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Als in Marie zum ersten Mal der Gedanke aufflackerte, die Welt von Heinrich zu befreien, lagen das Wie, Wann und Wo, ja selbst das Ob noch verborgen im Dunkel ihres 60-jährigen weißgelockten Kopfes. 

Eigentlich war sie eine äußerst bodenständige Frau, die in Schwarz und Weiß dachte, klare Vorstellungen von Gut und Böse, von richtigem und falschem Verhalten hatte.

An einem Entschluss, einer einmal gefassten Meinung, hielt sie in der Regel fest. Und so war es bisher auch im Hinblick auf ihr Eheversprechen gewesen, das in guten wie in schlechten Tagen galt, was bedeutete, dass sie ihren kranken Mann zu pflegen hatte. Bis dass der Tod sie scheidet.

In den ersten Jahren nach Heinrichs Unfall, der damals nach einem Kneipenbesuch betrunken gegen ein Baum gerast war, hatte sie ihn noch mit Hingabe umsorgt.

Doch seit einiger Zeit war das Zusammenleben mit ihm zunehmend belastender, ja, unerträglich geworden. Hin und wieder ertappte sie sich dabei, in kurzen Tagträumen seinen Tod herbeizuwünschen. Sich sogar auszumalen, sein Ableben früher eintreten zu lassen ...

Dann und wann holte sie diese Idee hervor wie ein Spielzeug, drehte und wendete sie, betrachtete sie genießerisch, um sie wieder zurückzulegen.

Allein dieser köstliche Gedanke berauschte sie so sehr, dass sie Heinrichs Zügellosigkeit, sein trunkenes Geschwätz und die Gemeinheiten stoisch hinnahm, ja, auch seine weinerlichen Appelle an ihre Loyalität einem armen, gehbehinderten Krüppel gegenüber mit Gelassenheit, mit einem überlegenen Lächeln ertragen konnte.  

Es war aber gerade dieses Lächeln, das ihn noch übellauniger werden ließ. Ihn weit mehr reizte als ihre früher vorgebrachten Widerworte.

Seine Angriffe wurden ausfallender. Inzwischen beließ er es nicht mehr nur bei Beschimpfungen. Letztens, als sie ihm beim Ankleiden half, hatte er ihren Arm gepackt und ihn so heftig gequetscht, dass sie tagelang einen blauen Fleck verbergen musste. Und das war nicht das einzige Mal geblieben, dass er  ihr auch körperlich Schmerz zufügte, Krüppel hin oder her, seine Arme und Hände waren nach wie vor kräftig.

Ja, er saß da oben wie ein zänkischer Buddha in seinem Bett. Er stank, weil er sich nur selten von ihr waschen ließ und Kette rauchte.

Von dem Mann, den sie einst geliebt und geheiratet hatte, war nichts mehr übrig. Wenn sie ihn so betrachtete, mit dem abstehenden weißen Haar, von Bierflaschen umringt, die sie ihm mit dem Essen hochbringen musste, auf den Fernseher glotzend, den er stets auf volle Laustärke drehte, die dämlichen Werbeliedchen mitträllernd, da hätte sie ihm zu gern eine der Flaschen über den Kopf gezogen.

Stattdessen flüchtete sie, verfolgt von seinen Beschimpfungen und Flüchen, hinunter in ihr Reich.  

Als er jedoch begann, sich auch auf Jamal, den sanften, hübschen Jamal - diese schwarze Brut - einzuschießen, ihn obendrein einen elenden Schmarotzer nannte, den er am liebsten erwürgen oder vor ein fahrendes Auto stoßen würde, wenn er könnte, war das Ob keine Frage mehr.

Jetzt wurden das Wann und vor allem das Wie wichtig und beschäftigten Marie Tag und Nacht.

Sie empfand tiefe Zuneigung für Jamal, war froh, dass er bei ihnen eingezogen war und dass er Heinrichs böses Geschwätz nicht verstand. Doch sie machte sich Sorgen, dass ihr Mann ihm etwas antun könnte. Ihn nicht nur beschimpfen, sondern ihn mit dem gläsernen Aschenbecher bewerfen, mit der Krücke schlagen oder anders schwer verletzen würde.

Nicht auszudenken, wenn Heinrich Jamal Gewalt antat, dem Freundlichen, der stets so arglos auf das Rufen des Alten reagierte, und sich, wenn dieser mal nicht wütend polterte, sogar zu ihm aufs Bett setzte und geduldig den Meckereien lauschte. Der Name Jamal bedeutete "schön" auf arabisch, was absolut zu ihm passte. Denn er war äußerlich wie innerlich schön und hatte Heinrichs mieses Verhalten nicht verdient!

Nein, es wurde Zeit, die Welt von dem Tyrannen zu befreien.

'Es müsste ein Unfall sein', überlegte Marie, denn sie hatte keineswegs die Absicht, ihr hübsches Häuschen, den gepflegten Garten sowie die leckeren Obst- und Sahnetörtchen am Nachmittag gegen graue Anstaltskleidung und trockenen Fertigkuchen einzutauschen, ihre neu gewonnene Freiheit gleich wieder zu verlieren.  

