Anneliese blieb stehen und schüttelte den grauen Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich ...“
„Willst du nun versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen oder nicht?“
„Doch, schon, aber ... was soll das sein, eine Seance-Party?“
„Madame Cora wird dir helfen“, fiel Reni der Freundin erneut ins Wort und starrte sie eindringlich durch ihre Brillengläser an.
„Es ist ja nicht mit anzusehen, wie furchtbar traurig du bist. Du schleichst herum wie ein geprügelter Hund ... oh ...“ Reni hielt inne, als Anneliese scharf die Luft einsog.
„Pardon, das war jetzt wenig feinfühlig.“
„Ist doch normal, dass man trauert, wenn ein geliebter Gefährte einen verlassen hat“, brummte Anneliese und schnüffelte.
„Natürlich, meine Liebe, aber ich denke, es tut dir gut, wenn dein Teddy dir mitteilen kann, wie es so ist, drüben im Jenseits.“
Anneliese schwieg.
„Wie ich schon sagte: Für die Erika vom Hausfrauenbund war es eine beeindruckende Erfahrung“, setzte Reni nach. „Sie ist von Madame Coras Fähigkeiten überzeugt. Dabei war Erika erst genauso skeptisch wie du, hat es für Humbug gehalten. Bis ihre Nachbarin sie dorthin schleifte und sie das Wunder erlebte! Nicht nur ihr verstorbener Mann hat zu ihr gesprochen, nein, auch ihr damals im Krieg gefallener Vater!“
Reni hakte sich bei Anneliese unter. „Nun komm, wir sind schon fünf Minuten über die verabredete Zeit!“
Mit sanftem Druck schob sie die Freundin vorwärts, die sich mit einem Seufzen ergab.
Kurz darauf erreichten sie einen grauen Wohnblock, der schon bessere Tage gesehen hatte. Zwischen den Betonplatten vor dem Eingang wucherte Unkraut, in einem Fahrradständer hing ein verbeultes Rad, dem ein Reifen fehlte.
Annelieses Mund wurde schmal, während Reni zur Haustür strebte, kurz die Namensschilder inspizierte und dann klingelte.
„5. Stock“, schnarrte eine weibliche Stimme aus der Gegensprechanlage, der Türsummer ertönte und sie betraten ein düsteres Treppenhaus, am Fahrstuhl klebte ein „Defekt“-Zettel.
Die beiden Seniorinnen keuchten fünf Treppen hinauf.
Madame Cora erwartete sie in der Wohnungstür.
Vom Alter her hätte sie ihre Tochter sein können, Anneliese schätzte sie auf Mitte vierzig. Mit dem voluminösen Vorbau und dem ebenso ausladenden Hintern erinnerte sie entfernt an die frühgeschichtlichen Fruchtbarkeitsfiguren. Nur, dass die weder eine platinblonde Dauerwelle noch einen babyblauen Nicki-Hausanzug und pinke Fellpantoffeln getragen hatten ...
Was das wohl wird, dachte Anneliese. Sie straffte die Schultern.
„Willkommen, ihr Lieben“, dröhnte Cora und breitete die Arme aus. Reni war dermaßen aus der Puste, dass sie nur die Hand heben und ihr stumm zunicken konnte.
Cora musterte ihre Besucherinnen, kratzte sich am Rücken. Goldene Armreifen klimperten an ihrem Handgelenk.
„Ich grüße euch“, sagte sie. „Denke, ihr habt nix dagegen, wenn wir uns duzen, oder? Wer von euch ist Anneliese?“
„Ich.“
Das Medium blickte ihr tief in die Augen. „Du hast also deinen lieben Hund verloren, den treuen Freund, der so lange an deiner Seite lebte – Teddy hieß er, nicht wahr?“
„Ja.“ Anneliese schluckte.
