Normalerweise hasse ich Begräbnisse.
Besonders die, bei denen unangenehme Zeitgenossen unter die Erde gebracht werden. Die andere unterdrückten, misshandelten und ihnen gewissenlos das Leben schwer machten.
Doch selbst die werden am Tag ihrer Beerdigung als ‚gute Menschen’ bezeichnet, deren Tod einen herben Verlust für die Hinterbliebenen und Freunde bedeutet.
Schwarzgekleidete Figuren geben sich alle Mühe, ernst und trauernd auszusehen, obwohl viele von ihnen innerlich jubeln und frohlocken.
Den nächsten Angehörigen wird mit Grabesstimme kondoliert, aber hinter den Masken der Heuchler verbergen sich schäbiges Grinsen und Gier.
Bei der Erde, die auf den Sarg geworfen wird, könnte es sich auch um entsicherte Handgranaten handeln, damit der Dahingeschiedene auch garantiert verblichen bleibt und nicht noch im letzten Moment als Scheintoter gegen die Innenwände des gepolsterten Sarges hämmern kann.
Ich finde es abgrundtief widerwärtig, einem Toten die letzte Ehre erweisen zu müssen, der Zeit seines Daseins keine Ahnung hatte, was das Wort Ehre eigentlich bedeutet.
Es widerstrebt mir, mich in die Riege derer einzuordnen, die leise und mitleidig jammern.
Doch bei Robert "Bobby" Richter mache ich heute eine Ausnahme. Denn diese Beerdigung ist meine Chance. ,Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist', geht es mir durch den Kopf. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber er oder sie war ein kluger Mensch.
Richter war zwar das verabscheuenswürdigste Geschöpf, das ich kannte – aber er hat dennoch etwas für mich getan, für das ich mich auf meine Art bei ihm bedanken möchte.
In den Augen vieler bin ich zwar auch keine Stütze der Gesellschaft, im Gegenteil, aber zumindest habe ich mir einen Funken Ehre bewahrt.
Ich glaube, es ist richtig, dieser verlogenen Trauergemeinde beizuwohnen, bis der Pfarrer, der den Verblichenen nie kennengelernt hat, seine Lobeshymne beendet.
Schon der Gedanke an den anschließenden Leichenschmaus lässt mich meine Mundwinkel verräterisch verziehen. Alle werden da sein!
Alle, die Bobby Richter immer die Pest an den Hals gewünscht hatten, werden sich ein letztes Mal auf seine Kosten den Wanst voll schlagen. Sie werden fressen und saufen, bis die Mägen für mindestens eine Woche keine Nahrung mehr aufnehmen können. Sich bis zum Delirium betrinken, um ein für alle Mal die Erinnerungen an ihn in Alkohol aufzulösen.
Mein Blick wandert durch die Reihen der Trauergäste. Nahezu die gesamte Unterweltprominenz ist anwesend. Immerhin haben sie sich noch ganz gut unter Kontrolle. Niemand reißt Witze. Keiner spuckt auf Richters Grab. Nicht einer der Anwesenden leert einen Benzinkanister über seinem Sarg, um ein Freudenfeuer zu entzünden.
Ich betrachte seine Frau in dem engen, schwarzen Kleid. Nun eine junge Witwe. Ihr schönes Gesicht ist hinter eine riesigen dunklen Sonnenbrille versteckt. Obwohl man die Augen von Desirée Richter nicht erkennen kann, gehe ich davon aus, dass sie amüsiert blicken. Zwar gibt sie sich alle Mühe, die Trauermiene aufrecht zu erhalten, aber ich bin davon überzeugt, dass sie am liebsten loslachen möchte, als hätte man ihr einen verteufelt guten, unanständigen Witz erzählt!
Der Mann neben ihr, im schwarzen Trenchcoat, ist ihr Bruder. Ich habe vor kurzem sein Foto in der Zeitung gesehen. Marco Belting. Ebenfalls ein widerwärtiger Zeitgenosse, der ein üppiges Vermögen sein Eigen nennt, das er als Besitzer diverser Edelpuffs eingenommen hat, bis er diese gewinnbringend verkaufte. Jetzt nennt er sich Privatier, macht einen auf seriös, aber früher war er der Herr über unzählige, vor allem aus Osteuropa angelockte Huren, die mit Drogen gefügig gemacht wurden und unter seiner Fuchtel nichts zu lachen hatten. Die Polizei hat zwar immer wieder versucht, Belting Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachzuweisen, ist aber an den perfekten Verschleierungen seiner Anwälte gescheitert.