Aber - Unfälle passieren nicht einfach so und schon gar nicht, wenn es sich bei dem potenziellen Opfer um einen stark gehbehinderten Mann handelte, der sein Zimmer im Obergeschoss seit Jahren nicht mehr verlassen hatte.  

Er selbst zeigte ihr schließlich in all seiner Bosheit den einzig richtigen Weg, als er sich aus dem Bett schleppte, um über das Geländer nach unten in den Flur zu spionieren. Er dachte, sie wüsste nicht, dass er sie belauerte. Wenn Marie Besuch hatte, was selten genug vorkam, hievte er sich aus dem Bett, stakste mit seinen Krücken an den Treppenabsatz und spähte angestrengt nach unten. Als er dabei wieder einmal ins Straucheln kam, keifte er zu ihr hinunter. 

„Wenn wir statt dieser verdammten Hühnerleiter eine vernünftige Treppe hätten, könnte ich ab und zu mal runter, auch in den Garten." 

Mit hämischer Miene schaute er Marie an, die genau wusste, dass er es vor allem darauf anlegte, sie zu verletzen. 

„Natürlich nur, wenn du mir behilflich bist, Mariechen, aber wenn ich dir dafür dann täglich Gesellschaft leisten kann ..."   

Als sie ihn starr anblickte, kicherte er, glaubte er doch, die Aussicht auf seine dauernde Anwesenheit hätte sie entsetzt. Weit gefehlt!  

'Die Treppe', dachte sie. 'Natürlich - die Treppe, dieses alte, knarrende, morsche Fossil, das mir selbst oft genug ein Bein gestellt hat.'  

Das war vor zwei Wochen gewesen. Allerdings musste es jetzt bald geschehen, denn Heinrich erwärmte sich mehr und mehr für den Gedanken, nicht mehr eingesperrt zu sein zwischen Bett und Badezimmer, wie er es nannte. Inzwischen faselte er täglich von Umbau und einem Treppenlifter, hatte mit Handwerkern telefoniert. Im Laufe des nächsten Monats sollten schon die Arbeiten beginnen. Also blieb ihr nur noch wenig Zeit.   

Nun entwickelte Marie eine rege Geschäftigkeit. Wenn Heinrich abends in seinen rauschähnlichen Schlaf gesunken war und sein Schnarchen jedes Geräusch übertönte, saß sie noch lange im dunklen Wohnzimmer mit Jamal zusammen, wisperte und tuschelte. Regelmäßig schlich sie mit ihm nach oben auf das winzige Podest vor Heinrichs Schlafzimmertür, direkt am Kopf der Treppe.

So manche Nacht ging das. Tagsüber harrte Marie - müde, aber zufrieden - pflichtschuldigst am Bett des Gatten aus und lauschte seinen Tiraden gegen Gott und die Welt.

Sogar Jamal gesellte sich manchmal dazu, wenn er auch lieber unten in der Küche oder draußen im Garten war. Er wurde von Heinrich zwar nach wie vor beschimpft, allmählich aber als gottbegnadeter Zuhörer geduldet. Doch das konnte sich bei dem launischen Gatten schnell wieder ändern.

Zweimal die Woche kamen die Nachbarinnen Hilde und Irmi zu Besuch, um Heinrich als Zielscheibe zu dienen, was sie ihre Christenpflicht nannten. In Wahrheit aber schauten sie regelmäßig vorbei, um Maries leckere Törtchen zu verspeisen und nach der Visite über sie und ihren unausstehlichen Mann herzuziehen.

Dennoch forcierte Marie diese Besuche nun geradezu, sollten ihr doch diese beiden Frauen helfen, unbeschadet aus der Säuberungsaktion hervorzugehen.  

An dem bewussten Tag befand sie sich in Hochstimmung. Jamal saß bei ihr in der Küche und sah ihr dabei zu, wie sie den Tisch deckte und das Gebäck anrichtete. Marie erwartete die beiden "guten Seelen" zum Kaffee und als es endlich klingelte, öffnete sie mit strahlendem Lächeln die Tür.

„Hallo, wie schön, dass ihr da sein. Kommt doch rein."

Und lauter, als es sonst ihre Art war, fügte sie hinzu: „Es gibt allerhand zu erzählen." 

Sie führte Hilde und Irmi in das helle, behagliche Wohnzimmer und drehte sich zu Jamal um.  

„Ach, lauf du doch schon mal hoch zu Heinrich, ja? Er ist sonst ganz allein da oben."  

Sanft schob sie ihn hinaus, zur Treppe, damit er ihre Bitte auch verstand, beobachtete, wie er die Stufen erklomm, dann wandte sie sich wieder an die Nachbarinnen.  

„Geht ihr nachher auch noch kurz zu ihm? Er freut sich immer so auf euren Besuch."  

„Das versteht er aber gut zu verbergen", murmelte Irmi etwas verkniffen.