„Vor zwei Wochen“, fügte Reni hinzu, die ihre Atmung wieder unter Kontrolle hatte. „Sie hat ihn morgens tot in seinem Körbchen gefunden.“
„Es war schrecklich“, flüsterte Anneliese und blinzelte eine Träne weg, Reni drückte ihr mitfühlend die Schulter. Cora nickte.
„Verstehe. Und jetzt bist du traurig, auch einsam ... Also, normalerweise rufe ich die Seelen verstorbener Menschen herbei, baue für die Hinterbliebenen eine Brücke zu ihnen. Nur einmal kam eine Frau zu mir, die ihr eingeschläfertes Rennpferd ganz schrecklich vermisste ... Die Verständigung mit Tieren ist nicht so leicht.“
Sie setzte eine bedeutungsvolle Miene auf, ihre ganze Haltung besagte: Wenn eine das schafft, dann ich!
„Vielleicht gelingt es uns, Kontakt zu Teddy aufzunehmen. Zur Info: Das erste Mal ist meine Seance-Party für euch gratis. Aber vermutlich werden wir mehrere brauchen.“
Sie trat einen Schritt zurück. „Kommt herein."
Der Flur war so eng und mit Nippes vollgestellt, dass sich Anneliese und Reni regelrecht an Cora vorbeiquetschen mussten. Während sich Anneliese aus ihrem Mantel schälte, nahm sie Räucherstäbchenaroma wahr. Daneben lag noch ein anderer unangenehmer Geruch in der Luft. Sie schnupperte. Katzenurin! Eindeutig. Genauso hatte es im Haus einer ihrer Nachbarinnen gerochen, die fünf Miezen besaß ...
„So, dann begeben wir uns mal in die gute Stube!“, trompete Cora und watschelte ihnen voraus in ein kleines Wohnzimmer, das nur von flackerndem Kerzenlicht erhellt wurde.
Anneliese schaute sich um. Wie im Flur war es beengt durch zu viele Möbel und Nippes, Räucherstäbchen qualmten, der Ammoniakgestank war hier intensiver.
Am liebsten hätte sie ein Fenster aufgerissen. Keine Katze zu sehen. Aber ein Mann mit Halbglatze, schmächtig wie ein Streichholz, erhob sich.
„Das ist Dieter“, stellte Cora vor. „Er ist schon zwei Jahre dabei. Seit seine Mutter verstarb. Nicht wahr, Didi?“
„Stimmt.“ Der kleine Mann sank zurück in seinen Sessel.
Mit einer Geste wies Madame den Besucherinnen ihre Plätze auf dem Sofa zu, setzte sich selbst in einen Sessel gegenüber. Auf dem Couchtisch stand ein antiquiert wirkender Kassettenrekorder. Reni hatte Anneliese erzählt, auf welche Weise der Kontakt zu den Toten hergestellt wurde.
„Ich würde zu gern erst mal ein paar Botschaften hören.“
Cora funkelte sie an. „Regel Nummer eins: Die Sitzungen anderer sind tabu, Privatsache!“, schnauzte sie. „Regel Nummer zwei: Wir schweigen. Vor allem, nachdem ich den Kassettenrekorder auf Aufnahme gestellt habe. Ist das klar?“
„Ja“, hauchte Anneliese, fragte sich aber, warum dieser Dieter an ihrem Termin teilnahm, wenn der so privat war ...
„Wir wollen doch die auf der anderen Seite nicht verärgern, nicht wahr?“, fragte Cora.
Alle nickten gehorsam.
„Dann lasst uns anfangen.“
Annelieses Herz pochte rascher. Ihr Mund war derartig trocken, dass die Zunge am Gaumen fest pappte.
