekunde, faltete meine Hände vor der Brust und verbeugte mich in Richtung des Okuri Inu.

„Tausend Dank, edles Tier, du hast uns sicher durch den Wald geführt“, sagte ich laut.

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber mir war, als würde auch der Okuri Inu kurz seinen Kopf neigen.

Dann drehte er sich um und verschwand mit langen Sätzen in der Dunkelheit des Waldes.

„Und auch dir gebührt mein Dank, Takahashi Itarō. Ohne dich hätte ich die Nacht …“ Ich stockte, als ich mich dem Alten zuwandte.

„ … nicht überlebt“, beendete ich den Satz flüsternd, während meine Augen die Umgebung abtasteten.

Takahashi Itarō war fort. Ich stand allein in der Stille der Nacht. Von meinem Retter fehlte jede Spur.

„Es ist zu spät und ich bin zu müde, um ihn jetzt zu suchen“, sagte ich mir.

Ich würde meine Schwester fragen, wo er wohnte, um mich bei ihm zu bedanken.

Noch ahnte ich nicht, dass Misaki mich mit großen Augen anstarren würde, bevor sie mir erklärte, dass Takahashi Itarō im vorigen Jahr verstorben war.

Man hatte seinen Leichnam in diesem Wald gefunden.

Er war von einem wilden Tier angefallen worden  …

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.08.2022

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