Ein paar der restlichen Gesichter kommen mir auch bekannt vor. Wie gesagt, kaum einer der Trauergäste weint dem verstorbenen "Paten" eine Träne nach. Stattdessen wird darüber sinniert, wer an seine Stelle tritt und seine Einflussgebiete übernimmt. Deshalb ist auch ein Vertreter des Mahmoud-Clans mit zwei bulligen Begleitern vor Ort. Oh, es ist "Kronprinz" Ahmed persönlich, der etwas abseits steht und das Geschehen beobachtet.
Einige Mitbürger werden erst später, beim sogenannten Trauerempfang auf dem Richterschen Anwesen, zugegen sein. Sich hier am Grab mit den Unterweltgrößen blicken zu lassen, würde ihr gesellschaftliches Aus bedeuten, schließlich ist auch die Presse zugegen und schießt fleißig Fotos, in gebührendem Abstand, aber mit riesigen Objektiven.
Ja, auch Herbert Schischke wird dann, wenn Security den Leichenschmaus abriegelt, dazu stoßen, das habe ich erfahren. In seinem bürgerlichen Leben ist Schischke ein angesehener, erfolgreicher Bauunternehmer, aber gleichzeitig steht er auch Scheinfirmen vor, die mit dem Import von Drogen und blutjunger asiatischer Mädchen zu tun haben. Pff - und so einer darf im Lions Club Mitglied sein und hat dem Berliner Bürgermeister sowie einem Wirtschaftssenator schon pressewirksam die Hand geschüttelt.
Mein Blick wandert zur Straße vor dem Friedhof. Der Kerl, der während der Beerdigung hinter schwarzgetönten Scheiben im Fond einer Limousine wartet, ist Bert Kubin. Ich erkenne den schwarzen Bentley und seinen Chauffeur am Steuer. Zu Richters Lebzeiten war Kubin einer seiner wichtigsten Handlanger. Soweit ich weiß, sucht man ihn in Norwegen wegen eines illegalen Waffengeschäfts. Wovon die norwegischen Behörden nichts ahnen, ist, dass Kubin auch an vier Morden beteiligt war, die in direktem Zusammenhang mit den Waffendeals stehen. Im Auftrag von Bobby Richter hat er noch weitere Morde begangen, die man bis heute nicht aufklären konnte.
Alles in Allem ist es eine überaus illustre Gesellschaft, die sich hier zusammengefunden hat, um auch sicherzugehen, dass der alte Mistkerl wirklich genug Erde auf seine Kiste bekommt. Einen Moment überlege ich, wie viele Jahre Zuchthaus wohl am Grab des verblichenen Paten stehen, die einige bereits hinter sich – und andere vielleicht noch vor sich haben.
Zum Glück hat der Pfaffe endlich seinen Standardtext beendet.
In ein paar Minuten werden die Luxuslimousinen losfahren, um ihre kriminellen Besitzer zum fröhlichen Gelage zu transportieren. Unbeteiligt dreinblickende Chauffeure – mit Sonnenbrillen und Waffen unter den Sakkos ausgestattet – lenken die Nobelkarossen cool zum Richter-Anwesen. Eigentlich passt der Begriff ‚Schloss’ besser zu jenem altehrwürdigen Gebäude im Park, in dem Richter in zwanzig Jahren mehr Orgien gefeiert hatte, als alle Gott-Kaiser des Römischen Reiches zusammen!
Der Tross setzt sich in Bewegung.
Um nicht allzu sehr aufzufallen, habe ich mir einen schwarzen Cadillac samt Chauffeur gemietet, der mich nun ebenfalls zum Schloss fahren wird. In meinem – auch geliehenen – schwarzen Anzug fühle ich mich zwar saublöd, aber immerhin einigermaßen passabel angezogen.