„Entschuldigung“, bat sie, „aber dürfte ich zuvor vielleicht ein Glas Wasser ...“
„Nein!“, donnerte Cora. „Wie kannst du an leibliche Genüsse denken, jetzt, wo wir im Begriff sind uns einzustimmen, um mit denen auf der anderen Seite Kontakt aufzunehmen?“
„Keine leiblichen Genüsse“, widersprach Anneliese hastig, „nur ein Schluck Leitungswasser.“
Cora schüttelte den Kopf, dass die blondierten Löckchen flogen, hob dann einen Zeigefinger.
„Legt eure Hände auf die Knie, schließt die Augen. Atmet langsam ein uns aus, so wie ich. Im Gleichklang.“
Sie sog die Luft durch die Nase ein und blies sie durch den Mund wieder heraus.
Alle folgten der Anweisung und Ruhe legte sich über den Raum, in der man einzig die Atemgeräusche hörte.
„Weiter atmen!“, befahl Madame, sie selbst begann zu summen, in einer tiefen Tonlage. Es erinnerte Anneliese an ein Didgeridoo oder eine Riesenhummel.
Sie hob eines ihrer Lider und linste zu Cora hinüber. Die hielt die Augen geschlossen, ihr Doppelkinn vibrierte. Dann hörte das Summen auf.
„Denkt fest an eure lieben Verstorbenen, voller Hingabe“, raunte Cora. „Weiter atmen ... stellt sie euch vor eurem geistigen Auge vor, wie sie waren, wie ihr sie liebtet ...“
Sekunden vergingen, es wurden Minuten daraus. Eine Standuhr tickte. Es stank nach Patchouli und Katzenurin.
Anneliese wäre beinahe eingenickt, oder hatte sie gar leise geschnarcht? Denn Reni stupste ihr unauffällig gegen das Bein, was sie aufschrecken ließ. Seit Teddy gestorben war, schlief sie nur wenig.
Cora drückte die Aufnahmetaste des Rekorders.
„Ihr auf der anderen Seite“, rief sie, „wir bitten euch: Lasst uns an eurer Weisheit teilhaben!“
Anneliese versuchte, intensiv an ihren Teddy zu denken. An sein drahtiges, braunes Fell, seine treuen Knopfaugen, wie er früher lebhaft um ihre Füße gesprungen war.
An das freudige Kläffen des Terriers, wenn er sie bei ihrer Heimkehr begrüßt hatte.
Doch der miese Geruch im Zimmer und ihr ausgedörrter Mund wirkten sich störend auf die Konzentration aus. Der Kassettenrekorder surrte leise.
Anneliese erstarrte, als ein gluckerndes Geräusch zu hören war. War das ihr Magen gewesen? Vorsichtig schielte sie zur Seite, doch niemand schien etwas bemerkt zu haben.
Reni saß entspannt, die Hände auf den Knien. Dieter lag zurückgelehnt in seinem Sessel. Anneliese fragte sich, ob er schlief und warum dieses Treffen Seance-Party genannt wurde ...
Eine Ewigkeit hockten sie so da. Endlich schaltete sich das Gerät mit einem Klacken ab.
Dieter öffnete die Augen. Reni richtete sich auf und blinzelte. Anneliese räusperte sich.
„Könnte ich jetzt bitte etwas Wasser ...?“
„Das Bad ist im Flur, erste Tür rechts“, erklärte Cora ungeduldig. „Lasst uns nun lauschen, was die auf der anderen Seite uns zu sagen haben.“
Anneliese wagte nicht hinauszugehen. Sie schluckte, verdrängte den Durst, so gut es ging, und versuchte, sich auf die Botschaften aus dem Jenseits einzulassen.
Schweigen herrschte im Raum, während sie das Band abhörten. Vor allem Rauschen.
„Halt!“, rief Dieter plötzlich. Sofort stoppte Cora den Rekorder, stellte kurz auf Rücklauf, dann auf Wiedergabe.
„Ja, da war was!“
Anneliese hatte ebenfalls ein Geräusch wahrgenommen.
„Das waren die auf der anderen Seite.“ Cora strahlte.
