Cover

.


Es dämmerte bereits an diesem grauen, nebligen Novembernachmittag, als Pfarrer Berthold die alte Justizvollzugsanstalt in Osnabrück betrat. Die Gefängnisseelsorge verrichtete er mit dem Eifer eines Pfadfinders. Jeden Freitag erschien er pünktlich wie ein Uhrwerk, um neue Insassen zu begrüßen und seinen altbekannten, manchmal widerspenstigen Schäfchen Trost zu spenden.

Das von hohen Mauern und Stacheldraht umrahmte Gemäuer aus roten Backsteinen stammte aus der Jahrhundertwende und trotz umfangreicher Sanierungsarbeiten schien es noch immer an seiner Vergangenheit festzuhalten. Selbst nachts war es niemals wirklich still hier. Von den Schritten der Justizvollzugsbeamten, die in den menschenleeren Gängen hallten, bis hin zum vereinzelten Schreien, Schnarchen oder Husten eines Häftlings in seiner Zelle hörte man alle möglichen Geräusche. Ja, das Gebäude selbst schien zu atmen.

Der Beamte Schulze war an die Atmosphäre gewöhnt, tat er doch seinen Dienst seit drei Jahrzehnten in diesem Bauwerk. Er kannte alles und jeden hier. Auch Schulze schien in der Vergangenheit steckengeblieben zu sein. Sein grauer, gepflegter Bart erinnerte an die deutsche Kaiserzeit, wie seine eiserne Disziplin. Er zeigte sich den Inhaftierten gegenüber distanziert und streng wie ein Oberlehrer, aber wer sich an die Regeln hielt, kam mit ihm aus.

Schulze und Berthold absolvierten den wöchentlichen Rundgang durch die nach Bohnerwachs riechenden Gänge wie gute, alte Freunde. Das Bild, das die beiden nebeneinander abgaben, verführte zum Schmunzeln: Der in Uniform militärisch daher schreitende Klaus Schulze, mit einer Größe von fast zwei Metern, dabei dünn wie eine Bohnenstange, und der kleine, wohlgenährte Pfarrer, der beim Treppensteigen wegen seines Gewichts ins Schnaufen geriet.

Ihre gemeinsamen Rundgänge nahm Schulze nur zu gerne wahr, um von seiner Familie und den vielen kleinen und großen Wehwehchen, die ihn von Zeit zu Zeit plagten, zu erzählen. Und in dem Geistlichen hatte er scheinbar einen dankbaren Zuhörer gefunden. Pfarrer Berthold seufzte meist nur ergeben oder nickte verständnisvoll. Ab und zu kam ein „Ja, ja, so ist das“, über seine Lippen.

In regelmäßigen Abständen schloss der Beamte eine Zellentür auf und der Pfarrer besuchte einen Häftling, während Schulze in Rufweite auf dem Korridor wartete.

Viele Insassen freuten sich über die Unterbrechung ihres tristen Alltags, obwohl diese eine Soutane trug und ihnen mit den üblichen Bibelsprüchen Trost zu spenden versuchte. Andere wiederum hatten mit der Kirche und dem Prinzip Hoffnung längst abgeschlossen. Aber selbst bei diesen eher verlorenen Schäfchen ließ der Priester nicht locker, sondern besuchte sie weiterhin.

Doch heute wurde Schulze über sein Funkgerät von einem Kollegen weggerufen.

„Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich muss kurz in den anderen Trakt. Sie kennen sich ja aus, gehen Sie doch so lange in die Kantine und holen sich einen Kaffee, bis ich zurück bin.“ Zackig, wie es seine Art war, drehte er sich um und marschierte in Richtung der benachbarten Zellenblöcke.

Berthold indes trippelte weiter zur Kantine und hoffte, neben dem Kaffee vielleicht auch ein Stück Kuchen zu bekommen.