Die Fahrt dauert etwa eine Viertelstunde. Mein Chauffeur glaubt anscheinend nur fürs Fahren bezahlt zu werden, denn er schweigt, als hätte man ihm die Zunge herausgeschnitten.
Dann sehe ich von Weitem das prachtvolle Portal. Ein Wagen nach dem anderen schiebt sich langsam durch das elektronisch gesteuerte Tor, bis schließlich die letzte Nobelkarosse dahinter verschwindet.
Mit dem durchaus angenehmen Gefühl, selbst ein bisschen reich zu wirken, fordere ich den Fahrer auf, etwa dreißig Meter vom Tor entfernt zu halten. Ich bin nicht wohlhabend. Jedenfalls nicht so reich wie ein paar der Leute, die ich heute beobachtet habe.
Nachdem der Cadillac an der Stelle parkt, die mir richtig erscheint, erschieße ich den Chauffeur. Es hätte ihm auch nicht geholfen, wenn er unterwegs etwas freundlicher und gesprächiger gewesen wäre. Es ist einfach so, dass ich bei dem, was ich nun vorhabe, keine Zeugen dulden kann. Meinen eigenen Wagen hatte ich bereits vor einigen Stunden unweit von hier abgestellt. Es stört mich nicht sonderlich, dass der Cadillac jetzt innen mit Blut bespritzt ist.
Wirklich sehr bedauerlich, dass ich mich nicht unters feiernde Volk mischen kann. Ich bin mir absolut sicher, dass in den unzähligen Zimmern des Schlosses bereits ein paar Dutzend williger Schönheiten und gutgebaute Callboys warten, um die Trauergäste nach Strich und Faden zu trösten. Aber was soll’s? Auch ich werde meinen Spaß haben und kann mir bald mein Vergnügen gönnen!
Ich beobachte durch ein kleines Fernglas, wie sie nacheinander in das Gebäude strömen, der Vorhof leert sich. Als ich hundertprozentig sicher bin, dass sich alle Gäste im Foyer des Schlosses eingefunden haben und die ersten Kisten besten Champagners geleert werden, drücke ich auf den Knopf der kleinen Fernbedienung, die ich aus meiner Manteltasche hervorkrame. In Richtung Schloss blickend zähle ich bis fünf.
Dann verwandelt sich das Richter-Anwesen in ein mächtiges Feuerwerk, hervorgerufen durch gut platzierte Bomben. Aufgrund meiner exzellenten Vorarbeit erinnert bereits nach wenigen Minuten nichts mehr an den Reichtum und die Dekadenz der kriminellen High Society. Sie alle – und leider auch ein paar weniger schuldige Bedienstete – verschwinden unter den rauchenden Trümmern dieses einst prunkvollen Schlosses.
Ohne Eile steige ich aus dem Cadillac, um mich zu meinem eigenen Wagen zu begeben. Als ich darin Platz genommen habe, drücke ich auf das Knöpfchen einer zweiten Fernbedienung, um nun auch den Cadillac samt toten Chauffeur in die Luft zu jagen.
Bummmm ...!
Hervorragend, mein Lieber!, lobe ich mich selbst. Gute Arbeit.
Wäre es ein Einsatz für meinen ehemaligen Auftraggeber gewesen, würde der ausgesprochen zufrieden mit mir sein, wenn er nicht bereits dahin geschieden wäre. So aber muss es ausreichen, dass Richter mich im Voraus bezahlt hatte, weil er mich für einen der Besten meines Fachs hielt.
Als er mich beauftragte, seinen Konkurrenten Tarik Krasniqi, den "Albanischen Wolf", und dessen Sippschaft bei einer Hochzeit in die Luft zu jagen, war er von der Qualität meiner Arbeit überzeugt. Der Alte wusste, dass er sich voll und ganz darauf verlassen konnte, von mir eine professionelle Leistung für sein Geld erwarten zu können.