„Ich glaube, das war ein Hund“, meinte Reni nachdenklich, wandte sich dann ihrer Freundin zu. „Könnte das Teddy gewesen sein?“
„Das war doch kein Hund!“, widersprach Anneliese.
„Ich weiß, was ich gehört habe. Ein gedämpftes Bellen“, beharrte Reni.
„Mein Magen hat bloß gegluckert.“
Cora zog die Augenbrauen zusammen, Reni wirkte leicht beleidigt. Dieter zog den Kopf ein. Anneliese spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum mit Gereiztheit auflud.
„Unsinn!“, fuhr Cora sie an. „Das war kein Magen. So klingt es immer, wenn die von der anderen Seite uns begrüßen.“
„Es könnte auch meine Mutti gewesen sein“, sagte Dieter. „Ihr Husten klang immer etwas bellend.“
Keine der Frauen ging darauf ein. Sie hörten sich die Aufnahme erneut an.
Schließlich einigte man sich darauf, dass die auf der anderen Seite „Wir sind da“ gesagt hatten.
Cora schrieb Datum, Uhrzeit und die Begrüßung in ein Notizbuch, ehe sie die Kassette weiterlaufen ließ.
Das Halbdunkel, die Stille, das eintönige Rauschen, das alles wirkte auf Anneliese einschläfernd, fast wäre sie wieder eingedöst.
Klack - klack - klack.
Plötzlich schrien alle im Raum gleichzeitig auf.
Cora hielt die Kassette an, spulte ein Stück zurück und stellte auf Wiedergabe.
Sie betrachtete Anneliese mit ernster Miene. „Eindeutig ein Hund. Teddy?“
„Hm, tja, also, ich weiß nicht“, stotterte Anneliese. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt etwas gehört hatte.
„Ja oder nein? Entscheide dich!“ Coras Stimme klang streng.
Anneliese wollte nicht noch mehr Unannehmlichkeiten verursachen. „Wenn ich es mir genau überlege – ja, ich glaube, das könnte Teddy gewesen sein.“
„Und wie ist sein Kläffen zu verstehen? Ich meine, du als sein Frauchen ... Ex-Frauchen, solltest doch am besten wissen, was er dir mitteilen will, nicht?“
„Dazu müsste ich die Stelle vielleicht noch mal hören.“
Klack – klack – klack.
Diesmal glaubte Anneliese etwas verstanden zu haben. Allerdings konnte sie sich kaum vorstellen, dass ihr Teddy das wirklich von sich gegeben hatte. Wie Worte ... so menschlich.
„Bitte noch mal abspielen.“ Cora seufzte.
Klack – klack – klack.
„Nun?“
Es blieb dabei. Anneliese hatte wieder haargenau dasselbe vernommen. Unter Coras bezwingendem Blick wagte sie nicht, die Offenbarung für sich zu behalten.
„Er hat ‚Hau mich blau!’ gesagt, äh, gebellt“, wisperte sie.
Niemanden - außer sie selbst - schien das zu verwundern.
„Hau mich blau“, wiederholte Cora und schrieb diesen Satz in ihr Buch. Dann richtete sie die Augen auf die anderen Anwesenden. „Und was ist mich euch?“
„War es vielleicht doch nicht Teddy?“, hakte Reni nach, als ginge ihr jetzt erst auf, was ihre Freundin da gesagt hatte.
„Das kann nur Anneliese beurteilen“, erklärte Cora kurzangebunden. „Auf jeden Fall war es eine Botschaft aus dem Jenseits – für jeden Einzelnen von uns. Und wir alle haben die Aufgabe, sie in unserem Leben zu verwirklichen. Wie lautet also euer Auftrag?“
Cora setzte wieder den Stift an. Dieter ergriff als Erster das Wort.
„Ich habe ‚Auf die Frau!’ verstanden.“
„Auf die Frau.“ Coras Stift glitt über das Papier, sie nickte Reni zu. „Und du?“
„Kauf die Sau!“ Annelieses Kopf ruckte zur Freundin herum, das konnte doch nicht ihr Ernst sein ...