Im Vorbeigehen fiel ihm plötzlich eine Tür auf, die nur angelehnt war. Verdutzt blieb er stehen. 'Weshalb ist die Zelle nicht verriegelt?', fuhr es dem Geistlichen durch den Kopf, ehe er vorsichtig durch den Türspalt lugte.

„Kommen Sie ruhig herein", forderte der Insasse in der blauen Anstaltskleidung ihn auf. Er stand mit dem Rücken zu ihm und starrte scheinbar interessiert in die bleigrauen Wolken jenseits des vergitterten Fensters. Obwohl Schulze anwesend sein musste, wenn Berthold die Häftlinge in ihren Zellen besuchte, konnte der Pfarrer seine Neugier nicht unterdrücken und trat ein. Er stellte sich kurz vor, wobei er den Gefangenen musterte, zumindest dessen wohlgeformte Hinteransicht, denn der Mann drehte sich unhöflicherweise noch immer nicht um.

Aufrecht stand er, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt wie ein Generaldirektor, und seinen Namen nannte er ebenfalls nicht. Berthold hatte den Eindruck, dass dieser große, schlanke Mann mit den breiten Schultern und dem kurz geschnittenen, dunklen Haar auf irgendetwas wartete.

Hier bedurfte offenbar eine verirrte Seele seiner Hilfe. Es handelte sich mit Sicherheit um einen Neuzugang, denn dieser Häftling war dem Pfarrer völlig unbekannt.

Er  begann ein Gespräch. „Wie lange sind Sie schon in Haft?“

„Eine Ewigkeit und immer mal wieder“, kam die Antwort aus Richtung Fenster.

Berthold stutzte.

„Verraten Sie mir, aus welchem Grund Sie hier einsitzen?“

Kurzes Schweigen. Der Mann schien nach den passenden Worten zu suchen.

„Ein Geistlicher wie Sie würde mich wohl als tief gefallen bezeichnen. Ich habe gelogen, verführt, betrogen und getötet - auch töten lassen.“ Die Stimme des Gefangenen klang ruhig und angenehm, aber völlig emotionslos.

Der Priester war schockiert, ließ sich aber nichts anmerken. Offenbar war dies ein schwerer Junge!

„Wen haben Sie ermordet?“

„Viele, sehr viele.“

Berthold bekreuzigte sich hastig und trat instinktiv einen Schritt zurück in den Türrahmen, um jederzeit das Weite suchen zu können. Das musste einer von den Lebenslänglichen sein!

„Haben Sie in einem Krieg so viele Menschen umgebracht?“

„Ja, aber nicht nur da. Es war einfach. Zu einfach.“ Berthold schluckte.

„Und warum haben Sie das getan?"

„Weil ich es konnte.“ Der Gefangene ließ Kopf und Schultern kreisen, wie um verspannte Muskeln zu lockern, dann fuhr er fort: „Es geht mir immer nur um Macht, darum, zu tun und tun zu lassen, was ich will.“

Der Pfarrer sog scharf den Atem ein. War das etwa ein Geisteskranker? Ihm wurde noch mulmiger zumute. Trotzdem wagte er einen weiteren Vorstoß, versuchte es mit einer seiner üblichen Phrasen.

„Der innerste Kern des Evangeliums heißt Gnade. Gott wird Ihnen Ihre Sünden bestimmt vergeben.“

„Wird er nicht.“

„Er vergibt jedem, der aufrichtig bereut.“

„Was ist Reue?“

Der Pfarrer erstarrte, hob die Augenbrauen. Schweigen.

„Wie steht es mit Ihrer Familie?“, wechselte er das Thema.

„Familie? Wenn man sie so nennen will ... Man hat mich zu dem werden lassen, was ich bin.“

„Und was sind Sie geworden?“ Stille. Berthold wartete auf eine Erklärung, aber mehr äußerte der Häftling nicht dazu.

'Die Wurzel seines Übels scheint in seiner Familie zu liegen', sinnierte der Pfarrer.