Was er nicht ahnen konnte, war, dass ich zuvor bereits von seiner jungen Frau, der Schlampe Desirée, königlich dafür bezahlt wurde, ihn, "den alten Drecksack", wie sie ihn nannte, umzubringen. Na und? Schlussendlich habe ich doch jedem gegeben, was er verdient, oder? Auch Tarik Krasniqi war mit seiner Entourage bei Richters Beerdigung erschienen, wenn auch nur, um zu demonstrieren, dass er jetzt mehr Einfluss im Rotlichtviertel hat. Also, Berlins Bürger sollten mir dankbar sein, denn ich habe die Stadt von einigen unangenehmen Subjekten befreit.
Ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf das zerstörte Gemäuer, in dem ich hätte aufwachsen sollen. Vom heutigen Tage an bin ich wohl so etwas wie ein erwachsener Waisenjunge.
Mach’s gut, Daddy! Mach’s gut, Stiefmutter Nr. 3! Ich hab' euch nie gemocht. Ich hab' euch sogar gehasst!
Besonders dich, Bobby, meinen Erzeuger. Dir habe ich niemals verziehen, was du mit Mama gemacht hast. Die du mit anderen jungen Frauen vor fünfundwanzig Jahren aus Osteuropa eingeschleust hast. Sie war wie die anderen auf dein falsches Jobangebot hereingefallen, nichtsahnend, dass du sie drogenabhängig machen und an geile Böcke vermieten würdest.
Mama hat dir so gut gefallen, dass sie bei dir einziehen durfte. Aber dann hast du sie weggeworfen wie eine leere zerknüllte Zigarettenschachtel. Es hat dich einen Scheißdreck gekümmert, dass sie damals mit mir schwanger war. Du hast ihr, wie sie erzählte, ein paar Tausender vor die Füße geworfen, sie eingeschüchtert mit der Drohung, sollte sie dich jemals belästigen oder mehr verlangen als das, würde sie einen tödlichen Unfall erleiden ...
Du hast es nicht für nötig befunden, mich, deinen minderjährigen Bastard, finanziell zu unterstützen. Auch, wenn dich elenden Dreckskerl das nicht die Bohne interessierte, will ich dir sagen: Mama war der einzige Mensch, der mich je geliebt hat. Für mich in ihrem Bauch schaffte sie es nach deinem Rauswurf sogar, clean zu werden. Zumindest für ein paar Jahre ... Doch sie war zu kaputt, krank, und letztendlich wurde sie nicht mal vierzig Jahre alt. Für mich begann nach ihrem Tod eine bedrückende Odysee durch Pflegefamilien. Später, als Jugendlicher, die kriminelle Laufbahn, die uns wieder zusammenbrachte. Und du warst absolut ahnungslos, wen du da in deine Nähe gelassen und mit Aufträgen bedacht hattest ...
Was soll’s! Jetzt wäre ich wohl dein Alleinerbe, Paps, denn deine Geschwister, deine legitimen Nachkommen aus drei Ehen sowie deine frischgebackene Witwe Desirée sind aus dem Weg geschafft. Doch ich spuck' auf dein Blutgeld! Wie erwähnt, besitze ich zumindest einen Funken Ehre. Und habe neben Mutters gutem Aussehen deine Cleverness geerbt. Keinesfalls werde ich mich mit Erbansprüchen in den Fokus der Ermittlungen begeben ...
Meine Aufgabe ist erfüllt. Bis auf eine winzige Kleinigkeit, die ich unbedingt noch erledigen muss.
Mit meinen VW-Golf tuckere ich zurück in Richtung Friedhof. Mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln, als mir eine Armada von Feuerwehrwagen und Polizeiautos entgegenkommt. Ich lächele auch noch, als ich meinen Wagen schließlich auf dem Parkplatz des Friedhofes abstelle und mich auf den Weg mache, dass Grab meines Vaters ein zweites Mal am heutigen Tag zu besuchen.
Niemand beobachtet mich, als ich – immer noch grinsend – meinen Hosenschlitz öffne, um mich auf die pompösen Kränze zu erleichtern.
Ich habe mein Versprechen gehalten. Das ich damals als Zehnjähriger meiner sterbenden Mama gab, ihre dürre Hand fest umklammernd, mit einem Kloß im Hals, zugeschnürter Brust und unter heißen, noch hilflosen Tränen: Das wird er büßen. Ich werde dich rächen!
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Tag der Veröffentlichung: 03.07.2022
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