„Und der Auftrag, den ich erhalten habe, lautet ‚Lauf im Tau!“, ergänzte Cora und legte den Stift hin. „Jetzt kommt der schwierigste Teil unserer Sitzung. Wir müssen diese Botschaften deuten. Was mich betrifft, so ist es diesmal ganz einfach. Wenn die auf der anderen Seite sagen, ich soll im Tau laufen, raten sie mir, vor dem Frühstück joggen zu gehen. Gleich morgen werde ich damit beginnen. Ich hatte mir das sowieso schon öfter vorgenommen.“
Sie wandte Anneliese ein strenges Gesicht zu. „Machen wir mit dir weiter.“
Kurzer Blick auf ihre Notizen. ‚Hau mich blau’. Was könnte dein Teddy damit gemeint haben?“
Anneliese errötete. „Keine Ahnung.“
Coras verengte die Augen. „Du weißt es“, behauptete sie.
Anneliese fühlte, wie alle sie anstarrten.
„Er ... er mochte das“, stotterte sie.
„Dass du ihn blau haust?“ Coras Stimme klang plötzlich überlaut. Reni schaute sie entgeistert an.
„Ja, aber könnten wir jetzt bitte von etwas anderem reden?“
„Seht ihr?“ Cora strahlte. „Niemand von uns konnte wissen, dass dieser Hund gerne blau gehauen wurde. Das ist der Beweis: Die auf der anderen Seite sprechen tatsächlich mit uns!“ Dieter nickte zustimmend.
„Aber jetzt kann sie den Auftrag, das Hauen, doch nicht mehr erfüllen“, gab er zu bedenken.
„Vielleicht wünscht der kleine Racker einfach, dass sie sich an diese gemeinsamen glücklichen Stunden erinnert? Oder uns davon berichtet?“, überlegte Cora.
„Können wir jetzt, bitte, von etwas anderem sprechen?“, drängte Anneliese erneut.
„Na gut“, gab Cora nach. „Jetzt zu dir, Didi.“
Ihre Miene wurde feierlich. „Deine Botschaft lautet ‚Auf die Frau’. Das ist wohl eindeutig.“
„Ja, aber ... du weißt doch ...“, stammelte er.
„Dass du schwul bist? Na und? Dann musst du es eben mal probieren. Im Bahnhofsviertel ...“
„Ich möchte das nicht“, unterbrach Dieter sie und verschränkte die mageren Arme vor der Brust.
„Du hast keine andere Wahl! Sie beobachten uns.“ Dieter sank wieder in sich zusammen.
„Und das nächste Mal berichtest du uns von deinen neuen Erfahrungen.“ Trübe starrte er vor sich hin.
„Kauf die Sau!“, rief Cora in die Runde. „Reni, wie verstehst du diesen Befehl?“
Die fuhr zusammen, sie hatte vorhin doch bloß einen witzigen Reim beigesteuert ...
„Ich weiß es nicht. Eine Sau brauche ich nicht. Ich habe keinen Garten, und im Wohnzimmer kann ich ja schlecht ein Schwein halten.“
„Das sehe ich ein.“
Anneliese war überrascht, dass Cora denen auf der anderen Seite widersprach.
„Lasst uns gemeinsam überlegen, wie du diesen Auftrag trotzdem erfüllen könntest“, fuhr die Gastgeberin fort.
„Und wenn sie es nicht täte?“, fragte Anneliese.
„Dann sprechen die auf der anderen Seite nie wieder mit uns!“, bellte Cora.
„Ich hab’s!“, rief Reni dazwischen. „Bald ist doch Silvester.“
Verständnislos schauten sie alle an.