„Besucht Ihre Familie Sie? Ihre Mutter? Oder Ihr Vater?“, fragte er.

„Es gibt keine Mutter und mein Vater will von mir nicht so genannt werden.“

Oh je, wie tragisch, war die Mutter früh verstorben und er später aufgrund seiner Verbrechen vom Vater verstoßen worden? Oder wegen dieser desolaten Familienverhältnisse zum Straftäter, zum Mörder, geworden? Berthold hatte hier schon viele traurige Lebensgeschichten gehört.

Wie konnte er diesen so weit vom Weg abgekommenen Menschen mit seinem Glauben erreichen?

Er versuchte einen anderen Ansatz. „Verspürten Sie denn gar kein Mitleid mit Ihren Opfern?“

Hatte der Häftling gerade belustigt gegluckst? Berthold war sich nicht sicher, dann hörte er ihn im Dozierton eines Professors antworten:

„Was ist schon Mitleid? Nur etwas für Schwächlinge. In der Geschichte der Menschheit wurden Dominanz, Macht und Aggressivität immer durch eine Endorphinausschüttung im Gehirn belohnt. Macht ist berauschend! Wer bei der Jagd oder im Kampf besonders mutig und erfolgreich war, wurde der Anführer, bekam die schönsten Frauen und konnte seine Gene in der Welt verbreiten. Stark, rücksichtslos und überlegen zu sein, ging mit einem Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil einher. Daran hat sich bis heute wenig geändert … Die Ausübung von Macht, auch durch Unterdrückung, Folter und Tod, davon kann auch die Kirche im Hinblick auf ihre Geschichte ein Lied singen, nicht?“

Der Pfarrer riss empört die Augen auf, empfand er doch diese Erklärung als pure Blasphemie und hatte Mühe, seinen gemäßigten Tonfall beizubehalten.

„Verleumden Sie nicht die Heilige Kirche! Solche Aussagen dulde ich nicht!“

Sein Tadel schien den Mann kalt zu lassen, denn er fuhr im Plauderton fort:

„Menschen, vor allem Frauen, suchen nach starken Alphamännchen. Draußen, im freien Leben, aber auch im Gefängnis. Sie sind fasziniert von den 'harten Jungs', wie Sie sagen würden. Selbst im Knast erhalten die Fanpost und Besuch, sogar Heiratsanträge. Diese Frauen sitzen - wie Sie - dem Irrglauben auf, Schwerverbrecher auf den rechten Pfad führen zu können. Sie zu retten.“

Er lachte. Ein fröhliches, ansteckendes Geräusch, das dem Pfarrer einen Schauer über den Rücken jagte.

„Sie verschwenden Ihre Zeit mit mir, Pater. Ich habe keinerlei Verlangen danach, das zu werden, was Sie 'gut' oder 'sozial' nennen. Was ich will, ist Leute zu beeinflussen, sie zu beherrschen. Die zu bessern, die mich bessern wollen, und ich glaube, die einzige Methode, sie zu bessern, besteht darin, sie zu manipulieren und - ja, zum Teil auch umzubringen.“

Die Raumtemperatur schien um einige Grad zu fallen. Berthold fröstelte und warf einen raschen Blick links und rechts in den Flur. Niemand zu sehen ... Wo blieb nur Schulze?

„Irgendwo, in Ihnen, ist bestimmt auch etwas Gutes und Mitgefühl!", wandte er sich wieder an den Gefangenen. „So kalt kann doch niemand sein!",

„Doch“, erwiderte der ungerührt, „ich habe meine Aufgabe, genau wie Sie. Ich war schon immer etwas Besonderes. Die anderen fühlten sich von mir angezogen, folgten mir, taten, was ich ihnen sagte. Ich musste niemanden zu etwas zwingen. Meine Opfer, wie Sie sie nennen, hatten einen freien Willen. Sie haben sich freiwillig auf mich eingelassen, mich nicht aufgehalten. Genauso freiwillig sind sie in ihr Verderben und auch in den Tod gegangen. Mit ebenso freiem Willen wie Ihnen die Häftlinge hier lauschen, die Sie in den Zellen heimsuchen.“ Die Diskrepanz zwischen dem grausamen Inhalt des Gesagten, vorgetragen in dieser kultivierten Stimme, erschütterte den Pfarrer.