„Aber natürlich, wenn du meinst ...", polterte Hilde, die Ältere, und nahm sofort von dem bequemsten Sessel Besitz, inspizierte mit gierigen Augen die Sahnetörtchen. 

„Übrigens, ist der Schwarze jetzt ganz hier eingezogen? Der scharwenzelt in letzter Zeit nur noch um dich herum; er muss dich ja richtig ins Herz geschlossen haben ...", zwitscherte Irmi. Was die Ältere barsch war, war die Jüngere süßlich-fies.  

'Falsche Biester', dachte Marie, brachte aber ein freundliches „Ja, Jamal hat hier eine dauerhafte Bleibe gefunden. Ich hab' ihn auch sehr gern" zustande, wobei sie auf das tapp tapp der Krücken horchte, das im selben Moment oben am Treppenabsatz erklang. Heinrich war also wieder auf seinem Lauschposten. Gut so! 

 „Und, was sagt dein Mann dazu?", wollte Hilde wissen, während sie sich ein Törtchen nahm.

„Nun, Heinrich ist das nicht ganz recht, er kann manchmal schon garstig zu ihm sein", erwiderte Marie mit einem Seufzen.

„Nicht nur zu ihm - nehme ich an?", bellte es mit vollem Mund aus dem gemütlichen Sessel. Dieser Bemerkung folgte vielsagendes Schweigen, es wurden verständnisvolle Blicke über den Kuchentellern getauscht. Genau in dieses Schweigen hinein hörten sie den Alten oben kreischen und poltern. 

Dann herrschte erneut Stille, der dumpfe Geräusche folgten, als ob ein schwerer Sack die Treppe hinab rumpelte.  

Die drei Frauen stürzten in den Flur und wären fast über Heinrichs Körper gestolpert, der verkrümmt, mit gebrochenen Augen, am Fuß der Treppe lag, die Krücken neben sich. Marie zitterten plötzlich die Knie, sodass sie wie von selbst neben ihm niedersank und seinen Puls prüfte, es war keiner mehr vorhanden. Sie hob den Blick zu den lauernden Alten und schüttelte leicht den Kopf.

„Mein Gott, wie oft habe ich ihn gewarnt, vorsichtig zu sein, wenn er mit den Krücken da oben herumspaziert."  

„Komm schon, Marie. Kopf hoch; er hat es nun hinter sich, ist in einer besseren Welt", dröhnte Hilde, Irmi schnüffelte.  

„Nun musst du an dich denken! Wo ist überhaupt Jamal?"  

„Ach, der ist bestimmt schon vorher rausgelaufen; Heinrich wird ihn vergrault haben."  

Marie sah sich um, Jamal war - zu ihrer Erleichterung - nirgends zu sehen.

„Können wir dich allein lassen?", fragte Hilde. „Wir informieren Dr. Hofmann, und falls er nicht da ist, sagen wir seiner Frau Bescheid. Wegen dem Totenschein und so. Dann brauchst du nicht zu telefonieren. Wir erledigen das - gerne!"  

Die beiden hatten es sichtlich eilig, wegzukommen, um die Neuigkeit wie einen Schnupfen zu verbreiten. Der frischgebackenen Witwe war es nur recht, konnte sie doch dann nach Jamal sehen.  

„Geht nur. Ich werde mich einen Moment hinlegen, kann mich kaum auf den Beinen halten."  

Tatsächlich zitterte Marie noch immer, als sie die Klatschbasen hinaus begleitete. Dann schleppte sie sich in ihr Schlafzimmer.

„Endlich allein", flüsterte sie und ließ sich auf ihr Bett sinken. Da bewegte sich die Tür, schwang auf und Jamal stand vor ihr - der schöne Dunkle, der bei ihr ein Zuhause gefunden hatte.

„Komm nur her, mein Liebling", lockte sie ihn, klopfte auf die Matratze und mit elegantem Schwung sprang der nachtschwarze, riesige Kater neben sie und rieb sein Köpfchen an ihrer Schulter.  

„Ganz toll hast du das gemacht, mein Süßer, ganz toll!"  

Er antwortete mit sonorem Schnurren.  

„Aber ich hab auch schön mit dir geprobt, nicht wahr?"  

Sie legte sich zurück, kraulte den Kater und dachte an die Nächte, in denen sie mit ihm auf dem Podest "geübt" hatte. Hier ein Stoß mit Heinrichs Stock, auf der anderen Seite das Ausweichen des Katers. Dann ein Nachsetzen und der spielerische Angriff Jamals, der Heinrich schließlich zu Fall gebracht hatte, als er vorhin, wie so oft, oben auf dem Treppenabsatz horchte. Des Katers Aufforderung zum Spiel hatte er in seiner Bosheit mit Krückenschlägen beantwortet und dabei das Gleichgewicht verloren.  

„Du bist ein ganz schön böser Junge, Jamal", murmelte Marie zärtlich. „Aber ohne deine Hilfe wären wir jetzt nicht frei. Danke, mein Liebling."  Sie schloss lächelnd die Augen.

Jamal rollte sich neben ihr zusammen und schnurrte.   

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Tag der Veröffentlichung: 20.06.2022

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