„Begreift ihr nicht? Neujahr, Glücksbringer, Marzipan! Ich muss bloß ein Marzipanschwein kaufen!“
„Und warum solltest du das tun?“ Cora schien nicht überzeugt.
„Um Glück zu haben, selbstverständlich.“
„Bitte, dürfte ich jetzt eben zur Toilette und einen Schluck Wasser ...“, begann Anneliese und erhob sich.
„Hinsetzen!“
Erschrocken plumpste sie auf das Sofa zurück.
„Wir haben die Kassette noch nicht zu Ende gehört.“
Cora drückte die Wiedergabetaste und das monotone Rauschen tönte aus den Lautsprechern. Bald gesellte sich ein weiteres Geräusch dazu. Eine Art Scharren und Schleifen.
Dann schaltete sich der Rekorder ab.
„Die Batterien“, sagte Cora. „Ich hol' schnell neue.“
„Warum verbindet sie das Gerät nicht einfach mit einer Steckdose?“, flüsterte Anneliese, als sie aus dem Zimmer gegangen war.
„Das geht doch nicht“, wisperte Dieter. „Die Energien, die von der anderen Seite kommen, vertragen sich nicht mit dieser Art Elektrizität. Die Ströme heben sich gegenseitig auf.“
Anneliese zog die Brauen hoch, wechselte einen Blick mit Reni, die zuckte mit den Schultern.
Cora erschien mit einem Satz neuer Batterien, legte sie ein und drückte erneut die Wiedergabetaste. Klack und Rauschen, Rauschen, Rauschen.
Anneliese schielte auf die Uhr. Schon Viertel nach zehn.
Ein kollektiver Aufschrei ließ sie zusammenfahren. Mit bebenden Fingern ließ Cora das Band zurücklaufen. Kein Zweifel. Da war etwas.
Anneliese unterdrückte ein Gähnen, weshalb ihr ein seltsamer Laut entfuhr. Cora griff nach ihrem Kugelschreiber und sah sie abwartend an. Die schwieg.
„Hier gibt es keine Geheimniskrämerei“, zischte Cora.
„Also gut“, lenkte Anneliese ein, die endgültig genug hatte. „Die Botschaft an mich lautet: ‚Schluss mit dem Stuss.’“
Mit offenen Mündern starrten die anderen sie an.
„Das kann nicht sein!“
Klack – klack – klack.
„Ich habe genau dasselbe gehört.“ Dieter senkte den Blick.
Cora legte den Stift hin. „Ihr müsst euch irren.“
Klack – klack – klack.
„Kein Zweifel!“ Reni nickte. „Die Stimme sagt: ’Schluss mit dem Stuss.’“.
Cora stiegen Tränen in die Augen. „Ich glaube, ihr habt Recht.“
„Tja ...“ Dieter räusperte sich. „Damit betrachte ich meinen Auftrag als ungültig.“
„Ich auch“, sagte Reni. „Ich hasse Marzipan. Und Schweine mag ich auch nicht. Komm, Anneliese.“
Die drei Gäste erhoben sich.
„Meint ihr, ich muss morgen nicht früh aufstehen und joggen gehen?“, wollte Cora wissen, das Herrische war von ihr abgefallen.
„Bestimmt nicht“, tröstete Anneliese sie. „Und diese Sitzungen brauchst du ebenfalls nicht mehr abzuhalten. Mach’s gut, Cora.“
„Tschüs“, sagte Reni.
Sie strebten der Wohnungstür entgegen. Anneliese entschied, sich auf dem Rückweg an der Tankstelle ein leckeres Kaltgetränk zu kaufen.
„Ich hab' eine Idee“, schrie Cora ihnen nach. „Kommt doch demnächst zum Kaffeetrinken. Dann lesen wir die Zukunft aus dem Kaffeesatz!“
„Machen wir - vielleicht“, rief Anneliese zurück. „In der Zwischenzeit kannst du ja schon mal üben ...“
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Pixabay / Canva
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2022
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