„Wie können Sie meine Berufung mit Ihren Verbrechen auf gleiche Stufe stellen!“

Seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn. Er konnte nicht sehen, dass der Mann in sich hinein lächelte.

„Werter Pater, Sie sündigen gerade“, bemerkte er mit leisem Spott.

„Wieso?“

„Zorn ist eine Todsünde, wissen Sie nicht mehr?“

Pfarrer Berthold rang um Fassung. Was nahm sich dieser … dieser Kerl heraus?

„Gott wird eines Tages Ihr Richter sein!“, ermahnte er eindringlich.

„Nein, er hat auch mir die Wahl gelassen.“

Jetzt fehlten dem Geistlichen die Worte. Dieser Häftling war nicht nur eine harte Nuss, er war ein Psychopath!

„Zu wie vielen Jahren hat man Sie verurteilt?“, wollte er wissen. Vielleicht überstellte man ihn bald in die Psychiatrie. Hoffentlich. Berthold war sich sicher, dass er ihm nicht noch einmal begegnen wollte.

„Spielt das eine Rolle? Wenn ich will, komme ich jederzeit raus. Hab' da so meine Methoden.“ Und er litt eindeutig auch unter Größenwahn!

„Wie das? Und Sie wissen nicht einmal, wie lange Sie hierbleiben müssen?“

„Solange, bis mich wieder jemand ruft.“ Das wurde ja immer seltsamer!

„Und dann?“

„Mache ich meinen Job.“

Der Priester schüttelte den Kopf. Für ihn ergab dieses Gespräch keinen Sinn.

„Dann hoffen Sie nicht einmal auf Erlösung?“, fragte er in einem letzten verzweifelten Versuch, das Gespräch vernünftig abzuschließen.

Der Häftling ließ wieder sein perlendes Lachen erklingen.

„Erlösung wovon? Von der Macht, die ich auch weiter ausüben will und werde? Ihre abgedroschenen Phrasen können das nicht ändern. Nichts und niemand vermag das. Weder jetzt noch in Zukunft.“

Berthold gab endgültig auf. Er überwand seinen Widerwillen, schlug ein Kreuz in die Luft und segnete den Gefangenen von der Tür aus, der ihm nach wie vor den Rücken zuwandte. Dann verließ er den dämmerigen Raum, um rasch Bescheid zu geben, dass die Zelle verriegelt werden musste.

Kaum war er auf den Gang getreten, kam Schulze ihm mit großen Schritten entgegengelaufen.

„Ach, da sind Sie ja, ich habe Sie schon gesucht. Was machen Sie denn in der leeren Zelle?“

Der Geistliche zuckte zusammen, schaute ihn völlig entgeistert an. „Wieso leer? Ich habe doch gerade mit dem Häftling darin gesprochen.“

Schulzes Augen weiteten sich kurz. „Nee, da müssen Sie sich irren. Diese Zelle ist schon seit Tagen nicht belegt.“

Bertholds Herz setzte einen Schlag aus, dann drehte er sich mit kreidebleichem Gesicht um, zog die Tür auf und starrte in den verwaisten Raum.

Seine Züge entgleisten im Maße der Erkenntnis, seines steigenden Entsetzens, während ihm Bibelstellen durch den Kopf zogen: Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! ... Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.“ 

Berthold wurde flau, er wankte und krallte sich am Ärmel des perplexen Schulze fest. „Oh Herr im Himmel, Heilige Jungfrau Maria", ächzte er und rang nach Atem.

Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge ...,  dachte er noch, dann wurde alles schwarz um ihn.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.06.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /